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Wie­viel Wett­bewerbs­fähig­keit ver­trägt der „Grüne Deal“ der EU

Wie steht es um die Zukunft des „Grünen Deals“, des Vorzeigeprojekts der letzten EU-Kommission? Die Aufgaben, die Kommissionspräsidentin von der Leyen den designierten Kommissaren und Kommissarinnen zuweist, versprechen nichts Gutes. 

Von Christoph Streissler, AK Wien (A&W-Blog)

Ursula von der Leyen wurde vom Europäischen Parlament am 18. Juli als Präsidentin der Europäischen Kommission wiedergewählt, einem Parlament, das durch die Wahlen Anfang Juni deutlich nach rechts gerückt ist. Dies spiegelt sich in ihrem Programm wider, denn sie musste auch rechts ihrer eigenen Partei um Unterstützung werben.

Die Aufgaben der neuen Kommissar:innen

Nun geht es darum, wie die Aufgaben in der nächsten Kommission verteilt werden. Die Mitgliedstaaten benennen zwar je eine Kandidatin bzw. einen Kandidaten für das Amt als Kommissar:in, doch es ist an der Präsidentin zu entscheiden, wem welches Portfolio zugeteilt wird und was dieses genau umfasst. Dies präzisierte von der Leyen in Briefen an die designierten Kommissar:innen („Mandatsschreiben“, engl. „mission letters“, hier). Anfang November folgen die Anhörungen der Kandidat:innen durch die Abgeordneten zum Europäischen Parlament. Die Parlamentarier:innen können kritische Fragen stellen und auch einzelne Kandidat:innen ablehnen – ein Moment, in dem das Parlament eine tatsächliche Befugnis gegenüber der Kommission hat.

Dieser Beitrag wirft einen Blick auf die Zukunft des „Grünen Deals“, des Vorzeigeprojekts der letzten Kommission. 2021 brachte diese das europäische Klimagesetz auf den Weg, mit dem sich die EU dem Ziel der Klimaneutralität verschrieb. Das bedeutet, dass ab 2050 in der EU netto keine Treibhausgase mehr ausgestoßen werden dürfen. Die Umsetzung dieses Ziels ist zentraler Gegenstand des „Grünen Deals“. Viele Rechtsakte wurden in den letzten drei Jahren beschlossen, die dessen Umsetzung dienen (vgl. hier und hier).

Wie weiter mit dem „Grünen Deal“?

Von der Leyen stützt sich diesmal in ihrem Programm auf vier von der Kommission beauftragte Berichte, die rund um die EU-Wahl veröffentlicht wurden. Besonderen Einfluss für die Zukunft des „Grünen Deals“ hat der Bericht von Mario Draghi zur „Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit“. Eine Analyse des Berichts aus Sicht der Arbeitnehmer:innen haben Michael Ertl und Frank Ey kürzlich hier präsentiert. Sie machen klar, dass Draghi mit seinen Rezepten einer bedingungslosen Wachstumsorientierung folgt, die nach seiner Konzeption die Voraussetzung für eine Berücksichtigung sozialer und ökologischer Anforderungen ist.

Mit dem Draghi-Bericht als Begründung wird nun versucht, das Ziel der Klimaneutralität noch stärker mit dem Ziel von Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit zu verbinden. Doch der Konflikt zwischen diesen beiden Zielen ist mittlerweile unübersehbar. So hat eine umfassende Studie von Wiedenhofer, Haberl und anderen (Teil 1Teil 2) gezeigt, dass die viel beschworene Entkoppelung von Treibhausgasemissionen und Wirtschaftswachstum nicht systematisch gelingt. Die beobachteten Entkopplungsraten reichen nicht aus, um die nötigen, raschen Verringerungen der Treibhausgasemissionen zu erreichen (auch hier). Damit ist zu erwarten, dass ein gesteigertes Wirtschaftswachstum die Reduktion der Treibhausgase nicht nur in den Hintergrund drängt, sondern sogar unmöglich macht.

Mit Wirtschaftswachstum und Wettbewerb Klimaziele erreichen?

Das Zauberwort, um diese Ziele scheinbar dennoch unter einen Hut zu bringen, ist eine „clean, just and competitive transition“, die von der Leyen in ihrem Programm verspricht. Diese Anhäufung von Schlagwörtern lässt die Verwandtschaft mit einer Konzeption von Nachhaltigkeit durchscheinen, die beansprucht, die soziale, die ökologische und die ökonomische Dimension des Wirtschaftens gleichrangig zu vereinen. Doch wurde diese Vorstellung als schlussendlich politisch inhaltsleer kritisiert (auch hier).

Die Ausrichtung der Klimapolitik an der Wettbewerbsfähigkeit ist keine radikale Abkehr von der früheren Ausrichtung der Kommission. Schon 2019 beschrieb von der Leyen den „Grünen Deal“ als Programm, das Klimaneutralität, Beschäftigung und Wirtschaftswachstum vereint. Doch es hat sich etwas im Ton verändert.

2019 warb von der Leyen mit der Vision, dass die EU der erste klimaneutrale Kontinent der Welt werden solle. Damit entwarf sie ein Bild, das die EU zu einer Anführerin auf einem Weg in eine bessere Zukunft machen sollte. Demgegenüber ist die Perspektive 2024 deutlich defensiver: Die Wirtschaft der EU sei aus verschiedenen Gründen weniger wettbewerbsfähig als andere Weltregionen und müsse diesen Rückstand aufholen. Die Produktivität in der EU steige langsamer als in anderen Wirtschaftsräumen, Innovation und Digitalisierung hinkten hinten nach und die geopolitische Lage erzeuge immer mehr Unsicherheiten, so der Draghi-Bericht.

In dieser Situation muss befürchtet werden, dass das Ziel einer ambitionierten Klimapolitik dem Wirtschaftswachstum geopfert wird.

Widersprüche zwischen Wettbewerbsorientierung und Klimaschutz

In den Briefen an die designierten Kommissar:innen („Mandatsschreiben“, engl. „mission letters“, hier), die in erster Linie für die angesprochenen Themen zuständig sind, finden sich folglich die Widersprüche, die daraus entstehen, dass das Ziel der Klimaneutralität mit dem von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit zusammengespannt wird. In diesem Beitrag wird aus jedem der Briefe ein Element herausgegriffen, das diesen Widerspruch illustriert.

Die spanische Sozialdemokratin Teresa Ribera Rodríguez soll als Vizepräsidentin die Umsetzung der schon genannten „clean, just and competitive transition“ koordinieren. Bereits in dieser Überschrift liegt, wie schon oben beschrieben, der Hauptwiderspruch ihres Mandats. Ihr wichtigstes Tätigkeitsfeld soll die Neuorganisation des EU-Beihilfenrechts sein. Angesichts des zuletzt ausgebrochenen, schädlichen Beihilfenwettbewerbs zwischen den Mitgliedstaaten ist dies eine wichtige Aufgabe, aber die Entwicklung muss genau beobachtet werden. Denn staatliche Beihilfen sollen nicht länger oder in höherem Ausmaß vergeben werden als nötig und müssen vor allem auch einen maximalen gesellschaftlichen Nutzen entfalten.

Stephane Séjourné, Parteigenosse von Frankreichs Präsident Macron, soll ein weiterer Vizepräsident der kommenden Kommission werden und für Wohlstand und Industriestrategie zuständig sein. Er soll in den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit einen „Clean Industrial Deal“ entwickeln, das Nachfolgeprojekt des „Grünen Deals“. Teil dieses Vorschlags soll ein Gesetzesvorschlag zur Beschleunigung der Dekarbonisierung der Industrie sein („Industrial Decarbonisation Accelerator Act“). Dieser soll die Planung, Ausschreibung und Genehmigung von Projekten zur Dekarbonisierung erleichtern und damit beschleunigen, vor allem in der energieintensiven Industrie. Das Problem mit einem derartigen Vorhaben besteht darin, dass die bürokratischen Hürden nur einen geringen Anteil daran haben, dass solche Projekte viel Zeit benötigen. Eine wirksame Beschleunigung erfordert vor allem klare, koordinierte Planung, die die involvierten Interessen berücksichtigt. Wenn der Rechtsakt Erfolg haben soll, wird er also sehr klare industriepolitische Vorgaben machen müssen.

Der Niederländer Wopke Hoekstra soll für Klimaschutz zuständig sein. Er betreute dieses Aufgabengebiet bereits in der letzten Kommission, nachdem sein Landsmann Frans Timmermans im August 2023 von der Kommission in die nationale Politik gewechselt war. Er wird dafür zuständig sein, das Reduktionsziel für Treibhausgase bis 2040 – eine Verringerung um 90 % – rechtlich verbindlich zu machen. In seinem Mandatsschreiben wird mehrfach das Prinzip der Technologieneutralität erwähnt. Nach diesem Prinzip soll der Staat zwar Ziele vorgeben, aber offen lassen, mit welchen Mitteln diese erreicht werden. Doch in der gegenwärtigen Situation führt ein derartiger Ansatz nicht rasch genug zum Ziel: Die Industrie in der EU muss in fast allen Sektoren bis 2040 von fossilen Brennstoffen auf erneuerbare Energieträger umstellen. Eine derart weitgehende und gleichzeitig rasche Veränderung des Wirtschaftssystems lässt sich nur erreichen, wenn klare Vorgaben das Vorgehen koordinieren. Ohne diese Vorgaben werden die Klimaziele in weiter Ferne bleiben.

Für Umweltpolitik soll die Schwedin Jessika Roswall verantwortlich sein. Sie soll unter anderem Teile des „Grünen Deals“ umsetzen, die nicht unmittelbar klimarelevant sind. Ein wiederkehrendes Thema in den verschiedenen Aufgaben, die ihr übertragen werden, ist die Finanzialisierung und die Verwendung von „Anreizen“ (sprich: Steuererleichterungen oder Subventionen). So soll sie „private Finanzmittel für den Naturschutz mobilisieren“. Das bedeutet nichts Gutes, denn private Investoren erwarten Gewinne, und Gewinne mit Naturschutz lassen sich nur machen, wenn Natur vermarktet wird. Doch alle Erfahrungen zeigen, dass dies eine Strategie ist, die vor allem die Privatisierung der Natur vorantreibt, ohne dem Naturschutz zu helfen (auch hier). Ein Naturschutz, der stattdessen den Zugang zur Natur für alle offenhält und sie nicht der Vermarktungslogik aussetzt, muss auch in Zukunft auf Regulierung (Ge- und Verbote) setzen.

Der Energiebereich soll Aufgabe des Dänen Dan Jørgensen werden. Auch in seinem Mandatsschreiben finden sich einige der schon genannten neoliberalen Konzepte – vom Schlagwort der Beschleunigung von Genehmigungsverfahren über die Technologieneutralität bis zur Mobilisierung des privaten Kapitals. Ein Lichtblick ist der Auftrag, die Energiesteuern zu vereinheitlichen, ein Vorhaben, an dem freilich schon mehrere frühere Kommissionen gescheitert sind, weil die Mitgliedstaaten auf ihre Steuerhoheit bestehen. Was hier kritisch herausgegriffen werden kann, ist die Zuständigkeit für die Abscheidung, Speicherung und Nutzung von Kohlendioxid (carbon capture and utilisation/storage – CCUS). Es ist mittlerweile weitgehend Konsens, dass Klimaneutralität nur erreicht werden kann, wenn unvermeidbare Treibhausgasemissionen abgeschieden und geologisch gespeichert werden. Die Idee der Nutzung von Kohlendioxid ist jedoch völlig verfehlt, weil sie enorm viel Energie benötigt, ohne die Emissionen dauerhaft zu vermeiden. Das Mandatsschreiben verschleiert diesen essentiellen Unterschied.

Der Luxemburger Christophe Hansen soll für die Landwirtschaft zuständig sein. Ohne auf seine vielfältigen Aufgaben bei der Förderung der Landwirtschaft einzugehen, sei hier nur angemerkt, dass das Schreiben kein Wort zu Renaturierung oder zur Verringerung des Pestizideinsatzes enthält, die bisher wesentliche Teile des „Grünen Deals“ waren. Landwirtschaft und „Grüner Deal“ scheinen damit in getrennten Sphären zu existieren. Damit wird weder das Potenzial der Landwirtschaft, hier zu Lösungen beizutragen, angesprochen, noch die Tatsache, dass die Landwirtschaft auch Teil des Problems ist.

Fazit

Der Gesamteindruck der Mandatsschreiben bestätigt somit die Gewichtsverlagerung der kommenden Kommission auf das rechte Bein. Statt klarer Planung und einer auf Ordnungsrecht setzenden Politik gibt es neoliberale Rezepte, die weit hinter die Politikkonzeption der letzten Kommission zurückfallen. Zwei Tage nach Vorstellung des AK Wohlstandsberichts, der den Vorrang von Wohlstand vor Wachstum als Leitlinie staatlichen Handelns betont, ist es besonders bedauerlich, wie zentral Wachstum für die neue Kommission als Beurteilungsmaßstab der Politik ist. Es steht zu befürchten, dass das Projekt eines sozialen und ökologischen Umbaus der EU dem Ziel der Wettbewerbsfähigkeit von Wirtschaftsunternehmen untergeordnet wird und damit wieder in weite Ferne rückt.


Dieser Beitrag wurde am 18.10.2024 auf dem Blog Arbeit & Wirtschaft unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den NutzerInnen eine freie Bearbeitung, Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen.

Titelbild: NakNakNak / Pixabay

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