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Die Nato: Verteidigungsbündnis und Wertegemeinschaft – oder vielmehr Kriegstreiber?

Als ehemaliges Fraktionsmitglied der Partei Die Linke ist Sevim Dagdelen seit 2005 durchgehend Mitglied des deutschen Bundestags. Nach Auflösung der Linksfraktion trat sie im Februar 2024 der Gruppe Bündnis Sahra Wagenknecht bei, wo sie als außenpolitische Sprecherin tätig ist. Zudem hat sie das Amt der Obfrau im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestags inne. Dagdelens Positionen gelten somit als gesichert links – im ursprünglichsten Sinne. Nicht weiter verwunderlich, dass die Politikerin sich gleichsam als Anti-Militaristin erweist. In diesem Zusammenhang übt sie auch scharfe Kritik an vergangenem sowie gegenwärtigem Handeln der Nato, welches sie in ihrem neuerschienenen Manifest „Die NATO. Eine Abrechnung mit dem Wertebündnis“ allumfassend in Frage stellt. – Sonntag ist Büchertag

Ein kommentarischer Literaturhinweis von Philipp Ott / Stichpunkt Magazin

 

Zerstörtes Haus im Gazastreifen nach israelischen Luftangriffen im August 2022

Wir schreiben das Jahr 2024. Fast scheint es, als sei der Ausnahmezustand zur Regelmäßigkeit geworden. Der Ukraine-Krieg geht, seit der russischen Invasion und ihren daraus resultierenden Kampfhandlungen, mittlerweile ins dritte Jahr. Und nach einem Anschlag der palästinensischen Hamas vollzieht Israel unter den Augen der Weltöffentlichkeit einen lupenreinen Völkermord im Gazastreifen. Medial wird im Westen allumfassend kolportiert, die Unterstützung der betroffenen Länder – mittels schwerer Waffen der NATO und in naher Zukunft sehr wahrscheinlich auch durch deren Bodentruppen – sei unabdingbar.

Das Militärbündnis NATO müsse Stärke zeigen, denn Frieden und Sicherheit ihrer Bündnispartner würden auch in nichtzugehörigen Drittstaaten kriegerisch verteidigt. Wirklich? Und, falls ja, wie ist Frieden tatsächlich zu sichern – etwa mit dem Einsatz schwerer Waffen, oder doch vielmehr durch unablässige Verhandlungen?

Foto: Taurus Marschflugkörper, ILA-boy – Eigenes Werk

Besteht daran wirklich Interesse? Sind direkte und indirekte Beteiligung der Nato an den Kampfhandlungen wirklich zwingend notwendig? Und ist derartige Beteiligung überhaupt in den Grundsätzen der NATO verankert? Woher kommt die NATO – und wo steuert sie hin? Ist das westliche Militärbündnis in seiner gegenwärtigen Form überhaupt noch zeitgemäß? Oder vielmehr zum geostrategischen Spielball der USA verkommen, der mitunter menschenverachtende Tendenzen aufweist?

In ihrem neu erschienenen Buch begibt sich Sevim Dagdelen auf die Suche nach Antworten. Und schon das Vorwort wirft den Leser auf das zurück, was sich intensiv um das nordatlantische Vertragsbündnis rankt: „Die drei großen Mythen der NATO.”

Mythos Verteidigung und Völkerrecht

 

 

 

Dem steht bereits die Vorgeschichte der NATO im Wege. Denn schon 1823  hätten die Amerikaner laut Dagdelen mit der Monroe-Doktrin die gesamte westliche Hemisphäre zu ihrer Einflusszone erklärt. Angesichts des Kalten Krieges sei es dann 1947 zur Erweiterung dieser Doktrin gekommen: Washington leitete die Gründung der Organisation amerikanischer Staaten (OAS) in die Wege. Gedacht war diese zur Sicherung der US-Dominanz auf dem gesamt-amerikanischen Kontinent.

Und in Dagdelens Augen galt die OAS somit als Blaupause für die NATO, denn gleich dem OAS-Vertrag „sind die Unterzeichnerstaaten des Nordatlantikpakts macht- und militärpolitisch völlig ungleichgewichtig.“ Um Beistand durch andere Bündnispartner im Verteidigungsfall könne es den USA bei Gründung der NATO daher offenkundig nicht gegangen sein. Vielmehr strebe Washington danach, eine „Pax Americana“ zu schaffen, „ein exklusives Einflussgebiet, das den USA als unbestrittener Führungsmacht Kontrolle über die Außen- und Sicherheitspolitik der anderen Bündnispartner verschafft.“

Die Grundlage der NATO sei demnach ein Tausch. Wesentlichster Vorteil dabei soll die Sicherheitsgarantie durch die NATO sein – beziehungsweise durch ihren größten Bündnispartner USA. Der Haken dabei: „Die übrigen NATO-Mitglieder verzichten auf Teile ihrer demokratischen Souveränität“!

Falls bei einzelnen Bündnis-Partnern dennoch Zweifel an der Mitgliedschaft aufgekommen sein sollten, verfügt die NATO offenbar über Mittel, ihre Mitglieder wieder auf Spur zu bringen. Hier stellt Dagdelen kühne Vorgehensweisen mittels NATO-eigenen Putschgruppen – bereits zu Zeiten des Kalten Kriegs – in den Raum: „Sie verhinderten auch mit terroristischen Mitteln aktiv einen Machtgewinn von politischen Kräften, die die NATO-Mitgliedschaft infrage stellten.“ Und somit geschaffene Abhängigkeit sowie Bündnisverpflichtungen führten in Folge zu einer ganzen Reihe völkerrechtswidriger Kriege, angeführt durch den Weltpolizisten NATO:

Beschädigtes Verteidigungsministerium in Belgrad, zerbombt bei NATO-Kampfeinsatz 1999
  • 1999 – Überfall auf Jugoslawien durch die Bundesrepublik Deutschland | Die BSW-Politikerin bezeichnet diesen Schlag als NATO-Ur-Sünde – und zitiert Bundeskanzler Gerhard Schröder: „Da haben wir unsere Flugzeuge (…) nach Serbien geschickt, und die haben zusammen mit der NATO einen souveränen Staat gebombt – ohne dass es einen Sicherheitsratsbeschluss gegeben hätte.“ Die Verteidigungsrolle der NATO sei ab diesem Zeitpunkt mehr und mehr in den Hintergrund gerückt. Vielmehr trete man seither als weltweite Ordnungsmacht auf.
030323-N-6946M-002 Raketenstart von US-Kriegsschiff im Mittelmeer (Mar. 23, 2003) – . U.S. Navy photo by Intelligence Specialist 1st Kenneth Moll. (RELEASED)
  • 2003 Überfall auf den Irak – durch die USA und Großbritannien| „Washington und seine Helfershelfer verstoßen damit eklatant gegen das Völkerrecht und die beteiligten NATO‑Staaten gegen die grundlegenden Maßgaben der eigenen Charta.“ Zwar fand der Überfall durch die USA und Großbritannien statt, allerdings verweigerten andere NATO-Mitglieder nicht die Nutzung deren Infrastruktur. Somit war eine direkte Kriegsbeteiligung der NATO gewährleistet.
Soldaten der U.S. Army im Gefecht mit Kämpfern der Taliban in der Provinz Parwan, 2007
  • 2001-2021 Anti-Terrorkrieg der USA in Afghanistan| „In Afghanistan führt die NATO 20 Jahre lang einen desaströsen Krieg, der über 200.000 Zivilisten das Leben kostet,“ fasst Dagdelen die Geschehnisse infolge von 9/11 zusammen. Die USA machen Jagd auf die Taliban und „der internationalen Öffentlichkeit soll weisgemacht werden, Freiheit und Sicherheit des Westens würden am Hindukusch verteidigt“. Grund genug für Deutschland und zahlreiche andere NATO-Staaten, dem sinnlosen Blutvergießen aktiv beizupflichten. Doch 2021 erweist sich dieses Unterfangen als endgültig gescheitert – die USA machen sich Hals über Kopf aus dem Staub und lassen ihre Bündnis-Partner sowie die dortige Bevölkerung im Stich. Infolge übernehmen die Taliban in Afghanistan wieder das Ruder. Hier gibt Dagdelen Hinweise auf die potentielle latente Motivation für 20 Jahre sinnlosen Blutvergießens: „Der Versuch der USA, militärisch einen Fuß in Zentralasien zu haben, um China und Russland geopolitisch herausfordern zu können, ist gescheitert.“
B-2-Bomber landet nach einem Angriff gegen Libyen, 20. März 2011
  • Bürgerkrieg in Libyen| Neben Belgrad, Bagdad und Kabul sieht Dagdelen die völkerrechtswidrige Blutspur der NATO auch in Libyen fortgesetzt: „Tausende werden getötet. Hunderttausende müssen fliehen. Eine Delegation der Afrikanischen Union, die im Konflikt vermitteln will, wird sogar an der Landung gehindert. Zurück bleibt ein zerstörtes Land, in dem in Teilen islamistische Milizen herrschen.“

Mit diesen und vielen weiteren Beispielen macht Sevim Dagdeln deutlich, dass es bezüglich der NATO mit deren vermeintlich edlen Zielen der Verteidigung sowie Wahrung des Völkerrechts nicht weit her sein kann. Bei zahlreichen Kampfhandlungen sieht sie die NATO als geostrategisch subkutan agierenden Aggressor, wobei sie den Grundsatz Pars pro Toto anführt: Auch wenn die jeweiligen Kriege durch einen konkreten NATO-Mitgliedstaat – zumeist die USA – initiiert beziehungsweise ausgeführt worden seien, zeichneten doch alle Bündnis-Mitglieder verantwortlich.

Mythos Demokratie und Rechtstaatlichkeit

Porträtaufnahme des spanischen Diktators Franco in der Uniform des Generalissimus, 1969 in Argentinien

Demokratie, Freiheit des Rechts und Herrschaft der Person. Das sind Grundsätze, welche die Nato verteidigen möchte – und die sie gleichzeitig als Anspruch an ihre Mitglieder stellt. Dagdelen erachtet das bereits seit Gründung der der NATO 1949 als „glatte Lüge: Nicht nur in Lateinamerika paktieren die USA von Anfang an mit Diktaturen und faschistischen Regimen, auch bei den NATO-Verbündeten in Europa sind nicht nur Demokratien mit an Bord“. Entscheidend sei laut Dagdelen allein deren Bereitschaft, sich in eine Front gegen die Sowjetunion einzureihen.

Neben zahlreichen anderen Beispielen wie den Bündnissen mit faschistischen Diktaturen in Spanien und Portugal werden im Buch die Hintergründe des Bündnispartners Türkei aus den 1980er Jahren erwähnt. Demnach sei es dort zu 650.000 politischen Festnahmen, 7000 beantragten, 571 verhängten und 50 vollstreckten Todesstrafen sowie dem nachgewiesenen Tod durch Folter in 171 Fällen gekommen.

Alles Vergangenheit? Auch im Jahre 2024 stehe die Unterstützung islamistischen Terrors durch die Autokratie Erdogans nicht im Widerspruch zu einer NATO-Mitgliedschaft, interveniert Dagdelen und führt höchst kritisch fort: „Es geht bei der NATO nun einmal nicht um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, sondern allein um geopolitische Gefolgschaft gegenüber den USA.“  Wenn dem wirklich so ist, wäre natürlich massive Propaganda notwendig, um die Hintergründe zu kaschieren und den Zusammenhalt des Verteidigungsbündnisses aufrecht erhalten zu können. „In Schulen und Universitäten sind diese Lügen Teil des Bildungsprogramms zur NATO,“ zeigt sich Dagdelen überzeugt.

Mythos Wertegemeinschaft und Menschenrechte

Was soll man dazu noch sagen? „„Durch die Kriege der USA und ihrer Verbündeten sind allein in den vergangenen 20 Jahren viereinhalb Millionen Menschen gestorben ,“ bilanzierte die renommierte Brown University in Rhode Island, USA.“ Und Dagdelen zementiert diesen vernichtenden Einstieg kategorisch: „Die NATO ist keine Gemeinschaft, die Menschenrechte schützt. Im Gegenteil: Die NATO ist der Schutzschirm für die Menschenrechtsverletzungen ihrer Mitglieder.“

Julian Assange, 2014

Der Journalist Julien Assange machte diese Tatsachen öffentlich – wie zum Beispiel die US-Kriegsverbrechen in Afghanistan: Hierbei werden im Buch natürlich die „rechtsfreie Tötung mutmaßlicher Taliban-Anführer“ sowie der Einsatz „international geächteter Streubomben …, die wahllos töten und zerstören“ angeführt. Assange wird daraufhin selbst Opfer dieses menschenverachtenden Handelns. Als Konsequenz für seine Enthüllungen geht der Australier nach seiner Untersuchungshaft in London vielleicht für 175 Jahre in ein US-amerikanisches Gefängnis. Und trotzdem – „in eilfertiger Komplizenschaft wird auf Kritik am Hegemon USA verzichtet“ belegt die BSW-Politikerin den Stellenwert von Menschenrechten im System NATO.

Doch beim NATO-Anführer USA geht das alles offenbar noch besser – wobei Dagdelen auf den Militärstützpunkt Guantanamo Bay, Kuba, verweist. Bekanntlich wurde dort 2002 ein Gefangenenlager installiert, das aufgrund seiner Haftbedingungen international für schwerste Menschenrechtsverletzungen bekannt ist. Doch „auch 22 Jahre nach seiner Einrichtung ist eine Schließung des Folterlagers in Guantánamo nicht absehbar,“ resümiert die Schriftstellerin an dieser Stelle.

Eingang zum Camp Delta

Pointiert schafft sie es also immer wieder, den Finger in die zahlreichen Wunden zu legen, die einem fast schon ins Gesicht springen und zwingend zum Erschauern bringen müssen – kneift man die Augen nicht zur Gänze fest zusammen und gleicht tatsächliches Agieren der NATO mit deren hochtrabenden Leitsätzen ab: „Wir werden unsere Geschlossenheit, unseren Zusammenhalt und unsere Solidarität stärken, indem wir auf dem fortwährenden transatlantischen Bund zwischen unseren Nationen und der Stärke unserer gemeinsamen demokratischen Werte aufbauen.“ Angesichts der engen Bündnisse mit Diktatoren, Autokraten und Völkerrechtsverletzern wirke diese Selbstversicherung wie ein schlechter Witz – meint Dagdelen verächtlich.

In Ihren Augen ließe die NATO immer wieder doppelte Standards walten. Beispielsweise werfe man den Russen hinsichtlich deren Agieren gegen die Ukraine „wiederholte Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht“ vor. Gleichzeitig stärke man jedoch Israel bei seinen mittlerweile offiziell anerkannten Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht in Gaza den Rücken und „sichert dem Land volle Solidarität zu“.

„Die NATO. Eine Abrechnung mit dem Wertebündnis“

Sevim Dagdelen: Die NATO / Westend Verlag

In Sevim Dagdelens Neuerscheinung könnte die Abrechnung mit dem Wertebündnis eindeutiger nicht ausfallen: „Die NATO erscheint als Wächterorganisation einer zutiefst ungerechten Weltordnung mit neokolonialen Tendenzen.“ Und die Mythen des faktisch zweifelhaften Bündnisses würden den Blick auf die Wirklichkeit verklären. Um jedoch Auswege aus der gegenwärtigen Krise zu finden, bedürfe es ihrer Enthüllung. „Heute, 75 Jahre nach seiner Gründung, treibt der Militärpakt mit seiner globalen Expansion und seinen Konfrontationen die Welt näher an den Rand eines Dritten Weltkrieges als jemals zuvor“, zeigt sich Dagdeln überzeugt!

„Die kritische Auseinandersetzung mit dem aktuellen Vorgehen des Bündnisses wie auch mit seinen Verbrechen in der Vergangenheit soll die Voraussetzung dafür schaffen, über Alternativen nachzudenken.“ Wie könnte eine Alternative zur NATO in ihrer Jetzt-Form aussehen, um ein friedlicheres Zusammenleben der Menschheit zu ermöglichen? Bei Stichpunkt glauben wir, Sevim Dagdelen ist in ihrem Buch um entsprechende Antworten ernsthaft und faktisch glaubwürdig bemüht.


Sevim Dagdelen: Die NATO, Westend Verlag, ISBN 9783864894671, 128 Seiten, 16 €

Dieser Beitrag erschien auf Stichpunkt Magazin, Kooperationspartner von Unsere Zeitung.

Titelbild: Flag Map of Nato Europe / Clydiee / Wikimedia Commons CC BY-SA 4.0

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