Demokratie und Beteiligungsarmut in Wien
Politische Beteiligung ist eine Klassenfrage: Je geringer Einkommen, formale Bildung und sozialer Status sind, desto höher ist der Anteil der Nichtwahlberechtigten und Nichtwähler:innen. Entscheidet jedoch die Klassenzugehörigkeit über Partizipation, steht die Legitimität des politischen Gemeinwesens auf dem Spiel.
Von Tamara Ehs & Martina Zandonella / Marie Jahoda – Otto Bauer Institut
Ein Drittel der dauerhaft in Wien lebenden Menschen ist wegen ihrer Staatsbürgerschaft von Wahlen und direkter Demokratie ausgeschlossen, gleichzeitig geben viele Wahlberechtigte im unteren Einkommensdrittel ihre Stimme nicht mehr ab. Die Konsequenz: Bei Landtags- und Gemeinderatswahlen entscheidet inzwischen kaum die Hälfte der Bevölkerung im Wahlalter für alle über die politische Ausrichtung der Stadt; im 15. Bezirk – jenem Stadtteil mit dem geringsten Durchschnittseinkommen – ist es gar nur mehr ein Drittel. Da gerade im unteren Einkommensdrittel viele Wiener:innen ausländische Staatsbürgerschaften haben, kumuliert das Demokratiedefizit in dieser Gruppe. Steigende ökonomische Ungleichheit, die Bindung des Wahlrechts an die Staatsbürgerschaft, das restriktive Einbürgerungsrecht, und die Stellung der Stadt Wien als Bundesland (was selbst EU-Bürger:innen vom kommunalen Wahlrecht exkludiert), begründen diese Lage. Mit weitreichenden Auswirkungen: Denn von wirksamer politischer Beteiligung ausgeschlossene Menschen sehen die Demokratie seltener als Bestandteil ihrer politischen Identität. Folglich billigen sie dem politischen System, in diesem Fall der Stadt Wien, weniger zu, lebensrelevante Entscheidungen zu treffen.
Ungleichheit und Wahlbeteiligung
Auch in Wien ist fehlende wirksame Mitbestimmung der zentrale Grund, den Menschen im unteren Einkommensdrittel als Antwort auf die Frage nennen, warum sie nicht (mehr) an Wahlen teilnehmen. Das beträchtliche Ausmaß, in dem soziale Ungleichheit über demokratische Teilhabe bestimmt, zeigt bereits eine grobe Gruppierung der Wiener Sprengel entlang sozioökonomischer Merkmale:
Im oberen Cluster befinden sich rund 20% der Wahlberechtigten, hier kumulieren ökonomische Ressourcen, sozialer Status und eine hohe Wahlbeteiligung: Rund 40 Prozent der Wiener:innen verfügen hier über einen Hochschulabschluss, die Arbeitslosenquote liegt weit unter dem Wiener Durchschnitt, das Einkommen deutlich darüber. In diesem Cluster fiel die Wahlbeteiligung bei der Nationalratswahl 2019 mit 81 Prozent überdurchschnittlich hoch aus. Das mittlere Cluster entspricht der Mitte der Gesellschaft und umfasst 43 Prozent der wahlberechtigten Wiener:innen: 20 Prozent haben einen Hochschulabschluss, die Arbeitslosenquote entspricht ebenso wie das Einkommen dem Wiener Durchschnitt und die Wahlbeteiligung 2019 lag bei 72 Prozent. Im unteren Cluster treffen geringe ökonomische Ressourcen und ein geringer sozialer Status auf eine geringe Wahlbeteiligung: Mehr als ein Drittel der Wiener:innen verfügen über keine über die Pflichtschule hinausgehende Ausbildung, das Einkommen liegt deutlich unter dem Durschnitt, die Mehrzahl arbeitet in Berufen mit geringer sozialer Anerkennung, und die Arbeitslosigkeit ist dreimal so hoch wie im oberen Cluster. Teil dieses Clusters sind 37 Prozent der wahlberechtigten Wiener:innen, ihre Wahlbeteiligung lag 2019 bei 64 Prozent.
Ökonomische Ungleichheit übersetzt sich damit in politische Ungleichheit – zwar nicht formal, wohl aber de facto vollzieht sich ein politischer Ausschluss. Klaus Dörre spricht von einer „demobilisierten Klassengesellschaft“: Im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte haben klassenspezifische Ungleichheiten zugenommen; im politischen Prozess fanden sie sich jedoch immer weniger wieder. Die abnehmende Wahlbeteiligung der unteren Einkommensgruppen ist in diesem Zusammenhang auch als Ausdruck der Kritik an Verteilungs-, Anerkennungs- und Repräsentationsdefiziten zu interpretieren.
Ungleichheit und Wahlrecht
Auch das Wahlrecht selbst ist klassenstrukturiert: In Wien ist ein Drittel der Wohnbevölkerung ab 16 Jahren vom Wahlrecht ausgeschlossen – sechs Prozent der öffentlich Bediensteten, 26 Prozent der Angestellten, jedoch 60 Prozent der Arbeiter:innen. Da das Wahlrecht an die Staatsbürgerschaft geknüpft und deren Erhalt mit Kosten verbunden ist, wird politisch wirksame Beteiligung auch an dieser Stelle zu einer Frage des Geldes. Dabei hindert vor allem der Nachweis eines „hinreichend gesicherten Lebensunterhalts“ die Menschen im unteren Einkommensdrittel am Erhalt der Staatsbürgerschaft und damit des Wahlrechts. Die Stadt Wien hat berechnet, dass im Durchschnitt der Jahre 2015 bis 2017 zumindest 19.000 Drittstaatsangehörige aufgrund des Einkommenskriteriums von der Einbürgerung ausgeschlossen waren. Hierzu zählen praktisch alle Hilfsarbeiter:innen, die Mehrzahl der Arbeiter:innen und Dienstleister:innen in der Reinigung, Pflege oder im Tourismus sowie die Hälfte der Wiener Handwerker:innen.
Diese Verzerrung der Repräsentation wirkt über die Stadt hinaus. So ist Wien zwar das bevölkerungsreichste Bundesland, hat aber weniger österreichische Staatsbürger:innen als Niederösterreich. Da nicht die Bevölkerungs-, sondern die „Bürgerzahl“ zur Ermittlung der Mandatsverteilung auf die Bundesländer im Nationalrat herangezogen wird, ist Wien dort unterrepräsentiert: Zurzeit kann Wien 33, Niederösterreich jedoch 37 Mandatar:innen in den Nationalrat entsenden. Ökonomische Ungleichheit beeinträchtigt über den Zugang zum Wahlrecht also auch die Mehrheitsverhältnisse im Bund, was in dessen Politikgestaltung wiederum auf die Stadt Wien rückwirkt.
Mitmachen statt mitentscheiden?
Wien erprobte bereits 2002 die Entkopplung von Staatsbürgerschaft und politischen Rechten: Mit den Stimmen von SPÖ und Grünen wurde im Landtag ein Einwohner:innenwahlrecht auf Bezirksebene beschlossen. ÖVP und FPÖ riefen allerdings den Verfassungsgerichtshof an, der es als verfassungswidrig einstufte. Um das bestehende Demokratiedefizit dennoch einzuhegen, erweitert die Stadt Wien seit einigen Jahren daher vor allem die rechtlich unverbindlichen Beteiligungsmöglichkeiten. Einzig das Petitionsrecht, das allen Wiener:innen im Wahlalter unabhängig von der Staatsbürgerschaft zusteht, löst immerhin eine verpflichtende Behandlung im zuständigen Gemeinderatsausschuss aus. Alle anderen jüngst hinzugekommenen Beteiligungsangebote – von Grätzeloase über Kinder- und Jugendmillion bis Klimateams – stellen bloß politische Selbstverpflichtungen dar, auf deren Ausübung die Wiener:innen kein Recht haben und deren Abhaltung sie nicht einfordern können. Hinzu kommt, dass derartige Beteiligungsangebote in erster Linie das Handlungsrepertoire derjenigen erhöhen, die sich ohnehin bereits beteiligen (dürfen), und somit ihr Ziel der Erweiterung von Teilhabe verfehlen, wie unsere jüngste Studie belegt.
Schritte zur Verbesserung der Demokratie
Die neuen Partizipationsangebote verlangen den Bürger:innen wesentlich mehr ab als der im
Vergleich niederschwellige Wahlakt. Politische Beteiligung ist voraussetzungsvoll, sodass die
bloße Vermehrung von Beteiligungsformaten nicht zielführend ist, und kann nur durch umfassende
verteilungs-, bildungs-, sozial- sowie arbeitsmarktpolitische Maßnahmen gestärkt
werden. Daher braucht es unter anderem:
- Demokratiefolgenabschätzung aller bildungs-, sozial- sowie arbeitsmarktpolitischen
Maßnahmen - Streichung des Leistungskriteriums aus dem Staatsbürgerschaftsrecht
- Erhöhung der deskriptiven Repräsentation: Inklusion der Wiener:innen mit ausländischen
Staatsbürgerschaften und der Wiener:innen im unteren Einkommensdrittel in
die Parteien - Institutionalisierung von wirksamen Bürgerräten als unterstützende Maßnahme, um
unterrepräsentierte Gruppen systematisch in die Politikgestaltung einzubeziehen - Zielgruppenspezifische Erhöhung des Bekanntheitsgrads der bestehenden Beteiligungsangebote
Dieser Beitrag wurde am 05.12.2023 vom Marie Jahoda – Otto Bauer Institut unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY Attibution 4.0 International veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den Nutzer*innen eine freie Bearbeitung, Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen.