Schluss mit „Pathetischen Beschwörungen“- zurück zur gesellschaftlichen Realität!
Was hat die Beschwörung von Liberté, Egalité, Fraternité mit unserer heutigen Gesellschaft, unserer Realität und mit der Zukunft der Demokratie zu tun? Und wie groß ist die Gefahr, dass dieses machtvolle Postulat ins Gegenteil umschlägt?
Ein Gastbeitrag von Ilse Kleinschuster
Ein Artikel von Wolfgang Müller-Funk („Pathetische Beschwörungen“ im ALBUM vom STANDARD, 6. Juli 2024) machte mich sehr nachdenklich. Es ging da zunächst um den 14. Juli, den Französischen Staatsfeiertag und die Errungenschaften der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Hinterfragt werden vom besorgten Kulturwissenschaftler die Gründe, warum sich in den letzten Jahrzehnten immer stärker Unterschiede und Unstimmigkeiten auftun, wenn es um die emphatisch beschworene Trias von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit geht. Letztlich geht es dem Autor um die Zukunft der Demokratie, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der französischen Wahlen.
Seit 1848 gehöre diese Trinität, diese „magische Zauberformel der Französischen Revolution“, zweifelsohne zum identitätsstiftenden Erbe Frankreichs und sie sei seit der Erklärung der Menschenrechte zu einem gemeinsamen symbolischen Welterbe geworden, so Müller-Funk und er stellt fest, wie irreführend offensichtlich die monolithische Einheit der emphatisch beschworenen Trias geworden sei, wie einerseits ihre Postulate einander bedingen und andererseits in Gegensatz zueinander geraten. Das gelte nicht nur für die Verfassung des kommunistischen China, wo die Kommunistische Partei machtvoll den Prinzipien der Gleichheit und Brüderlichkeit – und damit auch der Solidarität und des Gemeinwohls – zum Durchbruch verhelfe, sondern auch für westliche Demokratien, die in Ausnahmesituationen – Krieg, Pandemie, Staatsnotstand, übergeordnete Interessen – Freiheiten und Eigentumsrechte im Einklang mit der geltenden Rechtsordnung, im Einklang mit dem Gleichheitsgebot für alle Menschen einschränken “mussten”. Es sei auch irritierend, wie groß die Gefahr sei in ihr Gegenteil umzuschlagen, wenn Freiheit, Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit verabsolutiert werden: Die Freiheit der einen, die die der anderen brutal aushebelt, die Gleichheit, die meine spezielle Eigenheit missachtet und die Solidarität, die zu einem Zwang verkommt.
Gelehrte der revolutionären Zeit (seit Ende des 18.Jahrhunderts) – wie u.a. der französische Adelige Alexis de Toqueville, der nach seinem längeren Amerikabesuch Mitte des 19. Jahrhunderts die Abschaffung einer ungleichen Ordnung und den Aufstieg einer demokratischen Ordnung euphorisch prophezeit hat, hätten zwar nicht mehr an die Restauration einer durch Gott legitimierten Demokratie geglaubt, aber was sie doch prophetisch vorausgesehen hätten, war die Möglichkeit, dass die Moderne neben der Demokratie noch eine andere Option in Gestalt diktatorischer Gewaltregime bereithält, so Müller-Funk.
Diese Option nehme jetzt immer deutlicher Gestalt an, sei es durch „populistische Manipulation von Mehrheiten“ oder als „Teil der Logik des demokratischen Systems, das sich nicht ohne Mithilfe sogenannter sozialer Medien verselbstständigt habe und jetzt den Fortbestand liberaler menschenrechtlicher Demokratien bedrohe“. Und Müller-Funk schließt daraus, dass die jüngsten Wahlen in Frankreich deutlich machten, dass der Kampf um den Erhalt und die Weiterentwicklung einer offenen, demokratisch verfassten Gesellschaft sich nicht diesseits und jenseits jener magischen Formel abspiele, sondern innerhalb von ihr. Es reiche demnach die stolze trinitarische Formel der Französischen Revolution nicht aus, um Menschenrechte und Gewaltenteilung, Dialog und Respekt für Andere zu gewährleisten, man müsse ihr „ein anderes Gesicht“ verleihen.
Wie können wir gesellschaftlichen Wandel beschleunigen?
Wo sind heute medienwirksame Intellektuelle, die die Verschleierung abdecken, um ein neues, ein „anderes Gesicht“ zu zeigen, welches der gesellschaftlichen Realität besser entspricht? Vonseiten der Politik ist da noch wenig zu erwarten. Immerhin ist die demokratische Linke (in Österreich die SPÖ) bereit, den Begriff der Brüderlichkeit durch den der Gerechtigkeit zu ersetzen. Solange aber die Meinung der Eliten nicht gleichgeschaltet wird mit der des Volkes, solange das Volk durch Desinformation verleitet, durch „ideologische Macht“ verführt wird (Rainer Mausfeld nennt es den größten Hacker-Angriff auf das menschliche Bewusstsein), solange also die Manipulationsmacht das Gesicht der gesellschaftlichen Realität verschleiert, wird das wohl nichts werden. Hier liegt es nahe, Rainer Mausfelds Diagnose „wir müssen Höhlenausgänge finden“ folgendermaßen zu interpretieren: Wir müssten zunächst ehrlich gegenüber uns selbst und unserem Lebensstil sein. Wir müssten uns eine möglichst deutliche Vision von einer wohlgeordneten zivilisatorischen Gesellschaft machen und dafür Ziele setzen. Wichtig wäre dann aber, uns „die Gemeinschaft“ nicht nur als ein kollektives Handlungsobjekt vorzustellen, sondern darüber hinaus unser kollektives Gedächtnis wiederzugewinnen, Erfolge zu analysieren und strategisch aufzuarbeiten. Letztlich aber, so fürchte ich, sind das wiederum Vorgehensweisen, die sich die Kapitalmächtigen kaufen können (Thinktanks). Sind diese aber wirklich daran interessiert, ein extrem ins Wanken geratenes Gleichgewicht zu stabilisieren? Haben sie durch populistische Manipulation nicht schleichend zur Einschränkung und Auflösung von wesentlichen Freiheitsrechten und Wohlstand geführt?
Was also können wir, die wir mit dieser Entwicklung unzufrieden sind, machen? Ich glaube, um nicht ohnmächtig zu bleiben, ist es zunächst extrem wichtig, dass wir unsere Ideologien, unsere „pathetischen Beschwörungen“ Stück für Stück abbauen, um dann – hoffentlich – unter Mithilfe eines innovativen Journalismus, eines ‚Sozialismus‘ – unsere Sicht zu entschleiern, um eine neue, klare Sichtweise der Realität zu bekommen.
Es ist klar, dass angesichts der akuten Bedrohungen weiter entfernt liegende, abstrakte Gefahren (relativ) an Bedeutung verlieren. Umso wichtiger erscheint es mir, ein neues Gesellschaftsmodell zu finden, das als Vision oder Narrativ gemeinschaftsfördernd wirkt. Neben notwendigen technologischen Innovationen soll es gesellschaftliche Innovationen enthalten (Wohlstandsmodelle, Lebensstile, z.B. in einer Postwachstumsgesellschaft). Von gleicher Bedeutung erscheint mir das Festhalten an den UN-Nachhaltigkeitszielen (SDGs). Dazu braucht es politisches Bewusstsein für die Weiterentwicklung demokratischer Gesellschaften, ohne die es keine Nachhaltigkeitspolitik geben kann. Und, last not least, Frieden! Ohne Frieden keine nachhaltige Entwicklung! Daher brauchen wir Friedenspolitik jenseits der militärischen Aufrüstung (ein überdimensioniertes Wuchern des militärisch-industriellen Komplexes gilt es zu verhindern). Kriege kosten viel Geld und sie verdrängen die sozial-ökologischen Probleme von der politischen Agenda und verschärfen sie zugleich.
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