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Die EU-Wahl – ein demokratiepolitischer Lernprozess?

Denkt der Kanzler nach der Niederlage bei der EU-Wahl um? Eher nicht, meint Ilse Kleinschuster im Gastkommentar. Denn den Weg hin zu einem sozial-ökologischen Wandel scheinen viele Politiker*innen nicht gehen zu wollen.

Die Politikwissenschafterin und Demokratieberaterin Tamara Ehs sieht eine Korrelation zwischen Wahlbeteiligung und dem Ergebnis von Wahlen: Wenn vor allem „die gut Gebildeten“ und „finanzstarken“ immer brav wählen gehen, so bildet sich ein verzerrtes Bild, sagt sie – und die Politiker*innen richten ihr Wahlprogramm dementsprechend aus. Daraufhin werden die wahlmäßig Unterrepräsentierten unzufrieden und meinen: „die Politiker tun ohnedies nichts für uns, also gehen wir gar nicht zur Wahl.“ Ein Teufelskreis? – Die wahlpolitischen Folgen sind bekannt. Die Wahlbeteiligung ging in den letzten Jahren zurück, die Nichtwähler*innen sind die größte Gruppe! Eine starke Wahlbeteiligung sei aber wichtig für eine Institution wie das EU-Parlament, so Tamara Ehs im Morgenjournal vom 8.6. 2024.

Bildung, so meine ich, ist jedoch weder ein Patentrezept gegen Armut noch eine Grundvoraussetzung zur Vermögensbildung in größerem Stil, denn weder Firmengründer noch -erben benötigen höhere Bildungsabschlüsse für die Mehrung ihres Reichtums

Wird aber Bildung, hinsichtlich ihrer Fähigkeit, Ungleichheit zu begrenzen, nicht allgemein maßlos überschätzt? Sie ist kein Wundermittel, um die materielle Unterprivilegierung bestimmter Bevölkerungsschichten auszugleichen. Das hat wohl auch stark mit dem familiären Migrationshintergrund zu tun (siehe Arbeits- und Ausbildungsplätze, die aufgrund rassistischer und antisemitischer Vorurteile Kindern aus solchen Milieus trotz höherer Bildung oft nicht zur Verfügung stehen). Das mag wohl mit ein wesentlicher Grund sein für die Erosion unserer Gesellschaft. Die Zunahme chronisch unterfinanzierter öffentlicher Bildungsbereiche – hat sie nicht auch zur Herausbildung abgeschirmter Gesellschaftskreise geführt? Bildung, die zu einer Handelsware herabgewürdigt wird, hat ein Schulwesen zur Folge, das stark von sozioökonomischer Ungleichheit und einer stärkeren Klassenspaltung der Gesellschaft geprägt ist. Diese wachsende Ungleichheit ist wohl das größte Problem unserer Gesellschaft, wenn nicht der Menschheit insgesamt. 

Sind Wahlergebnisse nicht zunehmend eher ein Problem von geschürtem Rassismus und Antisemitismus als von Arm und Reich? Das wird auch im sg. Sylter Weckruf stark hervorgehoben, wenn der Slogan „Reichtum schützt vor Dummheit nicht“ bei einer Demonstration gegen Rechtsextremismus in Essen als Headline zu lesen war. Für Österreich zeigen die Ergebnisse des Demokratie-Monitors von SORA/FORESIGHT, dass auch im Drittel der Bevölkerung mit den höchsten Einkommen die Zufriedenheit mit dem politischen System seit 2018 deutlich gesunken ist. Auch antidemokratische und autoritäre Einstellungen sind unter den Privilegierten relativ weit verbreitet. So stimmen 14% der Aussage zu, „es sollte einen starken Führer geben. 9% dieser Gruppe sprechen sich für eine „Diktatur auf Zeit“ aus, die uns in den kommenden fünf Jahren aus der Krise führt, zudem sprechen sie sich gegen „unsere parlamentarische Demokratie“ aus. Der Professor für Allgemeine Soziologie, Jörg Flecker dazu: „Es ist zu befürchten, dass uns die Ergebnisse der extremen Rechten bei den Wahlen zum Europäischen Europaparlament anschaulich zeigen, wohin die Reise geht.“  – Werden wir daraus lernen?

Noch eine Sache, die mir immer wieder aufstößt, wenn es in Wahlanalysen heißt, die Führung der Mittelschichtpartei tendiere nach rechts-extrem, um ja genug Stimmen für den Erhalt ihrer Führungsposition zu sichern. Wie soll da jemals der notwendige radikale Wandel einer digitalen Gesellschaft richtig erkannt und anerkannt werden? Spielen sich die wesentlichen Veränderungen der Sozialstruktur nicht viel mehr an den Rändern unserer Gesellschaft ab als in ihrem Zentrum? 

Fragen sich Politiker*innen denn je, ob ihr Wahl-Programm geeignet ist, um jetzt auf demokratische Art und Weise einen fairen, sozial-ökologischen, friedlichen Wandel – gemeinsam mit der Zivilgesellschaft – herbeizuführen? Kürzlich war ich bei der Konferenz „Beyond Growth“ und hatte erwartet, dort einige Politiker zu sehen. Aber nein! Eine Alternative zum BIP-Wachstum, ein Wachstum im Wandel, interessiert sie offensichtlich nicht! Hat sie auch in den letzten Jahren nicht sehr interessiert, so dass eine Initiative „Wachstum im Wandel“ erst wieder revitalisiert werden musste. Ich glaube manchmal, dass Politiker das, was die Boulevardpresse berichtet, mehr interessiert als das, was in den Nischen der realen Volkswirtschaft ohnedies schon geschieht: die – zumindest ansatzweise – Umsetzung von fertigen Lösungen.

Lösungen, die von Konzepten für Kreislaufwirtschaft und Ressourcenobergrenzen, über eine Ausweitung der öffentlichen Daseinsvorsorge, neue Indikatoren abseits von BIP-Wachstum, Suffizienz statt nur Effizienz, Konsumkorridoren, für eine demokratische Gestaltung der Wirtschaft, Genossenschaften, bis hin zur Neubewertung von Arbeit reichen. Österreichs Wissenschaft ist sogar Vorreiter in zukunftsfähigen Konzepten für eine neue Wirtschaftspolitik. Es wäre so einfach, denn viele Universitäten und Institute bereiten seit Jahren Lösungen für die Politik vor.

Viele – auch Nichtwähler – meinen, jetzt könnte Österreich bei der Umsetzung Vorreiter werden. Mitte Mai haben die Initiatoren der “Beyond-Growth- Österreich”- Konferenz genau diese Lösungen unter anderem ins österreichische Parlament gebracht!

Fragt sich unser Kanzler insgeheim jetzt nach dieser EU-Wahl-Niederlage vielleicht doch, was dringlich zu tun wäre? Überlegt er doch, wie Wohlstand und gesellschaftliche Stabilität unabhängig vom Wirtschaftswachstum ermöglicht werden und die Wiederkehr von sozial schmerzhaften Rezessionsphasen vermieden werden könnte? Ich fürchte nicht, weil er sich unsere Zukunft jenseits des Wachstum nicht vorstellen kann.


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Titelbild: Markus Spiske auf Unsplash

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