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Ecuador: Die Drogen-Holdings übernehmen

In Ecuador ist die Gewalt eskaliert. Präsident Noboa hat den Ausnahmezustand ausgerufen und 22 Banden den Krieg erklärt. Wie konnte Ecuador zum gefährlichsten Land der Region werden?

Von Ana Robayo, Galo Paguay und Mirjana Jandik (NPLA)

Die Bilder machten Schlagzeilen von Ecuador bis China: Junge Maskierte zielten vor laufender Kamera mit Schusswaffen auf Journalist*innen des ecuadorianischen Fernsehkanals TC Televisión. Es ist der 9. Januar 2024. Der Angriff auf den Fernsehsender bewegt den kleinen Andenstaat und die Welt. Tags zuvor hatte Präsident Daniel Noboa den Ausnahmezustand verhängt, nachdem der Anführer einer der einflussreichsten kriminellen Banden aus dem Gefängnis geflohen war: Adolfo Macías, alias Fito. Eine Gewalteskalation begann: Journalist*innen wurden entführt, in mehreren Städten explodierten Autobomben, es gab Überfälle, Schusswechsel, Morde. Am 10. Januar erklärte Noboa 22 kriminellen Banden den „Krieg“. Ecuador befinde sich nun in einem „bewaffneten internen Konflikt“. Lange hatte Ecuador den Ruf der friedlichen Insel zwischen der Gewalt in Kolumbien und Peru. Wie konnte es zum gewalttätigsten Land Lateinamerikas werden?

„Es war ein Dienstag, ich weiß es noch ganz genau“, erinnert sich Eslendy Fuentes Rubio an den Überfall auf den Fernsehkanal TC Televisión. Sie betreibt in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito einen kleinen Lebensmittelladen. Kurz nach dem live übertragenen Überfall hörte sie draußen Lärm: Schreie, Rollgitter, die panisch heruntergelassen wurden, um Läden zu schließen: „Es gab Gerüchte, die Banden würden das Chaos ausnutzen, um den Markt und die Läden zu plündern. Es war ein einziges Durcheinander.“

Unsicherheit und Angst in den Städten

Die Stadt kollabierte. Autos und Busse blieben stecken, Menschen versuchten, so schnell wie möglich zu Fuß nach Hause zu kommen. Viele Läden blieben ganze zwei Tage lang geschlossen. Unsicherheit und Angst erfassten die Menschen in allen großen Städten des Landes.

Frank Braßel, ein deutscher Journalist, der zuvor jahrelang für eine NGO über die prekären Arbeitsbedingungen in der ecuadorianischen Bananenproduktion gearbeitet hatte, war am 9. Januar in Guayaquil. Vormittags hatte er sich noch mit Alina Manrique von TC Televisión getroffen. „Um zwölf sagte sie, Frank, ich muss jetzt mal arbeiten gehen. Dann geriet sie in diese fürchterliche Situation und fand sich mit einer Pistole am Kopf wieder. Es ist ja live über den Kanal gegangen und war sofort überall auf Social Media. Das hat natürlich die Leute total schockiert. Es wirkte in dem Moment wie der Angriff der Drogenmafias gegen den Restbestand des Staates.“

Gewalt durch Plan Colombia und Einführung des Dollars

Die Gewalt kam nicht von gestern auf heute, erklärt Fernando Carrión. Der Sozialwissenschaftler und Professor an der Facultad Latinoamericana de Ciencias Sociales FLACSO hat ab 2017 ein Forschungsprojekt in acht lateinamerikanischen Ländern über Drogenhandel koordiniert. Zentrale Weichenstellungen sieht er um die Jahrtausendwende: Die militärische Strategie des Plan Colombia (1999) habe den Drogenhandel internationalisiert und den internen Konflikt in die Nachbarländer ausgeweitet. Ab dem Moment sei auch Ecuador zum Kokainproduzenten geworden. Die Einführung des Dollars (2000) wiederum ermöglichte Geldwäsche im großen Umfang. Und der „Krieg gegen den Terror“, den die USA in Reaktion auf den Angriff vom 11. September 2001 ausgerufen hatten, führte zu einer weitgehenden Schließung der Luft- und Wasserwege. Für den Drogenhandel wurde damit die Landgrenze zwischen Mexiko und USA umso bedeutender, was dazu führte, dass mexikanische Kartelle mit kolumbianischen und ecuadorianischen kriminellen Gruppen Kontakt aufnahmen. Es begann ein arbeitsteiliger Drogenhandel, in dem verschiedene Gruppen Produktion, Verarbeitung, Transport und Verkauf unter sich aufteilten.

Wenn sich Carrión anschaut, wie das organisierte Verbrechen heute arbeitet, sieht er ein Netzwerk aus gut koordinierten Unternehmenskonglomeraten – Holdings –, das er als „globales Netzwerk des Verbrechens“ bezeichnet. Wie das funktioniert? Carrión erklärt das an einem Beispiel: „Nehmen wir das Sinaloa-Kartell. Es ist eine Holding, die in 51 Ländern operiert und in 3700 legale Unternehmen investiert, also Geld wäscht. Es nimmt Kontakt mit einer weiteren Holding auf, dem kolumbianischen Golf-Clan, und veranlasst, dass aus Kolumbien Drogen nach Ecuador exportiert werden. Dort nimmt sie die Gruppe Los Choneros in Empfang und verschifft sie weiter – entweder wieder über das Sinaloa-Kartell in die USA oder über die `Ndrangheta nach Italien. Und es gibt noch viele weitere solcher Verbindungen.“

Globales Netzwerk des Verbrechens

Dieses globale Unternehmensnetzwerk befriedigt nicht nur die Nachfrage nach Drogen, es hält ganze Volkswirtschaften am Laufen. Das Lateinamerikanische Strategische Zentrum für Geopolitik CELAG schätzt, dass in Ecuador jährlich 3,5 Milliarden US-Dollar Drogengeld gewaschen werden – 3,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, betont Carrión. In Mexiko seien es schon 50 Milliarden US-Dollar, 2 Prozent des BIP.

In diesem komplizierten Szenario trat vor zwei Monaten ein neuer Präsident sein Amt an: Daniel Noboa kommt aus einer der reichsten Familien Ecuadors und er ist der jüngste Präsident, den das Land je hatte. Seine Strategie zur Bekämpfung der Drogengewalt? Militarisierung und das Versprechen, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Ecuadors Wirtschaft befindet sich nämlich seit der internationalen Rohstoffkrise 2014 in einer Abwärtsspirale und das führte zu einer Reihe staatlicher Umstrukturierungen. Auch das sei ein Schlüsselmoment, um die aktuelle Situation zu verstehen, meint Fernando Carrión.

Kaum Bildungschancen und Arbeit

Journalist Frank Braßel beschreibt die Situation der Jugend gerade in den Küstenregionen als hoffnungslos, es fehle an Bildungschancen und Arbeitsmöglichkeiten. Noboas Pläne, das zu ändern, findet er wenig glaubwürdig, schon gar nicht mit Blick auf das Familienimperium Noboa: „Ich war vorletzte Woche in der Provinz Los Rios, wo ich mit Leuten gesprochen habe, die auf Noboa-Plantagen arbeiten. Da werden die grundlegenden Mindestanforderungen des Gesetzes überhaupt nicht eingehalten. Wer in eine Gewerkschaft geht, der fliegt sofort, aber auch nur den Mindestlohn zu kriegen, ist dort schwierig.“ Dass Noboa relevante soziale Reformen auf den Weg bringen werde, sehe er nicht: „Das sagt jeder halbwegs realistische Analyst und auch die meisten Bürger*innen. Das ändert aber nichts daran, dass das, was er jetzt macht, total populär ist. Es gibt ganz wenig Widerspruch gegen diese Militarisierung des Konflikts.“

Das Kriegsgerede, das demonstrative Patrouillieren von Polizei und Militär, die willkürlichen Kontrollen der Zivilbevölkerung – tatsächlich hat diese repressive Politik Noboas Ansehen gesteigert. Laut einer Umfrage von Comunicaliza genießt er aktuell 80 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung. Fernando Carrión sagt: „Zuerst hat sich das Parlament ungewöhnlich geschlossen hinter den Präsidenten gestellt. Das haben dann auch die Parteien getan und sogar Ex-Präsident Rafael Correa unterstützt ihn.“

Noboas Kurs wird von Bevölkerung unterstützt

Es scheint auch die Meinung der Bürger*innen widerzuspiegeln. An ihrem Grillstand gegenüber vom zentralen Busbahnhof der Hauptstadt Quito steht die 25-jährige Nathaly Andrade. Sie findet: „In den letzten Tagen hat man schon Veränderungen gemerkt. Seit der Ausgangssperre und den anderen Maßnahmen ist es ruhiger.“ Für ihr Geschäft ist der bis März verhängte Ausnahmezustand ein Problem. Normalerweise verkauft sie bis vier Uhr morgens Essen an Taxifahrer*innen und junge Barbesucher*innen. Jetzt muss sie wegen der Ausgangssperre schon vor elf Uhr abends zumachen.

Einbußen im Laden spürt aus Eslendy Fuentes: „Ich verkaufe gerade wenig. Montag bis Freitag sind die Leute spätestens um halb neun abends zu Hause und gehen nicht mehr raus, also schließen wir früher. Außerdem gibt es wieder online Unterricht, deswegen kaufen auch die Kinder nichts auf dem Weg Schule. Da lohnt es also auch nicht, früh aufzumachen.“

Bis zum 24. Januar gab es im ganzen Land keinen Präsenzunterricht. Das stellte Familien unter Herausforderungen, die sie an die Pandemiezeit erinnerten. Mabel Albán, erwerbstätige Mutter von zwei kleinen Töchtern, erzählt, dass das ihre Routine durcheinander gebracht hat. Im Hintergrund erklärt währenddessen die Lehrerin, wie sie auch über den Videocall der Mitschülerin ein Geburtstagslied singen können. Viele ecuadorianische Familien haben Schwierigkeiten, aus ihren Wohnzimmern Klassenzimmer unterschiedlicher Altersstufen zu machen und als Pädagog*innen und Animateur*innen ihrer Kinder zu fungieren. Trotzdem ist auch für Mabel Albán das größte Problem das Gefühl von Unsicherheit und Angst, denn die Bandenkämpfe werden vor allem in den größeren Städten ausgetragen: „Mit der ständigen Präsenz von Polizei und Militär fühlen wir uns nicht mehr so frei wie früher. Wenn man raus muss, geht man nur noch an die Orte, die man für sicher genug hält.“

Friedensprozess, Pandemie, Kokainproduktion

Alle drei Frauen sind sich in einer Sache einig: Die Unsicherheit begann nach der Pandemie. Ecuador liegt nicht erst seit gestern zwischen den beiden größten Kokainproduzenten, zwischen Ländern, in denen es bewaffnete Konflikte gibt. Warum steigen Drogenproduktion und Bandengewalt dann erst etwa seit acht Jahren? Verschiedene Analyst*innen weisen auf die Rolle des Friedensprozesses in Kolumbien hin. Fernando Carrión erklärt das so: „Ecuador war plötzlich kein heiliger Rückzugsort mehr für die FARC-Guerilla.“ Bis zum Friedensprozess gab es eine Art Konsens, die Grenze zu Ecuador als eine angriffsfreie Zone zu betrachten. Das ermöglichte die Bewegungsfreiheit von Guerilleros/-as wie Zivilist*innen, Guerilla-Mitglieder konnten sich in Ruhe in Ecuador erholen und Vorräte aufstocken. Als 2016 die Friedensverträge unterzeichnet wurden, wurde kolumbianische das Grenzdepartment Nariño zur umkämpften Zone – erstes Anzeichen war 2018 die Entführung und Ermordung von drei Journalisten der Tageszeitung El Comercio.

Ein weiteres Element sind die Entwicklungen auf dem Weltmarkt, erklärt Fernando Carrión: „Aktuell gibt es eine Überproduktion an Kokain. Kolumbien hat 2021 seine Produktion um 43 Prozent gesteigert, Peru hat seine Produktion verdoppelt. Außerdem produzieren inzwischen auch Länder wie Guatemala, Honduras und Paraguay.“ Gleichzeitig sei die Nachfrage nach Kokain in den USA wegen des viel günstigeren Fentanyls zurückgegangen. Kartelle hätten darauf mit einer Expansion ihrer Geschäfte in Lateinamerika und Europa reagiert. In Ecuador werde heute doppelt so viel Kokain konsumiert wie noch 2019.

Die Gewalt ist ein internationales Problem

Was tun angesichts dieses düsteren Panoramas? Für Fernando Carrión lautet eine Lösung: stärkere Zusammenarbeit in Lateinamerika. „Wenn das globale Netzwerk der Kriminalität gut organisiert und vernetzt ist, sollten wir das auch sein.“ Eine Möglichkeit seien gemeinsame Institutionen nach dem Vorbild der EU. Entwicklungsstrategien sollten darauf abzielen, die lateinamerikanische Integration zu stärken.

Klar ist: Ecuador hat kein nationales Problem. Dieser Zusammenbruch mit Ankündigung lehrt uns vielmehr, wie tief kriminelle Ökonomien in der Gesellschaft verankert sind. Unter Beteiligung von Staaten, Sicherheitsbehörden, Unternehmen und Privatpersonen werden Milliarden US-Dollar gewaschen. Ungleichheit und Armut lassen vielen Menschen keinen Ausweg, als Teil der illegalen Ökonomien zu werden. Für die ecuadorianische Zivilbevölkerung fühlt es sich an, als säße sie wehrlos in der Falle. Und dennoch bleibt nichts anderes übrig, als die Alltagsaktivitäten aufzunehmen und Strategien zu finden, mit dieser neuen Normalität umzugehen – ein Leben mit der Gewalt.

Zu diesem Artikel gibt es auch einen Podcast bei Radio onda.


Dieser Beitrag erschien am 05.02.2023 auf npla.de, lizensiert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international. 

Titelbild: Soldaten patrouillieren im Zentrum von Ecuadors Hauptstadt Quito. Foto: Josué Araujo/Wambra (CC BY-NC-ND 3.0 IGO Deed)

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