Große Bühne für Slowenien
Oder: Warum die großen Themen nicht den alten Griechen überlassen werden dürfen. Slowenien war nach der Frankfurter Buchmesse Gastland an den Literaturtagen Zofingen (Schweiz).
Von Urs Heinz Aerni
Das zahlreiche Publikum habe das Team der Literaturtage Zofingen eigentlich überrascht, denn man habe gedacht, dass eher große Länder wie Spanien (2022) oder Italien (2024) für volle Säle garantieren. Irrtum. Das kleine Gastland Slowenien lockte pro Veranstaltung durchschnittlich 60 – 80 Menschen in das Kulturhaus West.
Woran liegt das? „Als wir uns intensiv mit der Kultur und der Literatur von Slowenien zu beschäftigen begannen,“ so Programmleiterin Julia Knapp, „wurde uns sehr schnell klar, wie reich an Themen, Geschichten und Kultur das Land zwischen Osten und Westen ist.“
Slowenien in der Reportage und der Poesie
Schon am ersten Programmpunkt am Samstagvormittag konnten der Schriftsteller Aleš Šteger und der Journalist Helmut Luther vor vollen Reihen über ihr Verhältnis zu Slowenien und zu ihren Büchern Auskunft geben. Der eine mit liebevoller und kritischer Ironie, der andere mit Reportagen in die Tiefen der Kulturgeschichte. Auf den kritischen Blick angesprochen sagte Luther lächelnd: „Einem Deppen bin ich begegnet – aber nur einem!“ Šteger schrieb sein Buch über sein Heimatland auf Deutsch und stellte fest, wie „all die Sachen, die man in der eigenen Sprache als intakt empfindet, durch den Blick einer anderen Sprache zu zerbröseln beginnen…“
Die beiden Anthologie-Herausgeber Aleš Šteger und Roger Perret teilen ihre Leidenschaft für die Literaturdisziplin Lyrik. Perret hielt fest, dass drei von vier Autoren, die das Fundament der modernen Schweizer Lyrik bilden, für „verrückt“ erklärt wurden. Šteger zeigt sich davon überzeugt, wie Lyrik und Sprache unseren Umgang mit der Welt „immens beeinflussen“ kann und schließt pointiert: „Lyrik schreiben, muss nicht sein, aber Lyrik lesen!“ Die Lesekunst von Hanspeter Müller-Drossaart ließ gedruckte Poesie wieder bunte Blüten treiben.
Facetten der Liebe, Drogen und Einsamkeit
Zur Liebe meinte Ana Schnabl, die Autorin des Romans „Meisterwerk“: „Liebesbeziehungen sind eine Art von Demenz.“ Und sie sieht einen bedenkenswerten Trend in unserer Gesellschaft: „Die Gesellschaft erlaubt Menschen nicht, sich zu ändern – wir sind zynisch und misstrauisch geworden gegenüber Menschen, die sich wirklich verändern wollen.“ Die von Yvonne Oesch sehr gut vorgelesenen Passagen ließ das Publikum im Anschluss zum Büchertisch eilen.
Die Einsamkeit hat für Ana Marwan eine wichtige Bedeutung und es sei schade, dass im Deutschen es nicht mehr Wörter dafür gebe, da es viele Arten von Einsamkeit gebe. Ihre gesammelte Erfahrung durch die Arbeit in einem Ministerium im Bereich Psychologie führte sie zur Überlegung, dass zwischenmenschliche Erwartungen auch auf eine „schöne Art enttäuscht“ werden können.
Zwischen den Lesepassagen, die das Publikum sichtlich unterhielt, scheint sie laut nachzudenken über uns und das Leben und warum wir ohne Grenzen verloren wären: „Die totale Freiheit empfinde ich persönlich als lähmend. Die Grenze ist interessant, weil wir sie übertreten können.“ Und warum sie die deutsche Sprache freier findet, als die slowenische, bräuchte eine weitere Veranstaltung dazu.
Wenn Geschichten die Welt erreichen
Im Übersetzerforum mit Jerneia Jezernik, Erwin Köstler, Karl Rühmann und Zorka Ciklaminy unter der Moderation Christina Caprez erfuhr das konzentriert zuhörende Publikum, wie es glückliche Zufälle für ein Buch braucht, das übersetzt werden kann oder wie wichtig die Übersetzungsarbeit ist, um Menschen mit Geschichten zu erreichen und dass dieses Motto für ihre Arbeit zählt: „Wir übersetzen nicht den Inhalt – wir übersetzen die Wirkung“ so Karl Rühmann.
Zwei Verlage veröffentlichen neu die Werke von Alma M. Karlin (1889 – 1950), der um die Welt gereisten Journalistin aus der slowenischen Provinz. Jerneja Jezernik widmet ihr eine Biografie und Marijan Pušavec und Jakob Klemenčič, eine Graphic Novel. Auf die Frage der Moderatorin Rebekka Salm warum es so lange ruhig war um die Autorin, erklärte Jezernik: „Alma ging vergessen, weil die Deutsche Sprache und Kultur noch lange nach dem Krieg in Slowenien mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt wurde, denn sie war eine deutschsprachige Autorin“. Das Podium ermöglichte einen Einblick in ein Leben einer Frau, die sich in ihrer Haut und auf dieser Welt nicht wohl fühlte und mit 100 Dollar und 100 Deutsche Mark auf eine Weltreise ging. „Auf dem Meer bin ich eine Kommunistin“ schrieb Alma M. Karlin. Eine Annemarie Schwarzenbach aus Slowenien. Ariela Sarbacher verstand es, die Passagen in treffend in der zur Karlins Welt passenden Tonalität vorzutragen.
Eine andere Reise hat Nataša Kramberger hinter sich, die noch nicht zu Ende ist. Davon erzählt in ihrem Roman „Verfluchte Misteln“ und auf der Bühne dem Publikum und der Gesprächspartnerin Monika Schärer. Tausende von jungen Menschen ziehen in die Städte, doch die Autorin kehrt in ihr Heimatort um eine biodynamischen Bauernhof zu reaktivieren. „Bei der Arbeit in der Natur muss man sehr viel zuhören“ so Kramberger und machte das Publikum nachdenklich als sie sagte: „Es gab mal einen Schmetterling oder einen Vogel auf der Feldarbeit, vor fünf oder zehn Jahren. Jetzt gibt es das nicht mehr. Man muss sich fragen: Was bedeutet das?“
Kleines sauberes Land zwischen Krieg und Liebe
„Warum ist Slowenien so sauber? Na, da kommt wöchentlich eine Frau und räumt auf.“ Geschichten wie diese zum kleinen Land von Karl Rühmann umranken die gesellschaftlichen und politischen Analysen zusammen mit Samira Kentrić, Karl Rühmann, Enver Robelli und Ciryill Stieger im Gespräch mit Christina Caprez. Angesprochen wurde das Verschwinden von 25’000 Menschen aus den Bürger-Registern mit all ihren Rechten, die Tiefflüge der Serbischen Luftwaffe am Unabhängigkeitstag 1991 aber auch die Gründe, wie die Kleinheit des Landes sowie der liberale Sozialismus im Vergleich zu anderen ehemaligen Ostblockstaaten mit einer lebendigeren Zivilgesellschaft einen blutigen Bürgerkrieg verhinderten.
Nicht besser hätte der Abschluss sein können mit dem Gespräch zwischen dem Schriftsteller Drago Jančar und Esther Schneider und den dergestalt stark vorgetragenen Lesepassagen durch Thomas Sarbacher, so dass der Schriftsteller den Schauspieler dafür umarmt und sagt: „Die Lesung war viel besser als das, was ich geschrieben habe.“ So rundet diese letzte Veranstaltung die Tatsache ab, dass alles Menschliche in der Literatur widerspiegelt wird, denn wie sagt Jančar: „Liebe, Verrat, Hass und Liebe sind Themen, die nicht für die alten Griechen reserviert sind.“
Die Abschluss- und Abschiedsworte der Präsidentin des Vereins Sabine Schirle und der Programmleiterin Julia Knapp wurden mit einem letzten aber langen Applaus quittiert. 2024 kommt Italien nach Zofingen.
Mehr dazu + Bildergalerie: www.literaturtagezofingen.ch
Titelbild: Im Einsatz für die Literatur: Julia Knapp (Programmleiterin), Sabine Schirle (Präsidentin) und Rebekka Salm (Autorin und Moderatorin) Foto: Urs Heinz Aerni
DANKE, DASS DU DIESEN BEITRAG BIS ZUM ENDE GELESEN HAST!
Unsere Zeitung ist ein demokratisches Projekt, unabhängig von Parteien, Konzernen oder Milliardären. Bisher machen wir unsere Arbeit zum größten Teil ehrenamtlich. Wir würden gerne allen unseren Redakteur*innen ein Honorar zahlen, sind dazu aber leider finanziell noch nicht in der Lage. Wenn du möchtest, dass sich das ändert und dir auch sonst gefällt, was wir machen, kannst du uns auf der Plattform Steady mit 3, 6 oder 9 Euro im Monat unterstützen. Jeder kleine Betrag kann Großes bewirken! Alle Infos dazu findest du, wenn du unten auf den Button klickst.