Argentinien: Der Vormarsch der extremen Rechten kommt nicht überraschend
Der Wahlsieg Mileis scheint besiegelt: „Alle politischen Äußerungen, die mit Veränderung zu tun haben, stammen von der neofaschistischen Rechten.“
Von Cecilia Valdez (El Salto / NPLA)
Laut Prognosen für die Wahlen am 22. Oktober liegt die ultrarechte Partei von Javier Milei vorn. Der Soziologe Daniel Feierstein, Doktor der Sozialwissenschaften an der Universidad de Buenos Aires, analysiert, wie es dazu gekommen ist. Feierstein gehört zu den Intellektuellen, die seit Jahren vor dem Vormarsch der extremen Rechten warnen. Im Gespräch mit El Salto erklärt er, welche Folgen der Wahlsieg der Rechtsextremen bei den nächsten Wahlen am 22. Oktober haben wird.
Wie lautet deine Einschätzung nach den offenen obligatorischen Vorwahlen (Primarias Abiertas Simultaneas y Obligatorias), in denen die Kandidat*innen für die Parlamentswahlen ausgewählt werden?
Was den Vormarsch und die Konsolidierung der neofaschistischen Rechten angeht, muss ich sagen, dass sich einige Dinge bewahrheitet haben, vor denen ich schon länger gewarnt hatte. Mir war klar, dass die aktuellen Bedingungen ihren Erfolg begünstigen würden, aber dass das so schnell und so heftig vonstatten geht, hätte ich nicht gedacht. Es geht auch nicht nur um Milei, Patricia Bullrich [Kandidatin der Partei des ehemaligen Präsidenten Mauricio Macri] ist so ziemlich auf der gleichen Linie, und das macht schon fast die Hälfte der Wähler*innen aus.
Was denkst du, warum ist das so schnell gegangen?
Im Wesentlichen, weil die Bedingungen für eine Radikalisierung der Bevölkerung ideal waren. Mit der Pandemie ist das Klima insgesamt rauer geworden, das allgemeine Unbehagen hat zugenommen, und dann gab es ja noch dieses Foto [von Präsident Alberto Fernández, der in der Präsidentenresidenz in großer Runde seinen Geburtstag feiert]. Das hat zum Bruch zwischen den politischen Vertreter*innen und der Gesellschaft geführt. Antipolitik ist eine Stütze des Neofaschismus. „Die führenden Politiker lassen es sich gutgehen, während das Volk leidet“ – diese apolitische Paranoia, die sich schon länger angebahnt hatte, bekam durch dieses Foto enormen Aufwind. Das wiederum hatte verheerende Folgen, es hat die politische Landkarte fast komplett umgekrempelt, und das Ergebnis sehen wir in den Vorwahlen.
Viele Menschen glauben, dass die Vorwahl eine Warnung war und dass die erste Wahlrunde nicht unbedingt so ausgehen wird. Was denkst du dazu?
Ich denke, mit solchen Einschätzungen versuchen wir, uns selbst zu beruhigen. Vielleicht ist ein Teil der Wähler*innen wirklich noch nicht soweit, alles hochgehen zu lassen, und ich denke, zum Teil geht es bei solchen Vorwahlen genau darum, doch ich bin davon überzeugt, dass bei einem Teil dieser Wählerschaft die Wut sehr groß ist, und die Gruppe der Anhänger*innen, die Milei hinter sich versammelt, ist nicht gerade homogen. Aus der Stimmverteilung in den Volkssektoren spricht eine tiefe Müdigkeit und Wut. Es besteht die Möglichkeit, dass manche Bevölkerungsgruppen sich am Tag vor der Wahl noch einmal umentscheiden, aber dass das wirklich an dem Ergebnis etwas ändert, halte ich für reines Wunschdenken. Wenn man einmal rational die Hintergründe dieser Entscheidung betrachtet, den Wertverlust des Peso noch nach den Umfragen. die Inflationsspirale, die immer gleichen Probleme, ist es schwer vorstellbar, dass sich jetzt noch etwas ändern könnte.
Nach den Umfragen liegt der Fokus mehr auf Milei. Was vorher als großspurige Behauptung im Raum stand, bekommt angesichts der Möglichkeit, dass er Präsident wird, ein anderes Gewicht. Glaubst du, dass sich dadurch etwas ändern kann?
Nein, ich teile nicht die Vorstellung, dass Mileis Wähler*innen nicht wissen, wer dieser Mann ist, und es jetzt erst herausfinden. Das würde bedeuten, dass man diese Wählerschaft unterschätzt. Ich denke, es gibt sehr unterschiedliche Sektoren, die sich entschieden haben, für Milei zu stimmen, es gibt einen kleineren Sektor, der wirklich an die österreichische Denkschule und die absolute Liberalisierung glaubt, den kann man sicher nicht bekehren. Und dann gibt es noch etwas viel größeres, nämlich das weit verbreitete tiefe Unbehagen, gepaart mit Wut und Müdigkeit. Ich glaube nicht, dass dieser Sektor sich wirklich an der Frage orientiert, was praktikabel ist, sondern ihnen geht es vor allem darum, einen radikalen Schritt zu tun und „den Laden hochgehen zu lassen“.
Du sagst, die progressiven Ansätze hätten sich weltweit in konservative verkehrt, was meinst du damit?
Das soll eigentlich heißen, dass der progressive Sektor schon seit etlichen Jahren keine grundlegenden sozialen Veränderungen mehr verspricht geschweige denn auf den Weg bringt. Die progressive Politik beschränkt sich heute darauf, alles möglichst so zu belassen, wie es ist, um Schlimmeres zu vermeiden. Sie propagiert das geringere Übel, mehr nicht, und damit kann man niemanden begeistern. Das ist eine besorgniserregende Tendenz, die sich in der Wahlkampagne gezeigt hat, und die sehen wir auch jetzt, denn Milei setzt schon darauf, die Leute zu begeistern. Da kommt weder der Peronist Massa noch Patricia Bullrich, die Kandidatin des Oppositionsbündnisses, mit. Statt die Leute zu begeistern, argumentieren sie lediglich damit, dass unter Milei alles noch schlimmer wird, und das wars. Dieses Phänomen haben wir in Argentinien, aber wir erleben das Gleiche mit Macron in Frankreich und mit den Sozialisten in Spanien. Es wird nicht einmal angedeutet, dass die Möglichkeit einer Verbesserung besteht. Alle politischen Äußerungen, die mit Veränderung, Transformation, mit Rebellion zu tun haben, stammen von der neofaschistischen Rechten. Sie schlägt vor, die Dinge zu ändern, und die progressiven Kräfte wollen die Dinge so lassen, wie wie sie sind. Es scheint also eine Umwälzung auf beiden Seiten stattgefunden zu haben, die viel über die aktuelle Situation aussagt. Ist die Lage miserabel, wird der Vorschlag, die Dinge so zu lassen, wie sie sind, kaum viele Anhänger*innen finden, höchstens unter denen, denen es nicht so schlecht geht. Diesen Reflex kannst du auf regionaler und internationaler Ebene beobachten.
Du beschreibst die progressive Politik als allmächtig in dem Sinne, dass sie alle Antworten kennt, nicht empfänglich ist für Kritik und nicht unbedingt bereit, hinter die Kulissen zu blicken.
Ja, ich weiß nicht, ob ich wirklich allmächtig sagen würde, denn das ist eigentlich was anderes, und wenn es dem progressiven Spektrum an etwas fehlt, dann ist es Macht. Vielleicht passt „allwissend“ besser: Sie treten immer so auf, als hätten sie alle Antworten parat, aber es sind eher Floskeln als Ideen für Veränderungen. Wir wissen also schon mal, wer die Guten sind und wer die Bösen, was man sagen kann und was nicht, wie man reden kann und wie nicht, aber das führt keine Veränderungen herbei: Niemand wird dadurch eine wirkliche Veränderung in seinem Leben spüren. Gleichzeitig ist es aber fast unmöglich geworden, irgendeine Kritik an diesen Floskeln anzubringen. Ruckzuck sehen sie in dir einen Agenten des Kolonialismus oder des Patriarchats oder einen Unterstützer der Rechten. Und dadurch, dass es quasi tabu ist, etwas in Frage zu stellen, verliert diese Politik ihre Kraft, sie wird völlig machtlos und handlungsunfähig. Die neue Rechte hingegen macht das eiskalt: Sie stellt einfach jeden politischen Konsens in Frage. Und obwohl ich es schrecklich finde, wenn zum Beispiel der demokratische Konsens der Postdiktatur in Frage gestellt wird, liegt es trotzdem auf der Hand, dass es nicht reicht zu sagen: „Das tut man nicht.“ Sondern man muss in der Lage sein zu erklären, warum die Demokratie wichtig ist, warum sie Probleme nicht gelöst oder viele ihrer Versprechen nicht eingehalten hat und wieso das aber noch klappen kann. Wenn diese Fragen keinen Raum bekommen, überlässt man dem Neofaschismus das Feld, und es ist sehr wahrscheinlich, dass er die jungen Menschen erreicht, denn sie sind diejenigen, die immer hinterfragen, kritisieren, neue Fragen haben und neue Antworten wollen.
Wie ist es zu erklären, dass ausgerechnet in Argentinien, das weltweit als Referenz in Sachen Menschenrechte gilt, nun eine neue Version der Theorie der zwei Dämonen wieder im Gespräch ist?
Ich habe 2018 ein Buch mit dem Titel Los dos demonios (recargados) veröffentlicht, darin ging es um Prozesse, die schon etwa seit fünf oder sechs Jahren im Gange waren. Weil es in Argentinien in den letzten 15 Jahren nicht möglich war, bestimmte Diskussionen im Kontext der Menschenrechte offen zu führen, konnte die Theorie der zwei Dämonen wieder an Boden gewinnen, diesmal allerdings in einer viel schlimmeren Version. Die Theorie der zwei Dämonen war ein Versuch, repressive Gewalt mit aufständischer Gewalt gleichzusetzen, indem man sie zwar verurteilte, ihre politische Dimension jedoch unter den Tisch fallen ließ.
Und die heutige Version?
Die heutige Version legt den Schwerpunkt nicht auf die repressive, sondern auf die aufständische Gewalt. Es geht also nicht mehr darum, die Diktaturverbrechen prinzipiell zu verurteilen, die Gewalt der Institutionen jedoch als Reaktion auf die aufständische Gewalt zu legitimieren. Heute geht es nur um die Gewalt des Widerstands, während die Rolle der Streit- und Sicherheitskräfte per se legitimiert werden soll. Das geht so schon seit zehn Jahren oder länger, und wir sind anscheinend nicht in vollem Umfang in der Lage zu erkennen oder zu verstehen, was das bedeutet, und daher können wir auch nicht adäquat reagieren. Wir antworten jetzt mit einem Diskurs, der sich auf die ursprüngliche Version der beiden Dämonen bezieht, obwohl die Debatte inzwischen eine andere sein müsste. Ich habe den Eindruck, dass der argentinische Menschenrechtsdiskurs im Allgemeinen diese Probleme nicht anspricht und versucht, die Diskussion zu verhindern, statt darüber nachzudenken, was man dagegen tun kann. Zum Beispiel ist ein gesetzliches Leugnungsverbot kontraproduktiv, denn wenn ein Statement mit einem Verbot belegt ist, wird es ja nur noch interessanter. Wenn es zwei Lesarten gibt, und eine wird verboten – dann ist es doch klar, dass die jungen Leute dahinter den höheren Wahrheitsgehalt vermuten werden.
Der Kirchnerismo hat die Menschenrechtsaktivist*innen von der Straße geholt und in die Institutionen eingebunden. Würdest du sagen, dass dadurch etwas Wichtiges verlorengegangen ist?
Ja, ich denke, dass dies etwas Grundlegendes ist, aber ich würde es nicht so ausdrücken. Ich glaube nicht, dass der Kirchnerismo die Militanz von der Straße genommen hat, sondern dass es vor allem eine Entscheidung der Organisationen war, in die Institutionen zu gehen, statt weiter auf der Straße aktiv zu sein und den Staat zu kritisieren, was ja die Rolle einer Menschenrechtsorganisation ist. So ein Prozess hat stattgefunden, ja, aber ich würde mich nicht so sehr darauf konzentrieren, was die Regierung getan oder nicht getan hat, sondern eher darauf, was die Organisationen getan haben. Alle Errungenschaften im Kontext der kollektiven Erinnerung in Argentinien hatten mit dem Verständnis zu tun, dass die Erinnerung von unten nach oben aufgebaut wird, während die staatliche Institutionalisierung der Überzeugung ist, dass die Erinnerung von oben nach unten aufgebaut wird, und wenn sie von oben nach unten aufgebaut wird, fehlt ihr die Unterstützung, und das wiederum öffnet die Tür für das Entstehen rechter Gegenhegemonien, die von unten nach oben aufgebaut werden. Ich würde sagen, dass bei den Volkssektoren eine Aushöhlung und ein Machtverlust in Bezug auf den Streit um die Erinnerung stattgefunden hat.
Der Anthropologe Pablo Semán warnt, dass die Idee des Staates in der Krise steckt, was mehr wäre als eine Krise des Kirchnerismo. Im Aufstieg der autoritären Kandidat*innen zeige sich die Krise der Demokratie, die Krise des Parteiensystems und eine Krise des Staates, denn der Staat habe objektiv immer weniger Platz im gesellschaftlichen Leben und damit auch immer weniger Regulierungsgewalt.
Dem stimme ich voll und ganz zu, und ich glaube, dass dies nicht nur den Kirchnerismo betrifft, sondern viele andere Kräfte in Argentinien und in anderen Ländern. Diese Aushöhlung, dieser Bedeutungsverlust des Staates hat mit der Politik der Anpassung zu tun, aber auch mit etwas, das ich als Scheingleichheit bezeichnen würde. Zum Beispiel: Indem wir Ungleichheiten in der Sprache vermeiden, tun wir so, als hätten wir damit die reale gesellschaftliche Ungleichheit überwunden. Ich habe den Eindruck, dass dies zu einer Aushöhlung der Rolle des Staates führt und dass angesichts des schwachen und schlecht funktionierenden Staats der Ruf nach seiner Abschaffung noch mehr Gehör findet. Wir haben also ein System, das sich in einem tiefgreifenden Verfall befindet. Und wenn man jetzt sagt: „Das Recht auf staatliche Gesundheitsfürsorge muss verteidigt werden“, werden vermutlich viele fragen: „Welches Recht?“ Was ist die konkrete Gesundheitsfürsorge, abgesehen von der Hingabe und dem Engagement vieler Gesundheitsfachkräfte, die zerstörte Infrastruktur, das kaputte System, der Mangel an Versorgung? In der Bildung passiert genau dasselbem und auch in der Sicherheitspolitik, die das Leben der Menschen in den Armenvierteln schützen und helfen soll, die Sektoren mit der größten Kaufkraft zu besteuern. Ich glaube, der Staat hat selbst auf die Ausübung seiner Macht verzichtet. Dadurch ist er in eine Krise geraten, und genau da tauchen dann diese Positionen auf, die den Zerstörungsprozess ernsthaft vorantreiben wollen. Deshalb ist es so problematisch, darauf zu setzen, dass die drohende Beschneidung von Rechten einer breiten Bevölkerungsschicht zum Widerspruch führt. Doe große Welle der Entrüstung wird sicher ausbleiben, denn viel wahrscheinlicher ist es, dass die Menschen fragen: „Von welchen Rechten sprecht ihr überhaupt?“ Der Verlust an Rechten ist bereits seit Jahren Realität. Folglich geht es in der öffentlichen Wahrnehmung weniger um drohende Zerstörung als darum, dass die Dinge nun beim Namen genannt werden.
Übersetzung: Lui Lüdicke
Dieser Beitrag erschien am 29.09.2023 auf npla.de, lizensiert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international. Originalartikel: elsaltodiario.com
Titelbild: Der argentinische Soziologe Daniel Feierstein warnt schon länger vor dem Aufstieg der extremen Rechten. Foto: Jnesprias, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons