Sitzt du noch oder wohnst du schon?
Gefängnisse erfüllen ihren Zweck nicht, sagen Helene De Vos und Veronique Aicha. Sie wollen, dass straffällig gewordene Menschen in betreuten Wohnhäusern unterkommen.
Interview: Lena Bäunker (fluter.)
fluter.de: Ihr setzt euch dafür ein, dass straffällig gewordene Menschen nicht in Gefängnissen, sondern in betreuten Wohnhäusern untergebracht werden. Wie kann ich mir diese Häuser vorstellen?
Helene De Vos: Betreute Wohnhäuser beruhen auf drei Prinzipien: Erstens, es gibt sie nur im Kleinformat, das heißt, in jedem Haus wohnen nur acht bis 25 Personen. Zweitens sind sie differenziert, das heißt, sie haben unterschiedliche Sicherheits- und Betreuungsstufen und Bildungs- und Arbeitsangebote. Dadurch können Menschen so untergebracht werden, wie es ihren Bedürfnissen und Straftaten entspricht. Drittens sind betreute Wohnhäuser in ihrem Viertel integriert. Je nach Gerichtsurteil dürfen Bewohner*innen im Supermarkt um die Ecke einkaufen gehen, den Sportplatz besuchen oder eine Ausbildung machen. Gleichzeitig geben sie etwas an die Gemeinschaft zurück: Sie betreiben Reparaturwerkstätten, Cafés oder Gemeinschaftsgärten.
RESCALED ist eine Organisation, die sich dafür einsetzt, dass Gefängnisse durch betreute Wohnhäuser („small-scale detention houses“) ersetzt werden. Konkret setzt sich RESCALED aus Partnerorganisationen in verschiedenen Ländern zusammen, darunter NGOs, Universitäten und Agenturen. Sie finanziert sich durch Mittel der Europäischen Kommission, Erasmus Plus sowie durch private Mittel.
Gibt es Straftaten wie Gewalt- oder Sexualdelikte, die zu einem Ausschluss von diesem System führen?
Veronique Aicha: Nein. Allerdings, wie gesagt: Die Häuser sind an die Bedürfnisse der Menschen angepasst, die dort leben. Sie befinden sich auch an unterschiedlichen Standorten in ihren Gemeinden.
Für Straftaten verurteilte Menschen, die einem einen Kaffee servieren: Viele können sich das vermutlich nicht vorstellen.
De Vos: Das liegt vor allem daran, dass unsere Vorstellung von inhaftierten Menschen von amerikanischen Filmen und Darstellungen prominenter Fälle aus den Medien geprägt ist. Wir überschätzen daher, wie viele Sicherheitsmaßnahmen für Menschen, die eine Straftat begangen haben, wirklich notwendig sind. Zahlreiche Beispiele aus bereits existierenden Wohnhäusern belegen, dass gewisse Freiräume Menschen darin unterstützen, Verantwortung zu übernehmen und ihr Leben zu verändern.
Aicha: Zudem haben wir gelernt zu glauben, dass Gefängnisstrafen zu Gerechtigkeit führen. Das ist eine sehr bequeme Vorstellung. Hinter Mauern sehen wir das Problem nicht mehr und denken, dass es gelöst ist. Doch so einfach ist das nicht.
„Gefängnisse brechen deine Autonomie. Und sobald du entlassen wirst, wird von dir erwartet, dass du dein Leben komplett selbst in die Hand nimmst“
Warum nicht?
De Vos: Gesellschaftliche Erwartungen an Gefängnisse entsprechen nicht der Realität. Wir erwarten, dass Menschen sich in Gefängnissen positiv verändern, Opfer entschädigen, einen Job aufnehmen, ihre Verantwortungen als Eltern oder Partner*innen wahrnehmen und sich resozialisieren. Doch in der Realität gibt es in Gefängnissen viele Spannungen, Gewalt und Drogen. In solch einem Klima können Menschen sich nicht auf die Zukunft und Wiedergutmachung konzentrieren. Sie konzentrieren sich stattdessen darauf, dieses Klima zu überleben.
Aicha: Gefängnisse brechen deine Autonomie. Du darfst oft nicht kochen, nicht entscheiden, welche Arbeit du verrichten willst. Gleichzeitig wirst du von der Gesellschaft isoliert, bist auf dich allein gestellt. Und sobald du aus dem Gefängnis entlassen wirst, wird von dir erwartet, dass du dein Leben komplett selbst in die Hand nimmst. Das funktioniert nicht. Wenn wir wollen, dass Menschen ihren Platz in der Gesellschaft wiederfinden, müssen wir sie dazu befähigen und nicht nur bestrafen.
Helene De Vos ist Geschäftsführerin von RESCALED, Veronique Aicha ist Leiterin der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit und soziale Auswirkungen sowie der niederländischen Fraktion von RESCALED.
Inwiefern werden Menschen in betreuten Wohnhäusern dazu befähigt?
Aicha: In großen Gefängnissen gelten Menschen als Akten mit Problemen. Es ist einfach, Akten wegzusperren. Doch in betreuten Wohnhäusern nehmen wir sie als Menschen mit Namen, mit Gesichtern, Familien und Geschichten wahr. Der Umgang miteinander ist viel persönlicher.
De Vos: Statt nur zu bestrafen und zu isolieren, befähigen wir Bewohner*innen, eine Rolle in der Gesellschaft zu übernehmen. Sie arbeiten gemeinsam mit Sozialarbeiter*innen daran, ein Netzwerk aufzubauen, Kontakt zu ihrer Familie wiederherzustellen oder Arbeit zu finden.
„Man geht davon aus, dass die Rückfallquoten in kleinen Haftanstalten niedriger sind, was jedoch auch darauf zurückzuführen ist, dass die Bewohner*innen oft hochmotiviert sind“
Gefängnisse haben oft hohe Rückfallquoten. Ob diese in betreuten Wohnhäusern geringer sind, ist nicht klar. Vergleichende Studien gibt es nur wenige, und wenn es sie gibt, sind die Ergebnisse oft nicht aussagekräftig. Woran liegt das?
De Vos: Im Allgemeinen geht man davon aus, dass die Rückfallquoten in den derzeitigen kleinen Haftanstalten niedriger sind, was jedoch zum Teil darauf zurückzuführen ist, dass die Bewohner*innen in der Regel hochmotiviert sind. Rückfälligkeit kann daher nicht als fairer Maßstab für einen Vergleich zwischen den derzeitigen kleinen Hafteinrichtungen und den Gefängnissen herangezogen werden.
Aktuell seid ihr in neun Ländern aktiv. Wo sind betreute Wohnhäuser bereits in Betrieb?
De Vos: Wir haben gerade eine Bestandsaufnahme in allen europäischen Ländern durchgeführt und in fast jedem Land Beispiele gefunden. Sie sind die Ausnahme, doch sie existieren. Ein schönes Beispiel kommt aus Schottland. Hier gibt es sogenannte „Community Custody Units“, die speziell für Frauen konzipiert sind. Sie gehen von der Beobachtung aus, dass viele Frauen im Gefängnis traumatisiert sind und dass sie einen sicheren Raum brauchen, um an sich arbeiten zu können.
Aicha: Auch in den Niederlanden, wo ich unter anderem arbeite, gibt es bereits einige betreute Wohnhäuser. Häuser für Jugendliche werden vom Justizministerium betrieben; die für Erwachsene meist von NGOs in Zusammenarbeit mit dem Ministerium. Hier kommen Menschen unter, die ihre Haftstrafe bereits abgesessen haben oder kurz davor sind, diese zu beenden.
Ihr betreibt also selbst keine betreuten Wohnhäuser, sondern übernehmt welche Aufgabe?
Aicha: Betreiber*innen von betreuten Wohnhäusern berichten uns oft davon, wie aufwendig ihre Arbeit ist. Sie fokussieren sich daher oft nur auf ein Haus und weiten ihre Arbeit lange Zeit aus. Hier setzen wir an: Wir verbinden existierende Initiativen miteinander, damit sie voneinander lernen können, und unterstützen sie mit politischer Arbeit. Unser Ziel ist es, dass betreute Wohnhäuser die Norm werden.
„Gibt es in einer Stadt eine hohe Suchtrate, schlagen wir vor, Wohnhäuser zu errichten, die auf passende Therapien spezialisiert sind“
Wie soll dieses Ziel in den Niederlanden erreicht werden?
Aicha: Derzeit formen wir in großen Städten Gemeinschaften aus Wissenschaftler*innen, politischen Entscheidungsträger*innen, Künstler*innen, Leuten aus der Stadtverwaltung und Betreiber*innen bereits existierender Wohnhäuser. Gemeinsam erforschen wir, wie betreute Wohnhäuser in den jeweiligen Städten großflächig umgesetzt werden können. Wir schauen uns also zum Beispiel die Geschichte und Demografie der Städte an und formulieren darauf basierend Vorschläge. Gibt es in einer Stadt eine hohe Suchtrate, schlagen wir vor, Wohnhäuser zu errichten, die auf passende Therapien spezialisiert sind. Unsere Vorschläge teilen wir gezielt mit den örtlichen Regierungen. Dann liegt es an den Politiker*innen und lokalen Gemeinschaften zu entscheiden, ob ein betreutes Wohnhaus errichtet wird, wie viel Geld es bekommt und welche Form es annimmt.
Wie reagiert die Politik auf eure Vorschläge?
Aicha: Das ist ganz unterschiedlich. Oft schrecken Politiker*innen vor Fragen wie jener nach der Finanzierung zurück. Es kostet natürlich Geld, betreute Wohnhäuser zu errichten und zu unterhalten – und in große Gefängnisgebäude wurde schon viel investiert. Gefängnispersonal müsste auch umgeschult werden, wenn wir zu betreuten Wohnhäusern wechseln. Allein in den Niederlanden wären das mehr als 15.000 Personen. All das sind Herausforderungen, doch sie lassen sich bewältigen.
De Vos: Wir arbeiten aber nicht nur auf lokaler und nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene. 2024 tun wir uns mit der belgischen Ratspräsidentschaft im Rat der Europäischen Union zusammen, um Empfehlungen für betreute Wohnhäuser zu entwickeln. Wir wollen erreichen, dass europäische Institutionen konkrete Maßnahmen einleiten, etwa in die Forschung und Pilotprojekte investieren oder lokale Initiativen unterstützen.
Welche Voraussetzungen muss ein Justizsystem überhaupt erfüllen, damit betreute Wohnhäuser möglich sind?
Aicha: Wir sollten die Verantwortung dafür, wie wir mit Kriminalität umgehen, nicht nur auf die Schultern des Justizministeriums legen. Andere Ministerien – zum Beispiel die für Gesundheit und Wohnen – sind mitverantwortlich, denn ihre Belange sind miteinander verknüpft.
De Vos: Am besten funktionieren betreute Wohnhäuser daher in Gesellschaften mit starken Sozialwesen. Hier sind die Sozialversicherung, das Bildungswesen und die Gesundheitsversorgung am besten entwickelt und stehen so auch Menschen in betreuten Wohnhäusern zur Verfügung.
Veronique Aicha hat Sozialpsychologie studiert. Sie arbeitete für die Menschenrechtsorganisation Netherlands Helsinki Committee in Ländern wie Albanien und Kosovo und führte mehrere Jahre lang philosophische Gespräche in niederländischen Gefängnissen. Derzeit ist sie Leiterin der Abteilung für gesellschaftliche Auswirkungen und Öffentlichkeitsarbeit bei RESCALED Europe und Programmmanagerin bei der NGO Restorative Justice Netherlands. Außerdem schreibt sie Buchrezensionen für Bazarow, ist Mitglied des Vorstands der Youth Courts Foundation und arbeitet an einem Buch über zirkuläre Gerechtigkeit.
Nach ihrem Studium der Kriminologie arbeitete Helene De Vos als Gefängnisforscherin am Institut für Kriminologie der KU Leuven. Ihre Doktorarbeit beschäftigte sich mit der Normalisierung der Lebensbedingungen in belgischen und norwegischen Gefängnissen. Da sie viel Zeit in diesen Gefängnissen verbrachte, wuchs nicht nur ihr akademisches Interesse, sondern auch ihre Motivation, das Gefängnissystem zu verändern. Als Exekutivdirektorin ist sie für die Leitung des RESCALED-Teams, die Ausrichtung der organisatorischen Strategien und die Koordinierung der Aktivitäten der europäischen und nationalen RESCALED-Büros verantwortlich.
Dieser Text wurde am 01.09.2023 auf fluter.de unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den Nutzer*innen eine nicht-kommerzielle Weiterverwendung unter Namensnennung des*der Urheber*in sowie ohne Bearbeitung.