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Der ausgehungerte Staat – Übernahme des Öffentlichen durch die Hintertür

Verwaltungsabbau und „Sparen im System“ waren politisches Versprechen und ideologisches Mantra der letzten Jahrzehnte. Der schlanke Staat, welcher den Gürtel noch enger schnallen muss, so lange bis ihm die Luft wegbleibt. Doch in Zeiten der Vielfachkrisen – von Klima, wachsender Ungleichheit, Inflation und Krieg in Europa – sowie großen Veränderungen durch Digitalisierung und künstliche Intelligenz wird deutlich, dass der Staat bzw. der öffentliche Sektor auch in Zukunft eine große und auch neue Rolle spielen muss, um diesen Krisen zu begegnen.

Von Michael Soder, Referent in der Abteilung Wirtschaftspolitik der AK Wien (A&W-Blog)

T.I.N.A und Ing. Breitfuss auf Abwegen

Ein Gedankenexperiment! Stellt man sich den Staat vor dem geistigen Auge vor, welche Begriffe schießen einem in den Kopf? Die Antworten werden oft lauten: behäbig, ineffizient, verschwenderisch, altmodisch, verstaubt. Im schlimmsten Fall sogar Politiker:innen, die zum eigenen Vorteil lügen, die Wahrheit verbiegen und andere Menschen zum eigenen Vorteil manipulieren. Vor dem geistigen Auge tauchen auch Ing. Breitfuss und Herr Weber, Mitarbeiter der MA 2412, auf. Ein karikierendes Bild des österreichischen Beamt:innentums. Fast jeder und jede von uns kennt das Bonmot des „Beamtenmikados“: Wer sich bewegt, verliert!

Diese Bilder, die beim Begriff „Staat“ fallen, sind das Resultat eines gekonnten politischen Framings der letzten Jahrzehnte. Es wird überspitzt, übertrieben und aufgeblasen und durch stetige Wiederholung schlussendlich als wahrgenommene „Tatsache“ etabliert. Das Ziel dieses Framings war ein politisches: den öffentlichen Sektor so klein wie möglich zu halten und den Markt als ungestörtes alleiniges Steuerinstrument zu verankern. Eine Gesellschaft gibt es schließlich nicht, nur das Individuum zählt und „there is no alternative“ (T.I.N.A) zu mehr Markt, argumentierte Margaret Thatcher. Kollektive Steuerung und Gestaltung führt in die Knechtschaft, so Hayek. Also muss gespart werden. Der Staat muss schrumpfen, seinen Einfluss zurückziehen und sich auf das wesentliche beschränken: Polizei und Militär zur Aufrechterhaltung der inneren und äußeren Sicherheit und vor allem zum Schutz von Eigentumsrechten. In banalisierten Grundzügen beeinflusste dieses Gedankengebäude die Einstellungen zum öffentlichen Sektor und dem Staat. Der Staat als das Böse, welches es zu bekämpfen und einzuschränken gilt, um „Markt“ und „Wirtschaft“ endlich von den Ketten zu befreien und zu entfesseln.

Der Einzug der Berater:innen

Vor diesem Hintergrund etablierte sich das Mantra des „Sparens im System“ als politische Leitlinie und Ausflucht in Finanzierungsfragen. Viele Staaten oder auch ausgegliederte Einheiten haben vor dem Hintergrund aufgehört in die Fähigkeiten, Kompetenzen und Kapazitäten ihres Personals zu investieren. Auf die wachsenden und immer komplexer werdenden Aufgaben, vor die uns die großen Krisen unserer Zeit stellen, wurde in den letzten Jahren und Jahrzehnten mit einem Kultivieren des Sparens reagiert. Das Schielen auf „Quick Wins“ und Symbolpolitik in einer kurzfristigen Ausrichtung der medialen Aufmerksamkeit gewann die Oberhand gegenüber Investitionen in die organisatorischen Kapazitäten der öffentlichen Verwaltung. Zwangsläufig führte dies dazu, dass Wissen, Fähigkeiten, Visionen im „System“ verloren gingen und Kompetenzen sich immer weiter verengt haben.

Um den Personalstand und die Personalkosten niedrig zu halten, wurden Stellen in der Verwaltung nicht nachbesetzt, eingespart und immer wieder Aufnahmestopps ausgerufen. Um die wachsenden Aufgaben des öffentlichen Sektors zu bewältigen, wurde und wird daher vermehrt auf den Zukauf von Kompetenzen gesetzt. Denn wenn die Auslastung hoch und das Wissen und die Fähigkeiten verloren gegangen sind, muss es von außen zugekauft werden. Das Schöne daran: Diese Zukäufe sind punktuelle Sachausgaben und zählen nicht zu den dauerhaften Personalkosten der öffentlichen Verwaltung. Und damit kam es zum Einzug der Beratungsagenturen in die öffentliche Verwaltung.

Vom hohlen Staat …

In das Vakuum traten in den letzten Jahrzehnten immer mehr große Beratungsfirmen, welche ihre Angebote in Strategieentwicklung, Change-Management und Organisationsentwicklung immer stärker öffentlichen Stellen zutrugen. Mariana Mazzucato und Rosie Collington beschreiben in ihren Arbeiten die Auswirkungen dieser Praktiken. Unter dem Primat des „Sparens im System“ werden immer mehr Dienstleistungen, die vormals direkt in den öffentlichen Einrichtungen selbst erarbeitet wurden, ausgelagert und Change-Management-Prozesse aus einer privatwirtschaftlichen Logik heraus auf öffentliche Einrichtungen umgelegt. Beispielhaft war die Ausrollung der Testinfrastruktur in Reaktion auf Covid-19 in Großbritannien. Man ging davon aus, dass jegliches Wissen extern auf dem Markt einfach zugekauft werden kann, wenn benötigt. Frischgebackene Berater:innen aus großen Firmen strömten aus, um das „Projekt“ der Ausrollung aufzusetzen. Allerdings fehlte ihnen das interne Organisationswissen. Ihre präsentierten Lösungen waren erstaunlich einfach, oft zu einfache Blaupausen, die sich in der Praxis nicht auf jegliche Organisationsstruktur und Aufgabe übertragen ließen. Die Konsequenzen einer solchen Vorgangsweise sind teure Berater:innenverträge mit oft ineffizienten oder nicht praktikablen Umsetzungen – also enorme zusätzliche Kosten oder/und eine Reduktion der Qualität von Dienstleistungen.

Noch absurder wird es, wenn Regierungen beginnen, ihre eigene politische Strategieentwicklung – den politischen Prozess der Entwicklung von Strategien – an externe Beraterfirmen auszulagern. Das erzeugt einerseits einen Interessenkonflikt bei den Berater:innen zwischen der Entwicklung einer gemeinwirtschaftlichen Vision und Strategie und den Zielen ihrer anderen privaten Klient:innen und gibt damit andererseits auch eine der wesentlichen Aufgaben der politischen Steuerung aus der Hand. Es werden riesige Prozesse mit großen Ankündigungen, beeindruckenden Präsentationen und modernen, aber oft hohlen Phrasen teuer aufgesetzt. Ein aktuelles Beispiel dafür aus Österreich ist die Standortstrategie 2040 („Chancenreich Österreich“) von BMin Margarete Schramböck, welche als politisch gescheitert bezeichnet werden kann. Die Konsequenz daraus ist, dass Österreich seit vielen Jahren und bis heute keine Industrie- und Standortstrategie vorweisen kann und das Scheitern von „Chancenreich Österreich“ einen Rattenschwanz an parlamentarischen Anfragen ausgelöst hat, mit denen versucht wurde, den Kosten und den Verflechtungen zwischen Ministerien, politischer Arbeit und Beratungsagenturen nachzuspüren.

… zum unternehmerischen Staat

Die großen Herausforderungen unserer Zeit, wie Klimakrise, wachsende Ungleichheit, zunehmende geopolitische Spannungen, und die hohe Abhängigkeit Europas von Rohstoffen und Komponenten verlangen in der Reaktion darauf einen handlungswilligen und -fähigen Staat. Das Mantra des „Sparens im System“ führt hingegen mittel- bis langfristig zu einem Aushöhlen der Kompetenzen des öffentlichen Sektors und vermindert damit die Strategie- und Handlungskompetenz – in Krisen oder Phasen hoher Unsicherheit eine gefährliche Situation. Ein Aushöhlen der Fähigkeiten und Kompetenzen aufgrund eines falschen Verständnisses von Effizienz oder der Rolle des Staates in der Gesellschaft reduziert den politischen Handlungsspielraum. Schließlich ist es oftmals der Staat, der in Krisen als „Retter in letzter Not“ immer wieder auf den Plan gerufen wird. Die Finanz- und Wirtschaftskrise, aber auch (aktueller) die Covid-Pandemie und die Energiekrise sind dafür Musterbeispiele. Darüber hinaus kann der Staat, den Arbeiten von MazzucatoKattel, Drechsler und Karo zufolge, noch viel mehr leisten, wenn die Ideologie nicht im Weg steht und man ihn lässt. Er kann Märkte schaffen, Märkte gestalten und eine gesellschaftlich gewünschte Entwicklungsrichtung vorgeben. Er gewährleistet Sicherheit in Phasen großer Unsicherheit, auch auf ganz persönlicher Ebene über die Absicherung der großen Lebensrisiken wie Alter, Unfall, Arbeitslosigkeit und Krankheit. Er fördert Forschung und Innovation und er gewährleistet eine flächendeckende Versorgung in gesellschaftlich wichtigen Bereichen, wie z. B. Bildung, Gesundheit etc. Ja natürlich gibt es auch im Staat Ineffizienzen, falsche Planungen und auch Formen der Korruption. Der Staat unterscheidet sich dahingehend nicht von anderen großen Organisationen. Der große Unterschied liegt im öffentlichen Auftrag und seiner Organisationsform. Damit verbunden gibt es auch immer Verbesserungspotenziale. Jedoch sollte man nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, die Potenziale des Staates nicht vergessen und diese auch aktiv nutzen.


Gewinnspiel

Der A&W-Blog verlost drei Exemplare des Buches Die große Consulting-Show – Wie die Beratungsbranche unsere Unternehmen schwächt, den Staat unterwandert und die Wirtschaft vereinnahmt von Mariana Mazzucato, erschienen im Campus Verlag.

Um am Gewinnspiel teilzunehmen, sende einfach bis 18. August 2023 eine kurze E-Mail an blogaw@akwien.at.

Eine Barablöse ist nicht möglich. Die Gewinner:innen werden unter allen Teilnehmer:innen zufällig gezogen und schriftlich benachrichtigt.

Die Arbeiterkammer Wien verwendet übermittelte E-Mail-Adressen ausschließlich zur Durchführung des Gewinnspiels. Nach Durchführung des Gewinnspiels werden die E-Mail-Adressen gelöscht. Informationen über den Umgang der AK Wien mit deinen Daten und deine Rechte findest Du unter: https://wien.arbeiterkammer.at/datenschutz.html.


Titelbild: MustangJoe auf Pixabay 

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