„Schrödingers Grrrl“ – ein zeitgenössischer Geniestreich
Marlen Hobracks Debütroman „Schrödingers Grrrl“: Ein Buch, das man unbedingt haben will und dann nicht mehr aus der Hand legen kann. – Sonntag ist Büchertag
Von Sabrina Teifel
„Schrödingers Katze“ ist ein physikalische Gedankenexperiment des Österreichers Erwin Schrödinger, in dem – verkürzt gesagt – eine Katze in einer Box sitzt, in der sich sowohl Gift als auch ein radioaktiver Gegenstand befinden. Da man nicht in die Box hinein sieht, weiß man nicht, ob die Katze tot oder lebendig ist – quantenphysikalisch betrachtet ist sie beides zur gleichen Zeit. Spätestens seit dem Erfolg der Fernsehserie „The Big Bang Theory“ ist dieses Gedankenexperiment in der Breite der Masse angekommen, meistens in Form eher halbgarer Memes und Vergleiche. Marlen Hobrack jedoch hat entlang dieser Interpretation der Quantenphysik einen wirklich brillant durchdachten Debütroman geliefert, der der Genialität von Erwin Schrödinger in nichts nachsteht.
Die Protagonistin in „Schrödingers Grrrl“ ist zwar keine Katze und sie ist zumindest im biologischen Sinne definitiv nicht tot, aber manchmal wäre sie es gerne. Außerdem ist das Leben der 23 jährigen Mara eher „out of the box“, auch wenn es sich für die junge Schulabgängerin oft anfühlt, wie eine kleine, zu enge Schachtel.
Was sie trotzdem auf den unterschiedlichsten Ebenen zu „Schrödingers Grrrl“ macht, erzählt Marlen Hobrack in ihrem zeitgenössischen „coming of age“-Roman.
Einmal in die Box und zurück
Mara Wolf lebt ihr Leben ohne Plan, ohne Ziel und ohne Motivation. Dafür mit Katze und einem größer werdenden Häufchen Schulden, das ihre Lieblingsbeschäftigung ihr einbrockt – neue Klamotten und neues Make Up kaufen, Fotos schießen, auf Instagram posten und sehnsüchtig auf die erhoffte Anerkennung in Form von Likes und Komplimenten in den Kommentarspalten warten. Und wehe, die kommen nicht. Schöne, heile Glitzerwelt in den sozialen Medien, im realen Leben arbeitslos, depressiv und isoliert. Mara geht es nicht gut. Es geht ihr sogar so schlecht, dass sie unfähig ist, ihren Alltag alleine zu bewältigen – nicht mal dann, wenn es darum geht, den fortlaufenden Hartz IV Bezug sicherzustellen.
Als sie den PR-Agenten Hanno kennenlernt und sich schließlich auf dessen Angebot einlässt, sich als Autorin eines Buches auszugeben, das in Wahrheit ein „alter weißer Mann“ geschrieben hat, ändert sich ihr Leben rasant. Plötzlich steht sie im Mittelpunkt und vor allem in aller Öffentlichkeit. Mara liest vor fremden Menschen, beantwortet die Fragen Zuschauer•innen und gibt Interviews, im Radio, im TV und live auf der Bühne. Endlich bekommt sie die Aufmerksamkeit, die sie sich so sehr wünscht, jedoch für das Werk eines anderen. Abseits des Rampenlichtes bleibt ihr eigenes, persönliches Leben ein Chaos voller unerfüllter Sehnsüchte, nach den Auftritten bleibt oft nur tiefe Leere.
Auf der Suche nach dem, was richtig ist, was sich richtig anfühlt oder sich zumindest richtig anzufühlen scheint, wird die Protagonistin mehr und mehr zu „Schrödingers Grrrl“ – wer ist sie wirklich? Wer ist sie, wenn niemand hinsieht? Ist sie die, die sie vorgibt zu sein? Ist sie alle Persönlichkeiten gleichzeitig, die sie darzustellen versucht oder ist sie am Ende doch einfach nur ein Niemand?
Ein Debüt, wie es fulminanter kaum sein könnte
Der Titel und die krachende Covergestaltung sorgen dafür, dass man „Schrödingers Grrrl“ unbedingt haben will. Marlen Hobracks Schreibstil sorgt dafür, dass man es nicht mehr aus der Hand legen möchte. Vom Einstieg in Maras Leben ausgehend entwickelt die Autorin nach und nach mehrere Erzählstränge, die einen jeweiligen Abschnitt aus dem Leben der Protagonistin verfolgen. M. Hobrack erzählt in einem angenehmen Fluss, der die Leser•innen förmlich einlullt – jedoch ohne zu langweilen, auch wenn „Schrödingers Grrrl“ kein Action-Roman ist. Die eigentlichen Dramen finden nicht in der äußeren Handlung, sondern im Inneren statt. In Maras Gefühlswelt.
Jeder Erzählstrang, jeder Aspekt in M. Wolfs Leben katapultiert sie und die Leser•innen in eine andere Stimmung, in der andere Emotionen vorherrschen, die die Autorin jedes Mal mehr unaufgeregt als dramatisch beschreibt. Dabei ist M. Hobrack keineswegs kühl, sondern trägt mit dieser Art der Schilderung dazu bei, dass die Leser•innen Maras Hochs und Tiefs ganz urteilsfrei miterleben können.
Die Autorin schafft für die Leser•innen einen Blick hinter die Kulissen eines Instagram-Accounts, öffnet quasi ein Medienfenster in das persönliche, intime Leben der M. Wolf und trifft damit ins Schwarze: Ganz egal, ob einem die Figur Mara Wolf auf die Nerven geht, man sich über sie amüsiert oder ob man sie einfach nur mal in den Arm nehmen möchte, man will auf jeden Fall wissen, wie es mit ihr weiter geht.
Eine neue Generation zeitgenössische Literatur
Ich lese die meisten Bücher ohne im Vorfeld irgendwelche Infos über die Autor•innen einzuholen. Bei „Schrödingers Grrrl“ jedoch musste ich nach ungefähr 30 Seiten genauer hinschauen. Ich musste einfach wissen, wann Marlen Hobrack geboren wurde und meine Ahnung bestätigte sich: Wir sind in etwa im selben Alter. Auch, wenn die Protagonistin Mara Wolf ihre frühen Zwanziger in einer völlig anderen Zeit durchlebt, als die Autorin (und ich) das taten, schafft es M. Hobrack die Emotionen und den Flair von damals in diese heutige Zeit zu übertragen. Die dafür nötige Empathie und Reflexion verlangen eine gewisse Lebenserfahrung, vielleicht sogar Dinge, wie sie bisher nur diese Generation erlebt und gelernt hat. Ein „coming of age“ nicht nur für die Protagonistin.
Manche mögen die Figuren in Marlen Hobracks Roman für überzeichnete Stereotypen oder, schlimmer noch, für platte Klischees halten. Und ja, sie mögen klischeehaft sein, aber das hat die Autorin gewiss nicht unabsichtlich so gestaltet. Vor allem aber sind sie keineswegs realitätsfern, jeder einzelne hier verarbeitete Aspekt ist durchaus für mehr Menschen als man glauben mag Lebensrealität. Wer das Gegenteil behauptet, bewegt sich meiner Meinung nach auf klassistischem Boden und das aus einer sehr privilegierten Perspektive. Für eine ähnliche Gesellschaftskritik nutzt die Autorin genau diese, für manch eine•n vielleicht stellenweise überzeichnet wirkenden, Figuren.
Da man sich als Leser•in schon das ganze Buch über die Frage gestellt hat, ob man eine Autofiktion in den Händen hält, bleibt einem am Schluss kaum was anderes übrig, als sich zu fragen, ob man das Werk von Marlen Hobrack oder das eines alten weißen Mannes in den Händen hält, der über eine junge Frau geschrieben hat, die sich als Autorin eines Buches ausgibt, das ein alter weißer Mann geschrieben hat.
Selten habe ich einen so sorgfältig und präzise, wirklich von allen Seiten durchdachten Roman in den Händen gehalten.
Marlen Hobrack: „Schrödingers Grrrl “ (2023)
Verlag: Verbrecher Verlag
Seitenzahl: 270
Kaufpreis: 24,00 Euro, selbstgekauft
Titelbild: Sabina Sturzu auf Unsplash
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