Erfahrungsberichte der Selbstorganisation
Ständig beziehen sich alle auf die Arbeiter*innenklasse. Doch warum redet niemand mit ihr? Ein Kollektiv geht von der Praxis in die Theorie. – Sonntag ist Büchertag
Von Yannick Stein (kritisch-lesen.de)
Man kennt das Problem: Im Plenum sieht man stets die gleichen Gesichter und die Diskussionen in der eigenen Wohlfühlblase drehen sich im Kreis. Selbstverständlich reflektiert man sich und seine eigene Rolle kritisch. Das Hauptproblem ändert sich aber nicht: Die akademisch geprägte Linke ist konstant mit defensiven Kämpfen beschäftigt. Hier gegen einen drohenden Naziaufmarsch, dort gegen das umweltschädliche Bauprojekt. Man ist immer nur reaktiv, hat kaum gesellschaftliche Verankerung im Alltag und keine langfristige Strategie, weil man lieber seinen unverständlich komplizierten theoretischen Unterbau hegt und pflegt. Wie soll man der Masse das bessere Leben näherbringen, wenn diese sich nicht damit beschäftigt?
Um das zu ändern, sind die Mitglieder des Londoner Kollektivs AngryWorkers aus ihrem Viertel weggezogen und haben mehrere Jahre im Billiglohnsektor im Westen Londons gearbeitet. Genau dort liegt ein Zentrum für Warenproduktion und Logistik. Die Erfahrungen, die sie über mehrere Jahre in den unterschiedlichsten Betrieben und Sektoren gesammelt haben und ihre daraus abgeleiteten Thesen präsentieren sie in „Class Power! Über Produktion und Aufstand“. Trotz zunehmender Modernisierung und Automatisierung gibt es immer noch prekäre Arbeiter:innen. Sie wurden lediglich an den Rand der Stadt gedrängt und dadurch unsichtbar gemacht. Viele der Arbeiter:innen sind Ungelernte, das Viertel ist geprägt von Migration, Zeitarbeit und Mindestlohn. Es herrscht wenig Arbeitslosigkeit, weil „irgendeinen Scheißjob gibt es immer“ (S. 47).
Den AngryWorkers geht es keinesfalls darum, als Prediger:innen die Massen zu erreichen und ihnen von oben herab die Welt zu erklären. Es soll ein Austausch in Gang gebracht werden. Nach einem harten Arbeitstag ist für die Meisten die Hemmschwelle zu groß, sich noch mit linker Theorie auseinanderzusetzen. Stattdessen geht man den umgekehrten Weg: zuerst die Praxis, dann die Theorie. Erst wenn sich hier Erfolge zeigen, kann darauf aufgebaut werden. Durch eigene Arbeitskämpfe sollen Arbeiter:innen die Vorteile der Selbstorganisation erfahren.
Gebt der Meute, was sie braucht
Dafür hat das Kollektiv verschiedene Wege eingeschlagen. Vor mehreren Werkstoren wurde gratis die selbst herausgebrachte Zeitung verteilt, um mit den Angestellten ins Gespräch zu kommen. Diskussionsabende wurden nicht mehr im linken Zentrum veranstaltet, sondern man lud (mit großem Erfolg) zu einem Austausch im McDonalds ein. Es wurden Solidaritätsnetzwerke gebildet, die über Abteilungen und Werksgelände hinausgehen. Man führte Streiks oder Dienst nach Vorschrift durch, um den Arbeitgeber:innen zu zeigen, wer am längeren Hebel sitzt. Denn Bosse trifft man mit Protesten am Arbeitsplatz immer am härtesten. Hauptsächlich handelte es sich um informelle und direkte Aktionen, damit man sich mit bürokratischem Kram nicht selbst im Weg steht. Klar, Dienst nach Vorschrift klingt nicht nach revolutionärer Praxis, kann aber durchaus erfolgreiche Auswirkungen haben. Also, vergesst nutzlose Gewerkschaftskundgebungen mit Trillerpfeifen!
Teile des Kollektivs traten trotz ihrer Vorbehalte versuchsweise Gewerkschaften bei und arbeiteten sich an deren Struktur ab. Die englischen Gewerkschaften richten sich fast immer nur an bestimmte Berufsgruppen. Büroangestellte werden von einer anderen Gewerkschaft vertreten als Packer:innen im Lager oder LKW-Fahrer:innen. Auch wenn alle im gleichen Betrieb arbeiten und die gleichen Probleme haben, gibt es nicht die eine Organisation, die sich um Ihre kollektiven Belange kümmert. Wenn man nicht zur vordefinierten Berufsgruppe zählt, darf man von der Gewerkschaft auch keine Hilfe erwarten. Und leider sorgen Vertrauenspersonen der Gewerkschaft im Betrieb dafür, dass die Arbeiter:innen weiterhin passiv bleiben und die Auffassung bestätigen, dass es gewählte Personen geben sollte, die sich um bestimmte arbeitsrechtliche Themen kümmern und dass es ganz bestimmte Regeln gibt, nach denen man handeln muss. Auch wenn die Gewerkschaftssystematik abgelehnt wird, einen Versuch ist es wert. Denn so kommt man deutlich einfacher mit Kolleg:innen aus anderen Standorten in Kontakt.
Die AngryWorkers haben mit Gewerkschaften leider schlechte Erfahrungen gemacht. Dass die Gewerkschaften nur existieren, um zwischen den Parteien zu vermitteln und nicht um die Gegensätze zu überwinden, ist dabei nur eine traurige Erkenntnis. Angestellte, die tatsächlich sauer auf die Gewerkschaft sind, muss man mit Zeitungen und in Internetforen erst einmal erreichen – eine schwierige Aufgabe.
Revolution mit angezogener Handbremse
Die Bereitschaft, aktiv zu werden, ist leider immer abhängig von der individuellen Situation, das darf man im idealistischen Kampf nie vergessen. Denn das Risiko ist für die Beteiligten immer hoch. Ein Zeitarbeiter wird eher zum Streikbrecher, sonst ist der Job morgen weg. Viele müssen jede Überstunde nehmen, um über die Runden zu kommen. Und wieder andere sind bei jedem Protest dabei, weil sie einen Zweitjob haben und es sich dadurch erlauben können. Diese Realitäten darf man nicht einfach ignorieren. Man befindet sich immer auf einem schmalen Grat zwischen der Berücksichtigung der privaten Situation und dem Kampf um größere kollektive Macht.
Es ist nicht Ziel des Buches, eine perfekte Blaupause für Arbeiter:innenorganisationen zu liefern. Jede:r der Beteiligten hat die Hoffnung, dass ihre Kolleg:innen durch kleine Erfolge selbst ermutigt werden, aufzustehen und aktiv zu werden. So viel vorweg, oft kommt es nicht dazu. Da es sich hauptsächlich um prekär Angestellte handelt, sind diese froh, sobald ihr akutes Problem gelöst wird. Für weiteren Aktivismus fehlt den Betroffenen oft die Zeit und die Energie. „Geduld mag eine Tugend sein, aber für Arbeiter:innen, die demoralisiert von einem Job zum nächsten ziehen, hat sie wenig Bedeutung.“ (S. 257) Solidaritätsnetzwerke sind eben kein Wohlfahrtsverein, sondern müssen selbst aktiv mit Leben und Protest gefüllt werden, auch wenn es keine Erfolgsgarantie gibt. Natürlich dauert es lange, um Menschen mit den eigenen Inhalten zu erreichen und den Funken des Protests zu entzünden. Die AngryWorkers haben nur den ersten von vielen Schritten gemacht. Und sie sind noch nicht am Ende. Selbst wenn es mal nicht funktioniert, der Kampf geht weiter. Wir lernen aus den Fehlern und sind beim nächsten Mal besser organisiert.
Die AngryWorkers haben sich nicht wie Günther Wallraff verkleidet und berichten jetzt aus der Gosse. Die Autor:innen waren sie selbst, wollten die Grenzen des bisher Möglichen sprengen und teilen ihre Erfahrungen schonungslos offen mit uns. Zugegeben, mit über 520 Seiten ist das Buch ein ganz schöner Wälzer und schreckt erst einmal ab. Es ist aber auch nicht wie eine Doktorarbeit geschrieben, sondern relativ einfach formuliert und liest sich flüssig. Für die pure Fülle an Erfahrungen lohnt sich die Lektüre allemal. Hier werden Erfahrungen aus der Praxis geteilt und Anregungen geliefert. Und ist mehr Praxis nicht genau das, was wir brauchen?
Angry Workers 2022: Class Power! Über Produktion und Aufstand.
Übersetzt von: Gabriel Kuhn.
Unrast Verlag, Münster.
ISBN: 978-3-89771-170-9.
528 Seiten. 24,70 Euro.
Dieser Beitrag wurde am 11.04.2022 auf kritisch-lesen.de, Kooperationspartner von Unsere Zeitung, unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den Nutzer*innen eine Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen zu nicht kommerziellen Zwecken
Titelbild: Buchcover (Unrast Verlag) / UZ