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Postwachstums-Konferenz im Europäischen Parlament

4.000 Teilnehmer:innen diskutierten in Brüssel Perspektiven einer EU-Wirtschaft ohne Wachstumszwang – Degrowth Vienna brachte 5-Punkte-Plan für soziale Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Demokratie ein.

Langsam dämmert es auch den letzten vom freien Markt Gefesselten: Das Gleiche in Grün (grünes Wachstum, grüner Kapitalismus) wird den ökologischen Herausforderungen unserer Zeit nicht gerecht. Eine radikale Trendwende darin, wie wir wirtschaften, wird zunehmend als nötig erachtet. Vetreter:innen des Konzeptes „Degrowth“ diskutieren dies schon lange. In den vergangenen drei Tagen haben mehr als 4.000 Menschen an der Beyond Growth-Konferenz in Brüssel teilgenommen, darunter Kommissionspräsidentin Von der Leyen und zahlreiche Expert:innen aus ganz Europa. Zum Abschluss brachte die Wiener Organisation Degrowth Vienna einen 5-Punkte-Plan für soziale Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Demokratie ein. 

Ausgehend von der Erkenntnis, dass es kein unendliches Wirtschaftswachstum auf einem endlichen Planeten geben kann, beschäftigt sich Degrowth (dt. Postwachstum) mit Fragen nach einem sozial gerechten gesellschaftlichen Wandel hin zu einem guten Leben für Alle innerhalb planetarer Grenzen. „Diese Debatte um systemische Alternativen zum Wachstumszwang muss geführt werden, nicht zuletzt, weil uns der letzte IPCC-Bericht ein sich schnell schließendes Zeitfenster für die Sicherung einer lebenswerten und nachhaltigen Zukunft für Alle attestiert“, sagt Corinna Dengler, Assistenzprofessorin an der WU Wien. Eine starke Entkopplung von Wirtschaftswachstum auf der einen Seite und Ressourcenverbrauch sowie Emissionen auf der anderen, wie sie von Fürsprechern eines „grünen Wachstums“ oft vorgebracht wird, sei – auch hierin ist der IPCC-Bericht deutlich – in der gebotenen Zeit sehr unwahrscheinlich.

 

Degrowth im Europäischen Parlament

Debatten um Degrowth werden heute nicht mehr nur an Universitäten und in sozialen Bewegungen geführt, sondern finden zunehmend Gehör in der politischen Arena. 2018 fand neben der Internationalen Degrowth-Konferenz in Malmö zum ersten Mal eine vom Europäischen Parlament organisierte Postwachstumskonferenz in Brüssel statt. Diese zeigte die Bereitschaft der EU-Politik, Strategien für den Übergang in eine ökologisch nachhaltige und sozial gerechte Postwachstumsgesellschaft zu diskutieren.

Diese Woche gingen die Degrowth-Diskussionen in Brüssel in die zweite Runde: Vom 15. bis zum 17. Mai fand die „Beyond Growth Conference“ mit hochrangigen Vertreter*innen aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft im Europäischen Parlament statt. Entstanden ist die Konferenz aus einer parteiübergreifenden Initiative von 20 Mitgliedern des Europäischen Parlaments, die von einer Vielzahl von Partnerorganisationen unterstützt wird. Erklärtes Ziel der Konferenz ist es, eine zukunftsfähige EU ohne Wirtschaftswachstum in die Praxis umzusetzen. Die Teilnahme vor Ort war schnell ausgebucht und mehrere Tausend Interessierte haben sich zur virtuellen Teilnahme an den 7 Plenarsitzungen, 20 Fokus-Panels und 4 Policy Labs registriert.

„Die Zeit zum Handeln ist jetzt! Das Streben nach endlosem Wirtschaftswachstum in der EU und in Österreich behindert Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Demokratie. Dies wurde auf der überparteilichen Beyond Growth-Konferenz im Europaparlament betont. Doch es gibt Hoffnung – der Degrowth-Ansatz bietet eine transformative Alternative“, so Halliki Kreinin, Postwachstums-Expertin von Degrowth Vienna, die an der Konferenz teilgenommen hat.

Prof. Julia Steinberger bei einer Rede im EU-Parlament
Prof. Julia Steinberger, US-amerikanisch-schweizerisch-britische Naturwissenschaftlerin und Umweltaktivistin, bei der Beyond Growth-Konferenz im Europäischen Parlament am 16.05.2023. Foto: Degrowth Vienna.

Zum Abschluss der Konferenz stellte das Netzwerk aus Wissenschaftler*innen, Organisator*innen und Expert*innen, die in Wien (Österreich), aber auch darüber hinaus aktiv sind, einen visionären 5-Punkte-Aktionsplan vor, der auf den Empfehlungen der Konferenz basiert. Der Plan zeigt einen Weg zu einer gemeinwohlorientierten Ökonomie auf, die das planetare und soziale Wohlergehen in den Mittelpunkt der Politik stellt.

Globale Perspektiven mitdenken

„Obwohl der Schwerpunkt der Konferenz auf der EU liegt, ist es in der heutigen globalisierten Welt unvermeidlich, globale Perspektiven mitzudenken“, sagt Brototi Roy, Forscherin an der Central European University und Vize-Präsidentin des internationalen Degrowth-Netzwerks „Research & Degrowth“, das die Beyond Growth-Konferenz in Brüssel mitorganisiert.

Mit Blick auf die ökologischen Krisen unserer Zeit ortet Roy eine doppelte Ungerechtigkeit: Erstens tragen nicht alle Länder und Regionen gleichermaßen zu ihrer Verursachung bei. So wurde und wird etwa die Klimakrise vor allem durch frühindustrialisierte Länder des Globalen Nordens verursacht, denn die Kehrseite ihrer hohen Wachstumsraten waren steigende CO2-Emissionen. Gleichzeitig bekommen jene Regionen, v.a. im Globalen Süden, die am wenigsten zu ihrer Verursachung beigetragen haben, deren Folgen am stärksten zu spüren, etwa durch Dürren und Überschwemmungen.

Roy gibt aber zu bedenken: „Es ist wichtig zu betonen, dass der Globale Süden keine homogene Einheit ist. Die Eliten des Südens leben nicht viel anders als die des Nordens und Luxus-Einkaufszentren in Delhi, Dubai oder Dublin sehen sehr ähnlich aus.“ Der Glaubenssatz, dass der Globale Süden grundsätzlich wachsen müsse, sei daher in Frage zu stellen. Vielmehr könne auch hier ein sich Lösen aus der – in ungleichen Handelsbeziehungen eingeschriebenen – strukturellen Wachstumsabhängigkeit Spielräume schaffen, um eine gerechtere Wohlstandsverteilung und das gute Leben für möglichst Alle ins Zentrum zu stellen.

Kritik an der Auffassung, dass Entwicklung am besten durch Wirtschaftswachstum zu erreichen sei, gibt es auch im Globalen Süden. Wachstumskritische Debatten tragen dort oft andere Namen (z.B. Buen Vivir in Lateinamerika), seien aber wichtige Allianzen und Inspirationen für Degrowth.


Text: Michael Wögerer (Unsere Zeitung)
Quellen: www.diskurs-wissenschaftsnetz.at / www.degrowthvienna.org

Titelbild: Kamiel Choi auf Pixabay 

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2 Gedanken zu „Postwachstums-Konferenz im Europäischen Parlament

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