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Wider das hegemoniale Gedenken

Die mediale Darstellung des Globalen Südens, die Kriegspolitik und der Welthandel tragen zu einer Ökonomie der Empathie bei und befeuern dabei die Erinnerungskonkurrenz. Kann es einen Ausweg aus dem Dilemma geben? – Sonntag ist Büchertag

Von Christoph Gollasch (kritisch-lesen.de)

Buchcover
Charlotte Wiedemann – Den Schmerz der Anderen begreifen (Propyläen Verlag)

Im Wintersemester 22/23 gebe ich ein Seminar, in dem es um die Verstrickungen zwischen Nationalsozialismus und den Familienbiografien der Teilnehmer*innen geht. Die Zusammensetzung ist heterogen: Studierende des allgemein gehaltenen BA „Kultur und Technik“ treffen auf Studierende des Spezialisierungs-MA „Interdisziplinäre Antisemitismusforschung“. Als wir Texte verschiedener Akteur*innen des sogenannten „Zweiten Historikerstreits“ lesen, spitze ich das Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus zu: Wie werden beide in der Regel unterschieden und warum wird der Holocaust nicht als ein Genozid unter vielen, sondern als „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) verhandelt?

Gemeinsam versuchen sich die Studierenden an einer Antwort: Der Antisemitismus richte sich in der Regel nach oben, gegen Jüd*innen, die als mächtig und besonders gefährlich wahrgenommen würden, weswegen die Antisemit*innen sie vernichten wollten. Die Rassist*innen würden ihren Blick dagegen nach unten richten, gegen die Rassifizierten, die als wild erschienen und „nur“ kontrolliert werden müssten. Ob dieses groben Auseinanderdividierens blieben mir die Ausführungen eines Studenten als besonders zärtlich in Erinnerung: Er schob nach, dass er das wirklich nur analytisch und nicht wertend meine. Neben Antisemitismus und Holocaustgedenken sei genauso Platz für Rassismus und die Erinnerung an Kolonialverbrechen.

Kein Nullsummenspiel

In eben dieses Spannungsfeld begibt sich Charlotte Wiedemann mit ihrem Buch „Den Schmerz der anderen begreifen – Holocaust und Weltgedächtnis“. Es ist eine Intervention in eine virulente Debatte. Spätestens seit Dirk Moses‘ „Der Katechismus der Deutschen“ im Mai 2021 wird erneut hitzig über die deutsche Erinnerungskultur und die Rolle des Holocausts gestritten. Der Vorwurf des Genozid-Forschers: In Deutschland werde die Ermordung der europäischen Jüd*innen in so partikularistischer Weise erinnert, dass die Erinnerung an koloniales Unrecht ausgeschlossen würde.

Kurz vor Moses‘ Intervention war – mit einer Dekade Verspätung – Michael Rothbergs „Multidirektionale Erinnerung“ (2020) nach Deutschland geschwappt. Rothbergs Idee: Gelebte Erinnerung funktioniere nicht als Konkurrenzverhältnis im Sinne eine Nullsummenspiels, sondern die Erzählungen unterschiedlicher Akteur*innen verwiesen immer schon auf andere Erfahrungen und Ereignisse, zu denen sie sich in Bezug setzen. Nationalsozialismus und Holocaust dienten Kolonialisierten und Rassifizierten als Anknüpfungspunkt, um die eigene Geschichte und Gegenwart der Unterdrückung sichtbar zu machen.

Insbesondere in Deutschland sind Nationalsozialismus und Holocaust zu elementaren Inhalten der Erinnerungskultur geworden. Zwar gäbe es hier noch viel zu erforschen und sichtbar zu machen. Es dominiert jedoch immer mehr die Symbolpolitik. Seit einigen Jahren versuchen politische Repräsentant*innen verstärkt, sich zu legitimieren, indem sie Bezüge zu Nationalsozialismus und Holocaust herstellen. Dass getadelt und sanktioniert wird, sobald dies in nicht ritualisierter Weise geschieht – wenn beispielsweise aus Schwarzer Perspektive sich mittelbar auf die scheinbar fernen historischen Ereignisse des Kolonialismus bezogen wird – gilt auch Rothberg als Beweis für eine Verengung und letztlich politische Instrumentalisierung der Erinnerung.

Trotz fundierter Kritik an Rothberg wie auch an Moses zeigt die Rezeption ihrer Texte, dass sie einen neuralgischen Punkt getroffen haben. Nicht wenige haben das Gefühl, dass die deutsche Erinnerung im Partikularen verbleibt und auf ihrer Grundlage mit zweierlei Maß gemessen wird: in punkto Rassismus-Antisemitismus, Kolonialismus-Nationalsozialismus, Völkermord-Holocaust und nicht zuletzt Palästina-Israel.

Das heutige Unbehagen an der deutschen Erinnerungskultur speist sich wesentlich aus einer globalen Perspektive. Projekte wie das Berliner Humboldtforum haben Restitutionsdebatten rund um das Thema Raubkunst ausgelöst. White Supremacy und ihre Institutionalisierung in der US-amerikanischen Politik haben zu transnationalen Bewegungen wie Black Lives Matter geführt. Und das unaufhörliche Voranschreiten des Klimawandels bildet das Hintergrundrauschen für die Suche nach globaler Gerechtigkeit. Die reale Sprengung nationaler Bezugsrahmen macht auch vor der Erinnerungskultur nicht halt.

Charlotte Wiedemann dürfte sich dieses Gefühls sowie der erinnerungskulturellen Debatten sehr bewusst gewesen sein, als sie ihr Buch schrieb. Es ist jedoch keine Retrospektive, um die aktuellen Kontroversen zu verstehen. Wiedemann, die jahrelang als Auslandskorrespondentin die Welt bereiste, blickt zurück, um nach vorn zu schauen – im Sinne einer gelungenen multidirektionalen Erinnerung. Ihre eigenen Erfahrungen mit „dem Schmerz der anderen“ bilden das Rückgrat für den Ausweg – oder wie es Wiedemann bescheidener formuliert: eine „Suchbewegung“ (S. 13) aus der Erinnerungskonkurrenz.

Inbeziehungsetzen vor dem eigenen Nazihintergrund

Charlotte Wiedemann nimmt uns mit nach Mali, wo in einem Lehmgehöft umgeben von staubiger Hitze und pickenden Hühnern ein Foto eines Schwarzen Soldaten in einem schneebedeckten Schützengraben des Zweiten Weltkriegs hängt; in die französische Kleinstadt Vittel, wo 1943 der Guineer Addi Bâ Mamadou von der Wehrmacht standrechtlich erschossen wird, nachdem er sich der Resistance angeschlossen hatte; nach Marokko im Jahr 1942, wo ein junger Freiwilliger aus Martinique mit dem Namen Frantz Fanon die Ungleichbehandlung der afrikanischen Soldaten erlebt; ins indonesische Dorf Rawagede, wo Niederländer 1947 ein Massaker begehen, als die Tagebücher der Anne Frank zum ersten Mal publiziert werden.

Für Wiedemann waren solche und andere Erlebnisse Teil einer widersprüchlichen Bewusstwerdung. Hatte sie gerade eben die Abgründe des Deutschseins ertastet, den Nationalsozialismus „als zweite Haut“ (S. 12) verinnerlicht, bedurften nun auch die Kolonialverbrechen und das Fortleben des Rassismus ihres Mitgefühls. Doch „Mitgefühl ist nicht gerecht, es folgt nicht dem Grundsatz von der Gleichheit aller Menschen“ (S. 11). Den Schmerz der anderen zu empfinden, mag unmöglich sein, zumal wenn diese anderen so fern erscheinen wie: die ehemalige Oberschule Tuol Sleng in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh, wo nur sieben von 14.000 Häftlingen die Folter der Roten Khmer überlebten; der Wald bei Paneriai nahe der litauischen Hauptstadt Vilnius, in dem zwischen 1941 und 1944 über 100.000 Menschen, überwiegend jüdisch, von Deutschen ermordet wurden; ein kleines Museum in Songea im südlichen Tansania, das an die bis zu 200.000 Toten des deutschen Kolonialkriegs erinnert.

Wiedemann macht keinen Hehl daraus, dass Gespräche mit NS-Überlebenden sich für sie bewegender anfühlten als die Begegnung mit dem Leid der anderen an diesen fernen Orten: „Da war eine andere Intensität, mehr Nähe und eine manchmal kaum aushaltbare Spannung.“ (S. 75) Die – eine weiße Empathie repräsentierende – Autorin stößt folglich an eine Grenze. Noch so großes Einfühlungsvermögen verhindert nicht eine Hierarchisierung des Leids. Liegt es an der kulturellen Differenz? Oder daran, sich als Nachfahrin der Täter, als Deutsche mit Nazihintergrund zu definieren?

Erinnerungspolitische Grenzen der Empathie

Auf der Suche nach einer Antwort abstrahiert die Autorin von ihren Emotionen, Prägungen und anderweitigen individuellen Anteilen. Gesellschaftspolitische Faktoren werden in den Blick genommen: die mediale Darstellung des Globalen Südens, die Kriegspolitik und der Welthandel. Wie Wiedemann überzeugend argumentiert, trügen sie zu einer „Ökonomie der Empathie“ bei. Weil der Tod als normal und quasi anthropologische Konstante des Globalen Südens erscheint, sind seine Opfer nicht „betrauerbar“. Der ideologische Zirkel schließt sich im Gedanken, dass nur jenes Leben, das betrauert wird, auch stark geschützt wurde. Kurzum: Non-white lives don’t matter equally.

Doch gilt diese Erkenntnis auch für die Holocausterinnerung in Deutschland. Die ermordeten Sinti*zze und Rom*nja, die Bewohner*innen der Schtetl und die „unwerten“ Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen werden genauso wenig erinnert wie die Opfer des Kolonialrassismus und die 56.000 sowjetischen Kriegsgefangenen, die im niedersächsischen Stukenbrok unter Aufsicht der Wehrmacht krepierten. Die Erinnerung gilt vielmehr einer Vorstellung der zivilisierten Jüd*innen als einem gleichwertigen Gegenüber – und somit der Vorstellung von sich selbst als zivilisierten Deutschen. Die deutsche Erinnerungspolitik scheidet also vertikal entlang von Abstammung und Hautfarbe (Westen vs. Globaler Süden), aber auch horizontal entlang von „Zivilisiertheit“ (deutsche vs. osteuropäische Jüd*innen).

Das globale Kräfteverhältnis jedoch verschiebt sich politisch und moralisch zu Ungunsten der ehemaligen Kolonialmächte. Am Horizont zeichnet sich das „Ende weißer Immunität“ ab: Das Selbstbild weißer Europäer*innen ist nicht länger ausreichend geimpft gegen Verunsicherung. Wiedemann hat das erkannt. In Zukunft soll für sie das Erinnern einer Welt dienen, in der es keine Hierarchie von Leiderfahrungen mehr gibt und in der das Erinnern eine lebendige Gegenrede gegen Homogenität, Nationalismus und Aussonderung ist: „Ein Erinnern also für eine neue Ethik der Beziehungen und eines Antifaschismus des 21. Jahrhunderts.“ (S. 9)

Als der MA-Student meines Seminars seine Ausführungen beendet hatte, wandte ich mich den BA-Studierenden zu. Ihnen war der Erinnerungsdiskurs noch völlig fremd. Eine Studentin durchbricht schließlich die Stille: Ihr komme es schon so vor, als gäbe es eine Hierarchie und Ungleichwertigkeit zwischen Antisemitismus und Rassismus, Holocaust und kolonialem Genozid. Unser kleiner Seminarraum war zu einem Ausdruck der gesellschaftlichen Debatte geworden. Die vorgeblich analytische Kategorie „Zivilisationsbruch“ war auf den Alltagsverstand getroffen. In der Zwischenzeit hätte Charlotte Wiedemann am 9. November in Tel Aviv mit den Wissenschaftlern Bashir Bashir und Amos Goldberg über die Verflechtungen von Holocaust und Nakba diskutieren sollen. Nach heftiger Kritik sagten das Goethe-Institut und die Rosa Luxemburg Stiftung die Veranstaltung ab.

Zusätzlich verwendete Literatur

Moses, Dirk (2021): Der Katechismus der Deutschen. Geschichte der Gegenwart.
Rothberg, Michael (2020): Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung, Metropol Verlag, Berlin.

Anmerkung

Der rezensierte Titel ist am 05.10.2022 in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung erschienen und dort für 4,50 Euro erhältlich.


Charlotte Wiedemann (2022): Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis
Propyläen Verlag, Berlin – 288 Seiten, 22 Euro
ISBN: 9783549100493

Dieser Beitrag wurde am 17.01.2022 auf kritisch-lesen.deKooperationspartner von Unsere Zeitung, unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den Nutzer*innen eine Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen zu nicht kommerziellen Zwecken.

Titelbild: Buchcover (Propyläen/Ullstein) / UZ

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