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Lateinamerika: Blaualgen – Überdüngung bringt die Natur aus dem Gleichgewicht

Die giftigen Blaualgenplagen in Lateinamerika sind keine Folge der Klimaerwärmung, sondern der intensiven Nutzung von Düngemitteln in der Landwirtschaft.

Von la diaria/poonal/NPLA

Nicht hohe Temperaturen sind verantwortlich für den Anstieg von Blaualgen. Eine Studie, die Daten von mehr als 460 Seen Amerikas analysierte, fand heraus, dass vor allem die ins Wasser eingeleiteten Düngemittel für die Zunahme der Bakterien verantwortlich sind. Es seien weniger die globalen, sondern vielmehr die lokalen Faktoren, die die Wasserqualität beeinträchtigen und die man deshalb im stärker im Auge behalten müsse, so das Fazit. Vorausgegangen war der Studie ein wissenschaftlicher Artikel, den zwei Forschende aus Uruguay im Jahr 2020 in einer Fachzeitschrift veröffentlicht hatten. Darin erklärten die beiden, die steigenden Wassertemperaturen würden die Ausbreitung von Cyanobakterien befördern, somit sei es der Klimawandel, der zu einem Anstieg an Blaualgen in den Seen Uruguays führe. Nun haben sich 53 Wissenschaftler*innen zusammengetan und nachgewiesen, dass die Aussage nicht haltbar ist.

Lokale Untersuchungen erweitern den Blick auf ein globales Problem

Einstimmigkeit herrscht hinsichtlich der Frage, wie sich eine erhöhte Blaualgenkonzentration auf die Wasserqualität auswirkt. Cyanobakterien („Blaualgen“) vermindern die Wasserqualität erheblich. Sie bilden Toxine, die sich im Wasser lösen können und dieses ungenießbar machen. Daraus ergeben sich ernstzunehmende Probleme für Menschen, Tiere und sogar Pflanzen. Sterben die Algen ab, sinkt der Sauerstoffgehalt, was wiederum zu vermehrtem Fischsterben führt. Um das Verhalten von Cyanobakterien unabhängig von der klimatischen Zone betrachten zu können, untersuchten die Expert*innen 464 Seen mit verschiedenen Wassertiefen auf dem gesamten amerikanischen Kontinent von Feuerland in Argentinien bis nach Ellesmere Island in Kanada. Neben der Temperatur untersuchten sie auch die Rolle des pH-Werts des Wassers, die Größe des Sees, seine Tiefe und Höhenlage. Darüber hinaus nutzten sie mehrere Modelle und Analysen, um zu bestimmen, welche dieser Faktoren die Algenblüte am stärksten begünstigen.

Phosphate sind wichtiger als Temperaturen

Ihr Ergebnis: Die Überdüngung von Feldern hat einen viel gravierenden Einfluss auf Blaualgen als der Klimawandel. Am meisten Verantwortung für das massive Wachstum von Blaualgen tragen Phosphate. In tiefen Gewässern ist auch Stickstoff sehr von Bedeutung. Mit ihrer Studie hat das Team um die Limnologin und Biologin Sylvia Bonilla einen wichtigen Beitrag für globale Lösungsansätze erbracht: Während Studien oft nur ein Land oder eine Region betrachten, sprechen die Aussagen dieser Forschungsarbeit für einen ganzen Kontinent. Ein großes Verdienst der Studie ist, dass nicht nur Seen in reichen Staaten untersucht wurden, die den wissenschaftlichen Diskurs prägen. Es wurden Szenarien einer künftigen Wassererwärmung durchgespielt und bewusst auch Gewässer in wärmeren Regionen analysiert. Das Ergebnis: Tropische Gewässer enthalten nicht zwangsweise eine erhöhte Konzentration an Blaualgen, obwohl eine höhere Außentemperatur mit Blaualgenvermehrung einhergehen kann. So gibt es viele tropische Gewässer, die gut erhalten und nicht überdüngt sind und daher auch keine Blaualgenplage aufweisen. Auf der anderen Seite wurde ein Bergsee in den peruanischen Anden nahe Arequipa untersucht, und obwohl der dortige Stausee in 4.200 Metern Höhe liegt und sehr kaltes Wasser enthält, gibt es hier viele Blaualgen. Grund dafür sind Aquakulturen und Fischzuchtkäfige. Sie tragen zu einer sogenannten Eutrophierung des Wassers bei; einem Überangebot künstlich zugeführter Nährstoffe, meist durch Düngemittel. Dazu Sylvia Bonilla: „Es ist nicht so, dass die Temperatur gar keinen Einfluss auf das Blaualgen-Phänomen hat. In einem See mit vielen Nährstoffen begünstigen hohe Temperaturen schon die Blüte der Blaualgen.“ Obwohl die ideale Temperatur für ihr Wachstum bei über 25° liegt, sind Cyanobakterien bei jeder Temperatur zwischen 10° und 30° fähig, sich zu vermehren. Sind jedoch andere Faktoren ideal – beispielsweise Licht, Phosphat- und Stickstoffgehalt und die Wassertiefe – verliert die Temperatur an Bedeutung.

Phosphat oder Stickstoff, was ist wichtiger?

Die Frage, welcher Stoff der beiden bedeutender ist, ist zwar wichtig, aber sehr komplex. Der Verbrauch phosphat-basierter Düngemittel ist heute siebzehn mal so hoch wie vor 70 Jahren. Dadurch ist das Verhältnis von Phosphat und Stickstoff in der Umwelt aus der Balance geraten. Dieses Ungleichgewicht hat weitreichende Folgen. Während manche Organismen vom neuen Überangebot an Phosphaten profitieren, fehlt anderen der Stickstoff. Das bringt ganze Ökosysteme aus dem Gleichgewicht.

Interne Faktoren sind wichtiger als externe

Ein weiterer Faktor, der auf die Algenblüte Einfluss nimmt, ist der pH-Wert des Sees. Das Team um Bonilla beweist: Je basischer das Wasser, desto mehr Cyanobakterien bilden sich. Gleichzeitig gilt aber auch: Je mehr Blaualgen auftreten, desto basischer wird das Wasser. Dieses Phänomen ist eine Art Abwehrstrategie, die als positive Rückkopplung bezeichnet wird: Cyanobakterien kommen in basischen Gewässern gut aus, wissen jedoch, dass sich ihre Fressfeinde damit schwer tun. Daher halten sie ihre Umgebung mit einem pH-Wert über 8 bewusst basisch. Diese Erkenntnis kann für die Zukunft wichtig sein. Obwohl das Phänomen der positiven Rückkopplung lange bekannt ist, wird es in Bezug auf Blaualgen oft ausgeklammert. Dennoch verkompliziert sie die Bekämpfung von Blaualgenplagen. Die Forscher*innen schlussfolgern: Um Cyanobakterien effektiv zu bekämpfen, müssen vor allem die Faktoren vor Ort in Betracht gezogen werden. Externe und globale Einflussfaktoren wie der Klimawandel könnten zunächst vernachlässigt werden. Klar ist jedoch: Auch wenn er nicht direkt für Blaualgenplage verantwortlich ist, bringt er dennoch Ökosysteme aus dem Gleichgewicht. Dazu Sylvia Bonilla: „Es gäbe natürlich eine oberflächliche oder bequeme Auslegung des Problems. Die Frage ist, wem wir die Schuld geben oder wie wir Verantwortung übernehmen für das, was vor sich geht. Wenn der Klimawandel daran schuld ist, können wir nur sehr wenig tun. Wenn die Ausbreitung der Algen jedoch damit zu tun hat, wie wir die Gewässer nutzen, dann liegt es in unserer Verantwortung, die Maßnahmen zu ergreifen, um diese Situation umzukehren“, meint Sylvia. Und es sind Maßnahmen nötig, um die Eutrophierung einzudämmen, so Sylvia Bonilla. Die Verantwortung hierfür liegt in der Hand einzelner Regionen: Um das Flussbecken des Rio Uruguay sollten sich beispielsweise Uruguay, Argentinien und Brasilien gemeinsam kümmern.

Lösungsansätze in Lateinamerika scheitern bislang

Düngeabkommen nach dem Vorbild des Pariser Klimaschutzabkommens könnten eine große Hilfe sein, um die Umwelt und ihre Bewohner*innen zu schützen. Und auch wenn sich solche Regelwerke aus der EU oder USA nicht einfach auf die südamerikanische Umwelt übertragen lassen, bedeuten sie für Bonilla eine wichtige Orientierung. „Das bringt uns zu einem weiteren Problem. Nehmen wir zum Beispiel das Projekt Neptuno, bei dem Wasser aus dem Arazatí-Gebiet des Río de la Plata entnommen wird, das von zwei großen Flüssen stammt, dem Rio Uruguay und dem Paraná. Das Einzugsgebiet des Rio de la Plata ist eins der größten der Welt und erstreckt sich über fünf Länder. Das Wasser im Mündungsgebiet weist einen hohen Grad an Nährstoffen auf, häufig Cyanobakterienblüten und Schadstoffe aller Art. Die anspruchsvollste, wertvollste und wichtigste Wassernutzung ist die Verwendung als Trinkwasser. Aber ohne gemeinsamen Kontrollpläne in den fünf Ländern ist die Nutzung als Trinkwasser höchst riskant; Wasser von dort zu holen, um es trinkbar zu machen, ist ein komplexes Szenario. „Man weiß nicht, wie sich die Wasserquelle unter diesen Bedingungen entwickeln wird“, sagt Sylvia. „In Zukunft kann sich die Lage weiter verschlimmern, durch die Auswirkungen des Klimawandels: starke Regenfälle, schwere Überschwemmungen mit anschließendem Nährstoffabfluss in das Wasser durch Niederschläge. Durch den Transport von Wasser über viele hundert Kilometer gelangt Wasser mit hohen Konzentrationen an Cyanobakterien an Orte, die das Problem bisher gar nicht hatten. Das gleiche passiert, wenn Waldbrände mit Wasser aus anderen Regionen gelöscht werden. Man weiß auch nicht, ob Schadstoffe wie Phosphat nun eher aus der Landwirtschaft oder aus Industrieabwässern stammen. Weil überschüssige Nährstoffe nicht durch Rohre in Flüsse und Seen gelangen, sondern über den natürlichen Wasserkreislauf, ist es schwer zu sagen, wer für die Eutrophierung (Nährstoffübersättigung) verantwortlich ist und wer sie zu bekämpfen hat. Einerseits muss also das Abwassersystem Südamerikas besser instand gehalten werden, damit keine zusätzlich belastenden Stoffe in die Umwelt gelangen. Andererseits, was zu tun wäre, ist mehr oder weniger bekannt: Wir brauchen Pufferzonen an den Ufern von Wasserläufen, weniger Chemie in der Landwirtschaft und mehr Kontrollstufen: Registrierung, Genehmigungen usw. Wir haben es jedoch versäumt, diese Maßnahmen umzusetzen.“

In den Ländern, in denen die Eutrophierung erfolgreich bekämpft wird, ist kein erhöhtes Umweltbewusstsein der Auslöser dafür, sondern strenge Kontrollen und hohe Strafen. Für Sylvia Bonilla ist der Fall klar: Bekannt sind die Auswirkung (der Blaualgenbefall), der Grund (der Überschuss an Nährstoffen durch Dünger) und die Schuldigen (die Menschheit). Der Klimawandel ist real. Trotzdem muss für ein breiteres Lösungsspektrum Platz sein, das neben dem Klimawandel auch das Problem der Eutrophierung angeht.

Übersetzung: Patricia Haensel


Dieser Beitrag erschien am 28.01.2022 auf npla.de, lizensiert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international. Originalartikel: ladiaria.com

Titelbild: Mikroskopische Aufnahme von Cylindrospermum, einer fadenförmigen Gattung von Cyanobakterien. Foto: CSIRO, CC BY 3.0, via Wikimedia Commons

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