Träumen auf zwei Sprachen
Lin Hierse: Wovon wir träumen. In der Beziehung zu ihrer Mutter verhandelt eine junge Frau ihre chinesisch-deutsche und auf weiteren Ebenen mehrschichtige Identität. – Sonntag ist Büchertag
Von Miri Watson (kritisch-lesen.de)
Die Träume handeln von den Händen der Großmütter: Von der, die für die Erzählerin A’bu ist und von der, die bei ihr Oma heißt. Sie handeln von den Eheringen an den Fingern der Hände und von dem, was die Hände über eine Person und ihre Lebensumstände erzählen:
„Omas Hände sind etwa so groß wie meine, die Nägel sind oval und kaum vergilbt, ihr goldener Ehering ein wenig zu eng, er sieht aus, als könnte sie ihn kaum noch abziehen. Besonders mag ich Omas Handballen, die sind kräftig und glatt wie Kartoffelkloßteig, und ich mag ihre Hände auf dem leicht verstimmten Klavier, wenn sie an Weihnachten O du fröhliche spielen, im Wohnzimmer des Eckhauses über dem Penny-Markt.“ (S. 46)
und:
„A‘bus Hände sind kleiner als meine, knochig und schmal. Die Haut ist dünn, faltig und trotzdem weich, altersgefleckt und durchzogen von grünblauen Adern. Ihre Fingernägel sind gelb wie alte Dokumente, kurz und rund, nur den Nagel ihres kleinen Fingers lässt sie etwas länger wachsen, um sich besser kratzen zu können. Am Ringfinger der anderen Hand trägt auch sie einen Ehering. Als Kind dachte ich, er sei aus Gold, aber wenn ich ihn jetzt genauer betrachte, sieht er zu leicht und zu matt aus. Vielleicht Messing.“ (S. 47)
Oma, die deutsche Großmutter, gehört genau so zur Erzählerin wie die chinesische Großmutter A‘bu. Der Tod der chinesischen Großmutter ruft Erinnerungen wach und bringt die Erzählerin dazu, über ihre eigene Position in ihrer Familie und in ihrem Leben nachzudenken.
Bei diesem Nachdenken ist das individuelle Gedächtnis vom kollektiven Gedächtnis nicht zu trennen. Wenn die Erzählerin nach Spuren sucht, um zu sich selbst zu finden, dann tut sie das in ihrer eigenen Familie, in ihrer eigenen Geschichte – aber auch in chinesischer Geschichte, in deutscher Geschichte und in der Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen. Die Spuren sucht sie aktiv wachend und passiv träumend: So gibt es Träume, die von den gebundenen Füßen kleiner Mädchen im vergangenen Jahrhundert handeln:
„In Qin Qins Wahrheit gab es keinen Platz für Schmerzen, es gab nur die feinen, winzigen Füße. Sie stellte sich nie vor, wie das Mädchen schrie und weinte, während die eigene Mutter ihr die Knochen brach.“ (S. 133f)
Nicht weniger bedeutungsvoll sind aber die Träume, in denen es um das Kartenspiel geht: „Wir reden nicht viel. Als er ‚dang ba‘ ruft, muss ich grinsen. Es ist seine Aufforderung an mich, mitzuspielen. Also setze ich mich dazu, auf A‘bus kleinen Bambushocker, und stecke mir eine getrocknete Pflaume in den Mund.“ (S. 199) Die Ich-Erzählerin ist in ihren Träumen gleichzeitig mittendrin und Beobachterin.
Nicht nur Träume
Dabei erzählt Lin Hierses Debütroman „Wovon wir träumen“ nicht nur von den Träumen, sondern auch vom Wachen. Es geht um eine Mutter-Tochter-Beziehung und um die Verortung der Erzählerin: Ihre Mutter wuchs in China auf und kam vor der Geburt ihrer Tochter nach Deutschland. Die Tochter ist in Deutschland groß geworden und sucht nun das, was sie mit ihrer Familie in China verbindet – aber auch das, was sie trennt. Sie findet Gemeinsamkeiten in Jade-Armreifen oder in Erinnerungen, die sie mit ihren Cousins und Cousinen teilt. Sie findet Abgrenzung in den Unterschieden mit ihrer Mutter: Ihre Mutter fürchtet Wasser, seit sie als Kind einen Badeunfall hatte und fast ertrank. Die Erzählerin hat keine Angst vor Wasser, auch wenn der Bademeister sie bei der Seepferdchen-Prüfung vom Startblock geschubst hat. Ihre Mutter findet, im Sommer soll man keine eiskalten Getränke trinken; die Erzählerin macht es trotzdem. Und für die Mutter sind die langen Haare ihrer Tochter deren Schönheit. Die Erzählerin schneidet sie sich ab.
Es ist dieser Konflikt des Zwei-Zuhause-Habens, des Nirgends-Richtig-Dazugehörens oder des Überall-Nur-Ein-Bisschen-Dazugehörens, den Lin Hierse sehr leise und behutsam erzählt. Es ist der Streit zwischen Mutter und Tochter, in dem die Mutter diese zwei schlimmen Sätze sagt: „Das ist, weil du keine echte Chinesin bist. Familie ist dir egal!“ (S. 154) und es ist das Unvermögen, darauf angemessen zu reagieren, das die Erzählerin lähmt. Es ist die Suche nach Spuren einer Migration, die vor der Geburt der Erzählerin passierte – Spuren, die für die Tochter nie vollständig greifbar werden: „Von Mas Migration habe ich Anekdoten, Gefühle und Gegenstände geerbt. Es würde sehr lange dauern, sie zu identifizieren, und ich befürchte, dass ich niemals alle davon finden werde. So viel Chaos und Geheimnis, denke ich manchmal.“ (S. 167) Es ist aber auch – und das ist wichtig! – das Zurechtfinden in diesem Dazwischen, das Lin Hierse schildert. Da gibt es das Hybride anstatt der festgelegten Identität. Da gibt es den Transit anstatt der Heimat.
Lin Hierses Erzählerin verzagt an manchen Stellen und scheint dann verloren. Gleichzeitig ist sie aber nicht zwischen zwei Polen gefangen, steckt nicht nur im chinesisch-deutschen Zwischenland fest, sondern trifft Entscheidungen, die weder mit ihrer Mutter, noch sonst mit ihrer Familiengeschichte zu tun haben, sondern ganz allein ihre sind. Sie hinterfragt konstant die von außen an sie herangetragenen Erwartungen und sie hinterfragt sich selbst und das Bild, das sie von sich hat. Und trotz großer Traurigkeit an manchen Stellen, beschreibt Lin Hierse vor allem eine große Kraft: Die nämlich, sich selbst okay zu finden.
Geschichte und Gewalt
Abgesehen von der sehr persönlichen, individuellen Ebene verhandelt Lin Hierse die Verortung ihrer Protagonistin auch anhand von historischen, teils brutalen – im deutschen Geschichts-Diskurs meist unterschlagenen – Begebenheiten. So reist die Erzählerin beispielsweise nach Hamburg, um dort den mindestens 129 chinesischen Staatsangehörigen zu gedenken, die von der Gestapo im Jahr 1944 verhaftet, deportiert, gefoltert und ermordet worden waren. Wie diese Gewalt fortdauert und sich auch auf ihre eigene Biografie auswirkt, fragt sie sich und spinnt ein „Was wäre wenn“-Szenario:
„Wäre die Geschichte anders verlaufen, könnte dieser Ort heute ein anderer sein. […] Vielleicht würde ich regelmäßig hierherkommen, seit Jahren schon. Auf dem Weg zum Reetdachhaus hätten Ma und ich immer einen kurzen Zwischenstopp eingelegt, um den guten Essig und frisches Gemüse einzukaufen. ‚Aber geh nicht zu weit weg‘, hätte Ma mir nachgerufen, dabei würde sie sich hier eigentlich niemals Sorgen machen, weil dieser Ort uns vertraut wäre […]“ (S. 178).
Auch das Aufwachsen der Mutter während der Kulturrevolution wird an verschiedenen Stellen thematisiert; etwa, als die Mutter der Tochter erzählt, dass Jade-Armreifen früher als Symbol für die Schönheit gegolten haben und die Erzählerin sich wundert, weshalb ihre Mutter dann keinen Armreif aus Jade besessen hatte. Die Mutter antwortet, während der Kulturrevolution habe niemand solchen Schmuck getragen:
„Die Antwort lag so nahe, dass es mir wehtat, nicht von allein darauf gekommen zu sein. Manchmal fürchte ich, dass man die Geschichte so sehr studieren kann, wie man will, und trotzdem die Hälfte wieder vergessen wird, wenn eine Information nur ins Gehirn geflossen, aber vor der Seele stehen geblieben ist“ (S. 214).
Zum Träumen entscheiden
Der Roman behauptet nicht, eine Lösung für all die aufgeworfenen Identitäts- und Verortungsfragen zu haben. Vielmehr bleibt zwischen den Ambivalenzen, dem Herantasten, dem Sich-Vorsichtig-Annähern noch viel Raum für die Unsicherheiten, Fragen und Zwischentöne, die menschliche Existenz ausmachen. Es bleibt auch Platz für Trost und Hoffnung.
Lin Hierses Roman ist, obleich unaufgeregt und ruhig, eine Wucht, was die Sprache angeht. Lin Hierse weiß zu schreiben und haut einen als Leser*in immer wieder um mit der Schönheit, mit der sie sich ausdrückt. „Wovon wir träumen“ ist kein Roman, der eine fortlaufende Geschichte erzählt, sondern eher ein Roman, der eine Figur entwickelt. Lin Hierse arbeitet wenig szenisch; arbeitet dafür vieles aus dem Inneren genau aus: Auch der Roman scheint im Zwischenland zwischen Wachen und Träumen, zwischen Innen und Außen, verortet zu sein.
Leser*innen, die sich mit der Geschichte Chinas und der Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen wenig auskennen, ist der Roman auch da zugänglich und einleuchtend, wo es um politische Struggles geht. Nicht ausgeschlossen ist aber, dass Bezugnahmen auf politische Kämpfe an manchen Stellen so leise passieren, dass sie diejenigen, denen Wissen dazu fehlt, entgehen können.
„Eine Träumerin ist man nicht einfach so“, schreibt die Erzählerin in einem Brief an ihre Mutter,
„man muss es sich vornehmen, und das kostet Kräfte. Du weißt das, vielleicht besser als alle anderen. Du hast so viel getan, damit ich mir erlauben kann zu träumen. Du hast so viel auf dich genommen, damit ich Schönheit sogar an dem Ort finden kann, der sie dir verwehrt hat. Ich bin immer so hungrig, Ma, aber das ist nicht dasselbe, wie niemals zufrieden zu sein. Ich nehme mir das vor, ich übe jeden Tag, zu träumen und hungrig und zufrieden zu sein“ (S. 228).
Lin Hierse – Wovon wir träumen
Piper Verlag – 2022, 240 Seiten
ISBN: 978 3 492 07074 4
Dieser Beitrag wurde am 12.07.2022 auf kritisch-lesen.de, Kooperationspartner von Unsere Zeitung, unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den Nutzer_innen eine Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen zu nicht kommerziellen Zwecken.
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