Das Ende des Katastrophenfilms
Im Buch „Die wunden Punkte von Google, Amazon, Deutsche Wohnen & Co – Was tun gegen die Macht der Konzerne?“ sucht Nina Scholz nach antikapitalistischen Ansätzen und findet viele Menschen, die sich gegen die Zustände wehren – Sonntag ist Büchertag
Von Sebastian Friedrich (kritisch-lesen.de)
Ob Amazon, Google oder Immobiliengiganten wie Vonovia oder Deutsche Wohnen: Übermächtig erscheinen die großen Konzerne gegenüber jenen, die in ihren Häusern leben, ihre Algorithmen füttern, ihre Clouds nutzen und dabei jeden Mut verlieren, weil die Konzerne am längeren Hebel zu sitzen scheinen. Noch aussichtsloser erscheint die Lage für diejenigen, die etwa Amazon ihre Arbeitskraft verkaufen müssen.
Berichte über Arbeitsbedingungen bei Amazon erinnern häufig an Reportagen wie aus einem Katastrophengebiet. Arme, ausgebeutete Picker, Packer und Pakete-nach-Hause-Bringer erzählen – meist verpixelt – von Apps, die einen permanent überwachen, von befristeten Verträgen, vom Ausgeliefertsein, vom Wunsch, einen anderen Job zu finden.
Kämpfende Arbeiter*innen statt Elendszoo
Was bei solchen Berichten aus dem „Elendszoo“, wie es die Autorin Nelli Tügel mal in der linken Monatszeitung analyse & kritik treffend ausgedrückt hat, verloren geht, sind die stattfindenden Kämpfe gegen die Verhältnisse. Aktive Beschäftige, die sich wehren, werden in der Öffentlichkeit nur selten sichtbar.
Die Journalistin Nina Scholz macht in ihrem Buch „Die wunden Punkte von Google, Amazon, Deutschen Wohnen & Co“ die Auseinandersetzungen gegen die Konzerne zum Ausgangspunkt und nimmt so eine dem Mainstream entgegengesetzte Perspektive ein. Sie betont die Subjektivität der Kämpfe, und das nicht aus bloßer Sympathie und Empathie, sondern aus politischen Erwägungen.
„Die Amazon-Arbeiter*innen sind es, die uns immer wieder in Erinnerung rufen, welche Zustände in den Packzentren herrschen. Es sind die Menschen selbst, die durch ihre Kämpfe und Widerstände der Welt zeigen, dass die Macht keine Naturgewalt ist, der wir hilflos ausgeliefert sind.“ (S. 13f.)
Gewordene und gemachte Zustände statt Naturkatastrophen, gegen die man letztlich nichts anrichten kann. Scholz bringt unzählige Beispiele von Menschen, die sich nicht abfinden wollen. So etwa Christian Krähling, der im Buch ausführlich zu Wort kommt. Er beschreibt den langen Atem, den es braucht, um eine schlagkräftige Gegenmacht unter den Beschäftigten an einem Amazon-Standort aufzubauen. Im hessischen Bad Hersfeld hatten Krähling und seine Mitstreiter*innen die notwendige Ausdauer und Geduld. Seit Jahren streiken sie regelmäßig für bessere Arbeitsbedingungen. Und nicht nur das: Frühzeitig haben aktive Amazon-Beschäftigte um Krähling sich um internationalen Austausch bemüht – und Mitstreiter*innen in anderen Ländern gefunden.
Ausgangspunkt dieser transnationalen Perspektive ist die Erkenntnis, dass ein supranational agierender Konzern wie Amazon nur jenseits nationalstaatlicher Streiks angreifbar ist, weil sich sonst das Übel lediglich auf andere Orte verschiebt. „Auf diese Erkenntnis haben die Amazon-Arbeiter*innen bereits praktisch reagiert und die internationale Vernetzung Amazon Workers International (AWI) gegründet“ (S. 32).
Die Beschäftigten rund um Krähling sind weiterhin aktiv, auch nach dessen plötzlichen Tod im Dezember 2020. Wie eng die Netze und Kontakte zwischen Amazon-Beschäftigten sind, zeigt das kollektive Trauern um Krähling. Bei einer internationalen Online-Gedenkveranstaltung im Februar 2021 kondolierten Menschen aus der ganzen Welt.
Eine gemeinsame Klasse der Tech-Arbeiter*innen?
Amazon ist nur ein Beispiel unter vielen, die Scholz in ihrem Buch aufgreift. Einen Schwerpunkt bilden Auseinandersetzungen in der Tech-Branche, mit der sich die Journalistin seit vielen Jahren beschäftigt. Ihr erstes, 2014 erschienene Buch „Nerds, Geeks und Piraten. Digital Natives in Kultur und Politik“ befasste sich vor allem mit der Ideologie des kalifornischen Startup-Kapitalismus. Ihr neues Buch kann als Nachfolger gelesen werden, geht aber weit über die Analyse und Kritik der kalifornischen Ideologie hinaus und fokussiert auf Klassenverhältnisse: Die Tech-Branche, so Scholz, ist nicht nur einer der mächtigsten Wirtschaftszweige der Welt, sondern zugleich so wenig arbeitsrechtlich reguliert wie kaum ein anderer Bereich.
Scholz gelingt es, Reportageelemente, O-Töne von Beschäftigten und Hintergrundinfos mit theoretischen Debatten so zu verknüpfen, dass der Lesefluss nie gestört wird. Sie fasst dabei bereits viele Jahre dauernde Diskussionen mühelos auf wenigen Zeilen zusammen, etwa wenn es um den Begriff des Tech-Arbeiters beziehungsweise der Tech-Arbeiterin geht, mit dem neben Programmierer*innen auch Köch*innen und Reinigungskräfte in Tech-Unternehmen verbunden werden sollen.
„Dieser breite Begriff der (Tech-)Arbeiter*innen-Klasse kann Vorteile haben, weil er die Bewegung breit aufstellt: Jede*r, der lohnabhängig ist, gehört dazu. Es kann aber auch Nachteile haben, weil die Unterschiede letztlich zu groß sind: Wenn die einen aus der Managerklasse bloß Verbesserungen am Unternehmen selbst fordern wie mehr Diversity, Lohnangleichung unter leitenden Angestellten und eine Unternehmensethik, die sie besser schlafen lässt, sind die wahrscheinlicher näher an den Gründer*innen von Google als an den Forderungen der Service-Arbeiter*innen, für die es um existenzielle Lohnfragen, Absicherung und Arbeitsschutz geht.“ (S. 48)
Die sich an Protagonist*innen orientierende journalistische Form ist eingängig, ohne dass die analytische Tiefe darunter leidet. So flicht die Autorin nicht nur theoretische Debatten ein, sondern macht auch erhellende Exkurse beispielsweise zur Praxis des Union Busting.
Aus Perspektive der Kämpfenden – ohne zu romantisieren
Es geht aber nicht nur um Kämpfe in der Tech-Branche und bei Amazon. Ausführlich widmet sich Scholz etwa auch sich organisierenden Pflegekräften, streikenden Arbeiter*innen in der Landwirtschaft, Kämpfen in der Tourismusbranche und digitalen Arbeitskooperativen. Auch in diesen Kapiteln spricht die Autorin vor allem mit den statt über die Kämpfenden.
Das macht sie stets ohne Paternalismus, ohne zu romantisieren, sondern auf Augenhöhe. Sie benennt klar Probleme und spart auch nicht mit Kritik gegen Gewerkschaften, ohne diese zu verdammen. Scholz hält sich auch nicht zurück, strategische Schlussfolgerungen zu diskutieren, etwa wenn es um die Kampagne Deutsche Wohnen & Co enteignen geht, wo sie selbst aktiv ist. Sie mahnt auch hier einen langen Atem an und stellt Fragen, die keine rhetorischen sind.
„Häufig zerfallen Initiativen, wie wir gesehen haben, nach heftigen Kämpfen bald wieder. Wie sähe eine Organisation aus, die eine langfristige(re) Perspektive für aktivgewordene Mieter*innen sein könnte und auch diejenigen einbinden kann, die nicht bereits Politikerfahrungen haben und/oder eben viel Freizeit?“
Die Beispiele aus dem Buch machen Hoffnung, aber keine überschwängliche. Das ist eine große Stärke. So lädt „Die wunden Punkte von Google, Amazon, Deutschen Wohnen & Co“ dazu ein, bereits eingeschlagenen Pfaden nachzugehen, zu hinterfragen, ob immer die richtigen Wege bei Gabelungen eingeschlagen wurden und vor allem: zu verhindern, auf der Stelle zu treten.
Nina Scholz:
Die wunden Punkte von Google, Amazon, Deutsche Wohnen & Co. Was tun gegen die Macht der Konzerne?
Bertz + Fischer, Berlin, 2022
ISBN: 978-3-86505-766-2.
220 Seiten. 10,00 Euro.
Auszug aus dem von der Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderten Buch im PDF.
Dieser Beitrag wurde am 12.07.2022 auf kritisch-lesen.de, Kooperationspartner von Unsere Zeitung, unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den Nutzer_innen eine Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen zu nicht kommerziellen Zwecken.
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