Chile: Opferzonen – Gewinnmaximierung um jeden Preis
Viele Bewohner*innen der Region Quintero-Puchuncaví empfinden Resignation. Doch nicht alle wollen die Vergiftung von Mensch und Umwelt tatenlos hinnehmen.
Von Veronica Rossa (NPLA)
Rauchende Schlote, riesige Fabriken, dunkle Abgas-Wolken, Kohlestücke werden immer wieder mit den Wellen an den Strand gespült: Die Region Quintero-Puchuncaví etwa zwei Autostunden von der chilenischen Hauptstadt Santiago entfernt, ist eine sogenannte Zona de Sacrificio, eine Opferzone. Rund um den Industriehafen Ventanas haben sich verschiedene Unternehmen der Schwerindustrie angesiedelt.
Laut Enrique Aliste, Professor für Geographie an der Universidad de Chile, bezeichnet der Begriff Zona de Sacrificio ein Gebiet, das für wirtschaftliches Wachstum geschaffen wurde – ungeachtet sämtlicher Umweltschäden. In fünf Regionen Chiles finden sich solche Landstriche, wo die Natur der Industrie überlassen wird. Die entstehenden Schäden werden für das wirtschaftliche Wachstum des Landes in Kauf genommen. „Am allerstärksten leidet die Gesundheit der Menschen. Und auch die Gesundheit der Flora und Fauna, die Schäden für das Ökosystem, sind schrecklich“, sagt María Teresa Almarza mit Nachdruck. Mit den Mujeres de Zonas de Sacrificio en Resistencia, einer aktivistischen Frauengruppe in Puchuncaví, setzt sie sich gegen die Ausbeutung der Natur und die Umweltverschmutzung ein. Manche Schadstofffaktoren wie Arsen seien seit Jahren in der Region vorhanden, so Almarza, sowie unterschiedliche chemische Stoffe und Schwermetalle aus dem gesamten Periodensystem.
Wirtschaftswachstum auf Kosten von Gesundheit und Natur
2018 wurde die gesundheitliche Belastung der Bewohner*innen rund um Quintero besonders deutlich. Nach dem Austreten giftiger Gase mussten hunderte Menschen im Krankenhaus behandelt werden, zeigten Vergiftungserscheinungen wie Schwindel, Kopfschmerzen, Erbrechen. Die Betroffenen fühlen sich oft machtlos. María Teresa Almarza will sich jedoch nicht ergeben: Mit Veranstaltungen, Informationen und politischer Arbeit wollen die Mujeres de Zonas de Sacrificio en Resistencia in der Region etwas verändern. Dabei stoßen sie jedoch an viele Grenzen. María Teresa erklärt: „Hier hat sich eine Art Subsystem innerhalb des Landes gebildet, in dem das Recht auf Leben, das Recht auf Gesundheit und das Recht, in einer umweltfreundlichen Umgebung zu leben, nicht respektiert werden. Man kann sagen, dass es sich um ein Gebiet handelt, das einiger fundamentaler Rechte beraubt ist“. Geographie-Professor Aliste, der sich in seiner Forschung seit vielen Jahren mit den Industrieregionen und deren Auswirkungen beschäftigt, stimmt der Umweltaktivistin darin zu, dass die Unternehmen eine große Macht besitzen und betont, dass sich diese Situation im ganzen Land wiederholt: „und zwar überall dort, wo die Natur in irgendeiner Weise geschädigt wird.“ Im Norden kam es etwa zu einer Zunahme von Krebserkrankungen im Zusammenhang mit einer Mülldeponie mit Bergen von Unrat, in denen sich bleihaltiges Material ansammelte. Auch in diesem Fall wurden die Rechte der Menschen nicht gewahrt.
Machtlos gegen die Industrie
Die industrielle Konzentration hat enorme Auswirkungen auf Menschen und Umwelt. Viele Bewohner*innen haben sich mit der Situation jedoch abgefunden, erzählt María Teresa. Andere leugnen die Kontamination oder wollen nicht mehr über das Thema sprechen, die Aktivistin bezeichnet es sogar als „gesellschaftliches Tabu“. Ein Gefühl der Machtlosigkeit hält viele Menschen davon ab, sich gegen die Vergehen der Unternehmen zu engagieren. Für viele sind die industriellen Ansiedlungen zudem der Arbeitsplatz und somit ihre Existenzgrundlage. Professor Aliste weiß, dass daraus eine sehr komplexe Dynamik entsteht. Die Menschen kommen wegen der Arbeit – eben diese Arbeit führt aber im Laufe der Zeit zu einer enormen Verschlechterung der Umweltqualität. Ein Teufelskreis. Und Konsequenzen für die Umweltvergehen müssen die Unternehmen nicht unbedingt fürchten, denn die Klagen der Bewohner*innen werden nicht gehört, selbst wenn Regeln zur Reinhaltung von Luft und Wasser nicht beachtet werden. „Tendenziell wird zugunsten des Unternehmens entschieden, oder die Unternehmen haben günstige Bedingungen“, sagt Professor Aliste. Nicht nur öffentliche, sondern auch private Unternehmen werden gegenüber der Bevölkerung bevorzugt. Öffentliche Unternehmen haben noch einige zusätzliche Privilegien, etwa in Bezug auf Emissionsstandards. Für das nationale Kupferunternehmen CODELCO gelten beispielsweise etwas höhere Emissionsgrenzen, so der Experte. Und: „Die wenigen existierenden Normen sind durchlässig“, ergänzt María Teresa.
Doppelte Belastung in der Pandemie
Die gesundheitliche Belastung der Bewohner*innen der Region Quintero-Puchuncaví ist seit Jahren hoch. Zu Beginn der Corona-Pandemie war die Sorge vor einer erneuten Katastrophe somit groß, erzählt María Teresa. „Denn – stellen Sie sich vor – wir atmen hier bereits jeden Tag schmutzige Luft mit Feinstaub, in dem schwere Mineralien verteilt sind. Deswegen sind unsere Atemwege durch diese Verschmutzung anfälliger als die der restlichen Bevölkerung.“
Wie durch ein Wunder wurde die Region vor einer schlimmeren Katastrophe jedoch bewahrt, die Auswirkungen der Pandemie waren trotz der doppelten Belastung nicht höher als im Rest des Landes. „Aber es hätte zu einer Katastrophe führen können.“ María Teresa will sich dieser Situation nicht länger aussetzen. Sie hofft darauf, dass die neue Verfassung, die gerade in Chile ausgearbeitet wird, ihre Situation verbessert. Auch Enrique Aliste hofft auf eine Veränderung und möchte sich dafür auch mit seiner Universität und seiner Forschung einsetzen. Auch wenn die Zonas de sacrificio eine große politische Herausforderung sind, ist ihm klar, dass sich in den Regionen etwas verändern muss.
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Dieser Beitrag erschien am 21.06.022 auf npla.de, lizensiert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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