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Warum Putin kein Patriot ist

Putin bekräftigt wieder und wieder, dass er Russland wieder zu wahrer Größe verhelfen will. Aber stimmt das wirklich? Betrügt er durch sein repressives Handeln nicht vielmehr das emanzipatorische Erbe seines eigenen Landes?

Von Florian Maiwald 

Die Tragik des derzeitigen Konfliktes zwischen Russland und der Ukraine ist kaum in Worte zu fassen. Nun ist vermehrt von einem Kampf der Ideologien zu hören. Der Orient und der Okzident prallen aufeinander und nun gehe es einzig und allein darum, wer die ideologische Deutungshoheit gewinnt. Aber ist es tatsächlich so einfach? Handelt es sich tatsächlich um einen derart simplen Antagonismus zwischen Russland und dem Westen?

Um den derzeitigen Konflikt genauer zu begreifen, scheint es sinnvoll, sich von geopolitischen Erwägungen als Kausalerklärung (NATO Osterweiterung etc.) abzuwenden und sich stattdessen mit der ideologischen Grundrahmung zu beschäftigen, welche dem ganzen Konflikt zugrunde liegt.

Diese wird besonders deutlich bei einer Debatte zwischen Aleksandr Dugin – ein Philosoph, auf den Putin sich sehr häufig bezieht bzw. der von Putin gern gelesen wird – und Bernard-Henri Lévy. Während Lévy in der Debatte betont, dass er glaubt, dass Menschenrechte und Individualität nicht als etwas genuin westliches zu betrachten sind, entgegnet Dugin in typisch postmoderner Manier, dass es eben eine westliche Wahrheit (das Streben nach Emanzipation, Menschenrechte, der Wert des Individuums etc.) und eine russische Wahrheit gebe. Letztere würde sich in einem stärkeren Kollektivdenken und einer konservativeren Werthaltung widerspiegeln, die eben einfach von der “westlichen Welt“ verstanden werden müsse. Wenn man mit philosophischer Konsequenz an die von Dugin vertretene Argumentationslinie herangeht, so wird unmittelbar deutlich, dass diese die Intention verfolgt, das Prinzip des Universalismus (jeder Mensch hat unabhängig von seiner nationalen, sexuellen oder sozialen Herkunft unveräußerliche Rechte) als eine lediglich westliche Wahrheit zu kategorisieren. Die Paradoxie dieses argumentativen Manövers besteht geradezu darin, dass der im Universalismus implizierte Anspruch auf Allgemeingültigkeit mit Verweis auf seine kulturelle und soziale Relativität selbst unterminiert wird und dass es schlussendlich nie so etwas wie eine universelle Wahrheit – und damit auch universelle Menschenrechte – geben kann.

Dugin geht letztendlich so weit, zu behaupten, dass es die Bestimmung Russlands sei, wieder ein großrussisches Reich zu werden. Um Putins Handeln zu verstehen, gilt es vom Konkreten auf das Abstrakte zu gehen. Anders formuliert: Wenn man Dugins Gedankengänge besser versteht, sind auch Putins Beweggründe besser zu verstehen.

Es geht Putin nach dieser Lesart darum, Russland wieder zu wahrer Größe zu verhelfen und das geht nur, wenn man sich ideologisch vor dem dekadenten Westen schützt. Aber ist diese Relativität der russischen Wahrheit plausibel?

Krieg erzeugt nur Verlierer

Die russischen Sozialisten gegen die Kriegskoalition machen in einem eindrücklichen Statement gegen den Krieg in der Ukraine auf folgendes aufmerksam:

Wie jeder Krieg in der Geschichte spaltet auch dieser Krieg uns alle in zwei Lager: für und gegen. Die Kreml-Propaganda versucht uns davon zu überzeugen, dass die Nation geschlossen hinter der Regierung steht – und dass es die erbärmlichen Abtrünnigen, die pro-westlichen Liberalen und die feindlichen Söldner sind, die Frieden fordern. Dies ist eine unhaltbare Lüge. Dieses Mal sind die Ältesten des Kremls in der Minderheit. Die meisten Russen wollen keinen Bruderkrieg, selbst unter denen, die der russischen Regierung noch vertrauen. Sie verschließen die Augen, so gut es geht, um nicht zu sehen, wie die von Russlands Propagandisten gezeichnete Welt vor ihren Augen zerbricht. Viele hoffen immer noch, dass es sich nicht um einen Krieg handelt, schon gar nicht um einen Angriffskrieg, sondern um eine „Spezialoperation“ zur „Befreiung“ des ukrainischen Volkes. Schreckliche Bilder von brutalen Bombardierungen und Beschuss von Städten werden diese Mythen bald zerstören. Und dann werden selbst Wladimir Putins treueste Wähler sagen: Wir haben diesem ungerechten Krieg nicht zugestimmt! Schon heute haben Dutzende Millionen Menschen im ganzen Land ihr Entsetzen und ihre Abscheu über das Vorgehen der Putin-Regierung zum Ausdruck gebracht. Es sind Menschen unterschiedlicher Überzeugungen. Die meisten von ihnen sind nicht, wie die Propagandisten behaupten, Liberale. Unter ihnen befinden sich sehr viele Menschen mit linken, sozialistischen oder kommunistischen Ansichten. Und natürlich sind diese Menschen – die Mehrheit unseres Volkes – wahre Patrioten. Man sagt uns, dass die Gegner dieses Krieges Heuchler sind – dass sie nicht gegen den Krieg, sondern für den Westen sind. Das ist eine Lüge. Wir waren nie Unterstützer der Vereinigten Staaten und ihrer imperialistischen Politik. Als ukrainische Truppen Donezk und Luhansk beschossen, haben wir nicht geschwiegen. Wir werden auch jetzt nicht schweigen, wenn Charkiw, Kiew und Odessa auf Befehl von Putin und seiner Kamarilla bombardiert werden. Es gibt so viele Gründe, gegen den Krieg zu kämpfen. Für uns, die wir für soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit eintreten, sind einige davon besonders wichtig.

Zeigen jene emanzipatorischen Bestrebungen sowohl von russischer als auch von ukrainischer Seite nicht, dass es sehr wohl den Glauben an ein universelles emanzipatorisches Erbe gibt?

Wichtig ist zudem der Hinweis darauf, dass eine Ablehnung von Putins gnadenloser neokolonialer Politik nicht automatisch bedeutet ein bedingungsloser Befürworter westlicher NATO-Positionen zu sein. Putins Angriffskrieg hat nicht nur zahlreiche russische und ukrainische Menschenleben gekostet, sondern auch dazu geführt, dass sich ein Großteil der russischen Bevölkerung, bedingt durch die wirtschaftlichen Sanktionen, in den nächsten Monaten mit einem noch größeren Maß an Armut konfrontiert sehen wird. Das ist die wohl wichtigste (und tragischste) Lehre, welche aus der derzeitigen Situation zunächst zu konstatieren ist: Primär sind es sowohl die Russinnen und Russen als auch die ukrainische Bevölkerung selbst, welche durch Putins Großmachtfantasien zu leiden haben. Zudem sei darauf hinzuweisen, dass Putins Handeln in keinerlei Weise irgendeine Form der russischen Wahrheit widerspiegelt, sondern vielmehr die genuinen Machtinteressen von Putin und den reichen Oligarchen. Aber auch auf einer weiteren Ebene wird deutlich, dass es nicht um einen Krieg zwischen der ukrainischen und russischen Bevölkerung geht, sondern vielmehr um die Durchsetzung ideologisch justifizierter geopolitischer Machtinteressen. Dabei wird in diesem Zusammenhang der tragische Umstand zunehmend deutlicher, dass Putins Invasion nicht nur auf Kosten des Leids der ukrainischen und russischen Bevölkerung ausgetragen wird, sondern dass die (durchaus im Grunde gerechtfertigten) Sanktionen auch massive Auswirkungen auf andere ökonomische Strukturverhältnisse haben. So bekommen wir nicht nur wir die steigenden Ölpreise zu spüren, sondern – ein Umstand, der noch als weitaus tragischer einzustufen ist – es sind vor allem die Entwicklungsländer, welche unter den vom Westen verhängten wirtschaftlichen Sanktionen zu leiden haben werden. Jayati Ghosh macht in diesem Zusammenhang auf einen wichtigen Aspekt aufmerksam, welcher in der ganzen Debatte ebenfalls nicht vernachlässigt werden sollte. Bereits die Pandemie und der damit zusammenhängende Zusammenbruch an Lieferketten haben dafür gesorgt, dass die Hungersnot in den Entwicklungsländern dramatisch zugenommen hat. Der Krieg und die damit zusammenhängenden Sanktionen könnten diesen Umstand unmittelbar verschärfen. Die Ukraine ist einer der größten Weizenexporteure der Welt – die Unmöglichkeit von Nahrungslieferungen an Entwicklungsländer kann eklatante Hungersnöte nach sich ziehen.

Wie sollte eine links-progressive Politik mit diesem Dilemma umgehen?

Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist, wie eine links-progressive Politik sinnbringend auf die jüngsten Geschehnisse reagieren sollte. Zunächst sei anzumerken, dass Putins Angriffskrieg durch nichts zu rechtfertigen ist – auch nicht durch das Argument der NATO-Osterweiterung. Natürlich hat die NATO furchtbare Desaster verursacht. Dennoch bringt der Verweis auf völkerrechtswidrige Interventionen von NATO Staaten derzeit sehr wenig im Hinblick auf die zahlreichen leidenden Menschen des Russland-Ukraine Konflikts. Oftmals werden – so scheint es zumindest – im Diskurs bezüglich der Frage, wem im Hinblick auf den Russland-Ukraine Konflikt nun die klare Schuld zuzuweisen wäre, zwei Ebenen verwechselt. So wird oftmals behauptet – mit Rekurs auf die teilweise durchaus moralisch zu verurteilenden Auslandsinterventionen der NATO –, dass auch dem Westen eine moralische Teilschuld zukommen würde. Dieser Ansicht gilt es klar zu widersprechen. Vielmehr ist die moralische Schuld bei Putin und seinem Herrschaftsregiment ganz allein zu verorten. Jedoch mit einer Einschränkung – und um diese Einschränkung zu begreifen, bedarf es semantischer Präzision: Die “westliche“ Schuld (und hier sollte die westliche Selbstkritik tatsächlich einsetzen) liegt in dem Umstand begründet, dass wir die Rahmenbedingungen dafür geschaffen haben, dass Putin sein grauenvolles Handeln umso leichter durchexerzieren konnte.

Ein neues Zeitalter?

In diesem Zusammenhang wird zudem eine interessante Parallele zum Diskurs im Hinblick auf die Corona-Pandemie deutlich. In Bezug auf deren Vielschichtigkeit wurde immer wieder betont, dass die Forderung nach einem Zurück in die Normalität schon aus dem Grunde problematisch ist, als diese ursprüngliche Normalität in gewisser Hinsicht als der Ursprung vieler Probleme, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen, zu betrachten ist. Im Hinblick auf Putins aggressives Handeln wird ebenfalls wieder und wieder auf den Umstand hingewiesen, dass wir nun in eine neue Form der Normalität eintreten. Aber ist dem wirklich so? So wird in diesem Zusammenhang besonders häufig eine Argumentationslinie erkennbar, welche davon ausgeht, dass wir Putin einfach falsch eingeschätzt haben – ein Punkt, der auch gewissermaßen (hier schließe ich mich mit ein) stimmt. Ein Fehler, welchen es in diesem Zusammenhang jedoch unbedingt zu vermeiden gilt, sind unterkomplexe Ost-West- Gegenüberstellungen. Auch das für den sich als westlich bezeichnenden Kulturkreis charakteristische Freiheitsnarrativ ist durch klare Ambivalenzen geprägt. So sollte nicht der Umstand vergessen werden, dass Julian Assange immer noch in Belmarsh festsitzt und ihm, aufgrund der journalistischen Offenlegung von Kriegsverbrechen, in den USA 175 Jahre Haft drohen.

Die Aufgabe einer links-progressiven Politik sollte im Moment genau darin bestehen, die  Vision eines emanzipatorischen Europas zu verteidigen. Aber nicht jene europäische (inhaltlich entleerte) Wertegemeinschaft, von welcher derzeit im medialen und politischen Diskurs die Rede ist. Es sollte nicht ein Europa verteidigt werden, welches Menschenrechte dauernd deklariert, aber diese zugunsten ökonomischer Interessen am laufenden Bande verletzt. Auch kein Europa, das einzelnen Mitgliedsstaaten horrende Spardiktate aufzwingt. Ebenfalls kein Europa, in welchem dauernd vom politischen Establishment bekräftigt wird, dass einfach nicht genug Geld für Bildung und sichere Renten da ist, aber plötzlich (wie im Fall Deutschlands) diskussionslos 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung zur Verfügung gestellt werden.

Die Verteidigung des emanzipatorischen Erbes einer europäischen Vision gegenüber autokratischen Regimen kann nur gelingen, wenn wir lernen zu begreifen, dass jene Vision nicht irgendeine abstrakte Eigentümlichkeit ist, welche lediglich prägend für das westliche Denken ist. Vielmehr spiegelt sich jene Vision genau in dem Handeln der zahlreichen Protestierenden der russischen Bevölkerung wieder, welche an die europäische Vision glauben. Diese Vision leitet ebenfalls die Gedanken der zahlreichen Ukrainerinnen und Ukrainer, welche nun für ihre Freiheit kämpfen (müssen). Die Frage, die wir uns stellen sollten, ist, wie können wir dieser Vision – in der Faktizität unseres Handelns! – wirklich gerecht werden?

Hier lohnt es sich Dostojewski, einem der größten russischen Literaten, zu zitieren: „Um die Welt zu ändern, sie neu zu gestalten, müssen zuvor die Menschen sich selbst umstellen.“

Die Forderung sich selbst umzustellen, bedeutet in diesem Zusammenhang, sich der Einsicht gewahr zu werden, dass Dugins Aussage von einer Relativität der Werte – oder anders: verschiedener Wahrheiten wie der westlichen und der russischen Wahrheit – schlicht und ergreifend falsch ist. Vielmehr spiegelt sich der dem menschlichen Drang nach Emanzipation zugrunde liegende Universalismus geradezu in dem Antrieb sowohl der russischen Protestierenden als auch dem Kampfgeist der Ukrainerinnen und Ukrainer wieder.

Putin wiederum zeigt durch sein Handeln, dass er kein wahrer Patriot ist, der Russland wieder zu wahrer Größe verhelfen will – wie er es so oft bekräftigt. Vielmehr betrügt er durch sein Handeln geradezu das emanzipatorische Erbe seines Landes. Unsere Aufgabe sollte es von daher umso mehr sein, diesem emanzipatorischen Erbe ohne Widersprüchlichkeiten gerecht zu werden. Wir schulden es sowohl den zahlreichen Russinnen und Russen als auch den Ukrainerinnen und Ukrainern. Dafür brauchen wir keine Waffen, sondern lediglich eine ordentliche Portion Selbstkritik. 


Titelbild: Dimitro Sevastopol (Pixabay)

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2 Gedanken zu „Warum Putin kein Patriot ist

  • Jürgen Bachmann

    Vielen Dank für diesen Artikel, der zeigt, dass Menschenrechte und Freiheitsrechte unteilbar sind! So wird den neofaschistischen Gedankenspielen, die unweigerlich wieder in Krieg und Zerstörung enden, der universal geltende Freiheitsgedanke entgegengesetzt. Nur so lassen sich Menschenrechte für alle gewinnen. Widersetzen wir uns den Machtspielen Weniger zugunsten der Rechte aller, egal ob reich oder arm!

    Antwort
    • Florian Maiwald

      Vielen Dank für den Kommentar! Genau das war das Ziel des Beitrags! Schön, dass die Botschaft auch genau so aufgenommen wurde

      Antwort

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