Hypokrisie
100 Worte zum Sonntag von Michael Wögerer
„Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“, soll der US-Senator Hiram Johnson mitten im Ersten Weltkrieg gesagt haben. Über 100 Jahre später – am Rande des Dritten Weltkriegs – erleben wir einen neuen Höhenflug von Propaganda, Lüge und Heuchelei:
- Geschichtsvergessen ist vom „ersten Krieg in Europa seit 1945“ die Rede. Was sagen die Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien dazu?
- In Russlands Medien wird die kriegerische Invasion der Ukraine als militärische „Spezialoperation“ dargestellt. Die seit 2014 von Kiew ausgehende „Anti-Terror-Operation“ darf hier nicht unerwähnt bleiben.
- Ein sozialdemokratischer EU-Abgeordneter verteidigt Zensurmaßnahmen, um „unser System der Meinungsfreiheit“ zu schützen.
- Und das zum Stichwort Heuchelei:
Meanwhile in Afghanistan… tens of thousands seeking refuge; five million children facing famine; 500% increase in child marriages; children being sold to feed families… Not a mention of it.
My god, they must be wondering what makes their humanitarian crisis so unimportant. pic.twitter.com/VtDk5awWwk
— Clare Daly (@ClareDalyMEP) March 8, 2022
Titelbild: Propaganda (pixabay)
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Übersetzung von MEP Clare Dalys Rede im EU-Parlament:
Es besteht kein Zweifel, wir leben in Zeiten einer katastrophalen Krise, in denen das Leben unschuldiger Zivilisten in den Kriegen ihrer Herren geopfert wird.
Ja, in der Ukraine, aber nicht nur.
Seit der letzten Plenarsitzung waren Zehntausende von afghanischen Bürgern gezwungen, auf der Suche nach Nahrung und Sicherheit zu fliehen. 5 Millionen Kinder sind von einer Hungersnot, einem qualvollen und schmerzhaften Tod, einem Anstieg der Kinderheiraten um 500 % und dem Verkauf von Kindern, nur damit sie überleben können, bedroht. Und kein einziges Wort darüber. Nicht sie, nirgendwo.
Keine flächendeckende Fernsehberichterstattung, keine humanitäre Soforthilfe, keine Sonderplenarsitzungen, nicht einmal eine Erwähnung in diesem Plenum. Keine afghanischen Delegationen und keine Erklärungen.
Mein Gott, sie müssen sich fragen, warum ihre humanitäre Krise so unwichtig ist. Ist es die Farbe ihrer Haut? Liegt es daran, dass sie nicht weiß sind? Dass sie keine Europäer sind? Liegt es daran, dass ihre Probleme von einer US-Waffe oder einer US-Invasion herrühren?
Liegt es daran, dass die Entscheidung, den Reichtum ihres Landes zu rauben, von einem despotischen US-Präsidenten getroffen wurde und nicht von einem russischen?
Denn mein Gott, alle Kriege sind böse, und alle Opfer verdienen Unterstützung.
Und solange wir das nicht einsehen, haben wir keinerlei Glaubwürdigkeit.