Der Staat als Komplize?
Der staatliche Umgang mit den Missbrauchs-Verbrechen der Kirchen ist ein Skandal. Klerikale Täter können sich mithilfe des Kirchenrechts dem Strafrecht entziehen. Genießt die Kirche eine stillschweigende Unantastbarkeit? Die Justiz ermittelt zögerlich, die Politik schweigt. Eine unerträgliche Komplizenschaft. Die Demokratie nimmt Schaden.
Von Helmut Ortner
Man stelle sich einmal vor: ein weltweit agierendes Unternehmen, dessen Angestellten über Jahrzehnte Tausende Straftaten begangen haben – keine Bagatellvergehen, sondern schwere und schwerste Verbrechen – den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, von denen der Vorstand weiß. Aber er vertuscht, deckt die Täter und verhängt keine sichtbaren Sanktionen, weder gegen die Täter noch gegen deren Helfer. Normalerweise müsste man die Staatsanwaltschaft einschalten, aber das Unternehmen unternimmt nichts. Keine Frage: Staatliche Verfolgungsbehörden sähen hier Strafvereitelung, Verdunkelungsgefahr und Mittäterschaft. Unsere Justiz duldet keine kriminelle Komplizenschaft. Wir leben schließlich in einem Rechtsstaat. Eigentlich.
Doch hier geht es nicht um ein normales Unternehmen, sondern um eine Weltfirma, die als Alleinstellungsmerkmal »Barmherzigkeit« und »Glaubwürdigkeit« beansprucht: die katholische Kirche. Und dennoch: Die deutschen Staatsanwaltschaften bleiben bei der Verfolgung und Aufklärung (von Verurteilungen ganz zu schweigen) von Missbrauchs-Verbrechen weitgehend untätig.
Verleugnen und Vertuschen in friedlicher Ko-Existenz? Sexueller Missbrauch, ein sogenanntes »Offizialdelikt«, eine Straftat, die von Amt wegen von der Staatsanwaltschaft angezeigt und verfolgt werden muss, die aber weder von den Klerikern noch von den Ermittlungsbehörden mit Nachdruck verfolgt wird. Eine unerträglicher Befund. Selbst nach der Veröffentlichung neuer Missbrauchs-Gutachten, nach Bekanntwerden weiterer Sexualverbrechen, nach beschämenden Bekenntnissen verantwortlicher Bischöfe und Kardinäle, nach den Lügen eines Ex-Papstes: Es fehlt am staatlichen Willen, einer klerikalen Rechtsstaats-Verweigerung endlich ein Ende zu setzen.
Die Frage drängt sich auf: Gibt es hierzulande zwei parallele Rechtssysteme? Können sich klerikale Täter mithilfe des Kirchenrechts dem Staatsrecht entziehen? Genießt die Kirche eine stillschweigende Unantastbarkeit? Warum die Zurückhaltung der Strafverfolgungsbehörden? Warum ordnen sie nicht an, dass die Kardinäle, Bischöfe und Kirchen-Verwalter die Namen der Sexual-Täter nennen müssen? Auch wenn sich die Kirchenjuristen gerne darauf verweisen, dass staatsanwaltschaftliche Ermittlungsbefugnisse nur bedingt in den Binnenbereich der Kirche hineinwirken dürfen, muss klar sein: Der Staat hat einen Strafverfolgungsanspruch. Man nennt das Rechtsstaat.
Die Politik schweigt – warum eigentlich?
Und die Politik? Sie schweigt. Prominente Partei-Köpfe, die in TV-Talkshows sonst jeden Sturm im Wasserglas im verlässlichen Empörungsmodus wegdiskutieren, sie alle verstummen, wenn es um die klerikalen Verbrechen geht. Sie bleiben vage, wenn es um die Abschaffung von Sonderrechten und Privilegien der Kirchen geht, sie drücken sich um klare Antworten, wenn nach einer grundsätzlichen Entflechtung von Kirche und Staat gefragt wird.
So verständlich es ist, dass der gläubige Mensch nicht gerne in den Giftschrank seiner Kirche blick – der Rechtsstaat muss es tun. Wir leben in keinem Kirchenstaat, sondern einem Verfassungsstaat. Nicht vage Absichtserklärungen, wirksames Handeln ist gefragt.
Statt heiliger Dreifaltigkeit, drei überfällige, erste konkrete Schritte: Erstens: die Strafverfolgung-Behörden müssen konsequent ihre Arbeit machen. Gegen das klerikale Vertuschungs- und Schweigesystem. Es gibt keine Schonung mehr.
Zweitens: Die sogenannten Staatsleistungen sind endlich abzuschaffen! Seit mehr als 100 Jahre zahlt der deutsche Staat den beiden großen Kirchen üppige »Wiedergutmachungen« für Enteignungen vor 200 Jahren, immerhin 590 Millionen jährlich. Ein permanenter Verfassungsbruch, denn bereits in der Weimarer Verfassung – und danach ins Grundgesetz übernommen – ist die Ablösung dieser Staats-Zahlungen festgeschrieben. Die Politik aber drückt sich. Es gibt zwar einen Gesetzentwurf von FDP, Linken und Grünen – die Ampelregierung müsste ihn nur umsetzen. Aber sie tut nichts.
Drittens: Abschaffung der Kirchensteuer! Dass der Staat für die Kirchen als Inkasso-Unternehmen die Mitgliedsbeiträge eintreibt, hat historische Gründe und mag auch für ihn lukrativ, sein aber widerspricht dem Neutralitätsgebot.
Es geht nicht um die Austreibung Gottes aus der Welt. Glaubens- und Religionsfreiheit ist Menschenrecht. Demokratische Staaten garantieren religiösen Gruppen, Gemeinschaften oder Kirchen, dass sie frei agieren können, soweit sie nicht die Freiheiten anderer gefährden oder die Gesetze verletzen. Aber wir hätten keinerlei Einwände, wenn das Neutralitätsgebot endlich Anwendung fände und der Einfluss der Religionen – hierzulande vor allem der der beiden großen christlichen Konfessionen – eingeschränkt und zurückgedrängt würde, inklusive aller Privilegien und Ressourcen, Subventionen und Ordnungsfelder. Und der Gottesbezug in der Präambel unseres Grundgesetzes? Auch der darf gerne gestrichen werden. Unser Grundgesetz sollte gottlos sein.
Ob moslemische Gottes-Fanatiker, christliche Fundamentalisten, ob Hardliner des Vatikans oder alt-testamentarische Rabbiner – sie alle müssen zur Kenntnis nehmen: Wir leben in einem säkularen Verfassungs-Staat, alle Bürger*innen dürfen ihren Gott, auch ihre Götter haben, der Staat aber muss ist in einer modernen Grundrechts-Demokratie gottlos sein. Es geht darum, die Errungenschaften der Aufklärung zu verteidigen, damit Gott nicht in die Politik zurückkehrt. Der Staat vor der Religion, der Bürger vor dem Gläubigen. Die falsch verstandene Komplizenschaft von Staat und Kirche muss ein Ende haben.
Buchhinweis
Helmut Ortner (Herausgeber): EXIT – Warum wir weniger Religion brauchen
Nomen Verlag, Frankfurt – 2019, 360 Seiten
ISBN: 9783939816621
Titelbild: Nikko Tan von Pexels
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