Zum Wahlsieg von Gabriel Boric in Chile: Große Erleichterung, hohe Erwartungen
Gabriel Boric wird der nächste Präsident Chiles; die Stichwahl am 19. Dezember hat der 35-jährige Kandidat des Linksbündnisses Apruebo Dignidad überraschend deutlich gegen den extrem rechten José Antonio Kast gewonnen. Ute Löhnung ist gerade aus Chile zurückgekommen, sie hat dort beide Wahlgänge beobachtet und berichtet im Interview mit dem Nachrichtenpool Lateinamerika von ihren Eindrücken.
Ute, wie hast Du denn die Reaktionen auf das Ergebnis wahrgenommen?
Ute Löhning: Also, ich habe das vor allem als große Erleichterung wahrgenommen. Viele Leute waren sehr angespannt, vor der Wahl und am Wahltag, vor allem natürlich diejenigen, die den Putsch (durch Pinochet gegen Allende 1973) und die Diktatur erlebt hatten und riesige Sorge hatten, was passieren würde, wenn Kast gewählt würde. Sein Lager hatte angekündigt, die wegen Diktaturverbrechen Verurteilten freilassen zu wollen. Eine Riesenerleichterung, nachdem das Ergebnis der Wahl bekannt wurde mit diesem recht großen Abstand am Ende, mit dem Boric vor Kast gewonnen hat.
Nachdem der Sieg von Gabriel Boric feststand, haben ja Zehntausende Chilen*innen in der Hauptstadt Santiago gefeiert. Wie hast Du das erlebt, aus der Nähe oder aus der Ferne?
Ute Löhning: Hupkonzerte waren schon zu hören, als die ersten Ergebnisse verkündet wurden, weil ganz viele Leute auf die Straßen gezogen sind, mit dem Auto und zu Fuß und dem Fahrrad. Nach den Luftaufnahmen aus Santiago würde ich sagen, es waren Hunderttausende unterwegs, es war auch kein Rankommen an die Bühne, wo das Programm und die Rede von Boric stattgefunden haben. Auch an vielen andern Orten der Stadt wurde gefeiert, und gefeiert haben nicht nur die Anhänger*innen von Boric und Apruebo Dignidad, sondern auch andere, die nicht direkt hinter dem Projekt stehen, sondern eine kritisch solidarische Haltung haben, einfach aus der Erleichterung heraus, dass jetzt ein linkes Projekt an die Regierung kommt und nicht Kast.
Das Ergebnis schaut ja recht deutlich aus, 56 gegen 44 Prozent, das ist ja schon ein gutes Mandat für Boric. Was sind denn ab März, wenn Boric die Amtsgeschäfte übernimmt, die größten Herausforderungen für die neue Regierung? Was erwartet die Mehrheit der Chilen*innen da von Boric?
Ute Löhning: Also, die Erwartungen sind natürlich enorm, von der Abkehr vom Neoliberalismus insgesamt bis in die einzelnen Teilforderungen: Umstrukturierung des Rentensystems, Neuorganisierung des Bildungssystems und der Gesundheit, die alle auf Privatisierung fußen in Chile. Die Forderung, diese Sozialsysteme umzubauen, um allen Menschen in Chile, egal ob arm oder reich, Zugang zu Bildung, Gesundheit und auskömmlichen Renten zu ermöglichen. Und auch Wohnraum. Das sind ganz zentrale Forderungen, zu denen es in der nächsten Legislaturperiode zumindest einen Aufschlag geben muss. Ob das alles umgesetzt werden kann, bleibt abzuwarten. Zumal sich ja im Parlament, also im Senat und in der Abgeordnetenkammer, die Machtverhältnisse zwischen links und rechts so ungefähr die Waage halten und so ein paar noch nicht ganz so einzuordnende Abgeordnete dabei sind. Boric hat ja angekündigt, die Renten zu erhöhen, und er hat auch angekündigt, mit allen Lagern sprechen und nach den besten Lösungen suchen zu wollen. Ich glaube, häufig wird das dann auch heißen, nach Kompromissen zu suchen.
Vor allem das junge Chile und Frauen haben den Wahlsieg von Gabriel Boric gesichert. Was erwartet denn die Jugend, und was erwarten Feministinnen nun von Boric?
Ute Löhning: Die Jugend erwartet sicherlich gute Bildung, die für alle erreichbar ist. Man muss dazu sagen, als konkretes Beispiel: Ein Studienplatz kostet häufig umgerechnet 500 Euro im Monat. 500 Euro, das ist das Monatseinkommen, von dem 70 Prozent aller Chilen*innen leben. Das muss man sich vorstellen, was das heißt: In einer Familie mit mehreren Kindern ist es so gut wie unmöglich zu studieren. Oder aber viele Familien verschulden sich auf Jahre oder Jahrzehnte, um Kredite für Studium oder Gesundheitsversorgung aufzunehmen. Die Feministinnen haben jahrelang gekämpft für das Recht auf legale Abtreibung. Das ist im Moment bei Gefahr für das Leben der Mutter oder des Kindes legal, oder nach Vergewaltigungen. Das soll auf jeden Fall nicht zurückgedreht werden, so wie es Kast vorhatte, sondern ausgeweitet werden. Und die Feministinnen fordern unter anderem auch ein besseres System für Pflege und die Anerkennung von bislang unbezahlter häuslicher Pflege. Also den Ausbau eines staatlichen oder staatlich organisierten Systems für Pflege, wo auch klar wird, dass es nicht die reine Verantwortung von Frauen ist, sich um die Pflege von Angehörigen, von Kindern, Alten, Kranken zu kümmern.
Ute, seit Anfang Juli tagt ja der Verfassungskonvent, der innerhalb eines Jahres eine neue Verfassung ausarbeiten soll. Damit würde dann die noch seit Pinochet gültige extrem neoliberale Verfassung ersetzt. Über die neue Verfassung muss ja auch noch per Referendum abgestimmt werden. Wie wird denn Boric‘ Wahlsieg im Verfassungskonvent wahrgenommen, und wie sind hier die Aussichten?
Ute Löhning: Zunächst einmal ist der Wahlsieg von Boric wahrscheinlich die Voraussetzung dafür, dass der Verfassungskonvent weiter vernünftig arbeiten kann und dass es dann auch zu einem Referendum kommt, nachdem dann der Verfassungstext erarbeitet wurde. Das Lager von José Antonio Kast hatte ja schon versucht, die Arbeit des Konvents zu torpedieren, und dafür hätte ein Präsident Kast noch viel größere Möglichkeiten gehabt. Und gleichzeitig ist eine neue Verfassung auch die Voraussetzung für wirkliche Veränderungen der chilenischen Gesellschaftsstruktur, also um zum Beispiel für den Aufbau eines solidarischen Renten-, Gesundheits- und Bildungssystems. So bedingen diese beiden Sachen einander gegenseitig, die Wahl und der verfassungsgebende Prozess können gar nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Das vielleicht noch zum Schluss: Ich habe mit vielen Leuten gesprochen, Jungen und Alten, die sagen: „Jetzt endlich sind die Jungen dran, und nicht diese alte politische Klasse, die sich ihre Vorteile selbst erhalten hat, die sie bekommen hat, wenn sie mal wichtige Posten bekleidet hat. Jetzt kommt mal frischer Wind rein, und die Leute, die in den letzten Jahren die Protestbewegungen geführt und am Laufen gehalten haben, haben jetzt die Chance, politische Einfluss zu nehmen.“ Und viele ältere Leute haben auch gesagt, sie geben jetzt den Staffelstab ab an die Generation ihrer Kinder oder sogar Enkel, und sie freuen sich darauf.
Hier geht’s zur Audioversion des Interviews.
Zuerst erschienen am 25.12.2021 auf npla.de