Konsumideologie. Kapitalismus und Opposition in Zeiten der Klimakrise
Beim „Grünen Kapitalismus“ geht es weniger um die Bearbeitung der ökologischen Krise, als vielmehr um die Erschließung neuer kapitalistischer Akkumulationsfelder, letztlich um die Aufrechterhaltung bestehender Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Ein Vorabdruck.
Von Johannes Greß
Mitte Juni 2020 kommt es im französischen Orgeval zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen 500 Bürger*innen und 70 Polizist*innen. Flaschen fliegen durch die Luft, die Polizei setzt Tränengas ein. Szenen, die man in Frankreich, nicht zuletzt seit dem Aufkommen der Gelbwestenbewegung, in den vergangenen Jahren regelmäßig beobachten konnte. In Orgeval aber war der Grund für den Protest keine Pensionsreform und auch kein unliebsam gewordener Président, sondern ein Schnäppchen, das es so noch nie gegeben hatte: Beim Discounter Lidl sollte es die Spielekonsole PS4 zum historischen Tiefpreis von 95 Euro geben. Sollte, denn es kamen so viele Menschen, dass sich die Lidl-Mitarbeiter*innen weigerten, das Geschäft überhaupt erst aufzusperren. Zum Unmut der Konsument*innen.
Der Fall von Orgeval mag absurd klingen, vor allem, wenn man bedenkt, dass Frankreichs Gesundheitssystem aufgrund der Corona-Krise noch wenige Wochen vor diesem Vorfall kurz vor dem Kollaps stand. Er verrät aber vielleicht mehr über die soziale und politische Situation in Frankreich und in Europa, als es das Bild von ein paar vermeintlich wildgewordener Videospiel-Freaks vermitteln mag.
In einem seiner letzten Vorträge spricht der Philosoph Herbert Marcuse von einer „affirmative[n] Charakterstruktur“, die in der „westlichen Zivilisation […] verfeinert und so weit vergrößert [wurde], daß der gesellschaftlich geforderte affirmative Charakter normalerweise nicht mehr brutal erzwungen werden muß“. Eine derartige Charakterstruktur, so Marcuse, basiere auf einer „materielle[n] Grundlage“, vornehmlich einem hohen Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten und schier unendlichen Konsummöglichkeiten. Das Dogma der Herrschenden bestehe darin, das „Entstehen eines radikalen Charakters“ bereits im Keim zu ersticken.
Mit Blick auf Orgeval möchte man schmunzeln: ‚Die Revolution frisst ihre Kinder‘; die affirmativen Charakter wurden in ihrem konformistischen Übereifer zu Rebell*innen gegen das System. Sollte das überwältigende Warenangebot die Massen einst ans System binden, versuchen die Massen nun das System zu überwältigen, sobald ihre Nachfrage das Angebot übersteigt.
Es ist diese These, die Marcuses komplettes Werk durchzieht, die uns Sorgen bereiten sollte: dass es das exorbitante Warenangebot ist, das die freiwillige Unterwerfung der Massen reproduziert. Dass es weniger direkte politische Repression, Zensur oder physische Gewalt(androhung), sondern vielmehr Kühlschränke, Fidget Spinner und Weltreisen sind, die die Opposition verstummen lassen. Demgegenüber steht die Einsicht, dass diese Form der stummen Herrschaft historisch betrachtet zwar überaus erfolgreich war, aber die soziale und ökologische Unnachhaltigkeit der im Globalen Norden dominanten „imperialen Produktions- und Lebensweise“ (Brand/Wissen) immer deutlicher zutage tritt. Galten Wirtschaftswachstum und Konsumismus lange Zeit als Garanten gesellschaftlicher Stabilität, tragen deren destruktive ökologischen und sozialen Folgen zunehmend zur gesellschaftlichen Destabilisierung bei.
Regierungen und Unternehmen sind daher allerorts darum bemüht, den Spagat zu schaffen: weiterhin materielle Wohlstandszuwächse zu ermöglichen und gleichzeitig ökologische Nachhaltigkeit zu garantieren. Derlei Versuche – heißen sie nun „Grüner Kapitalismus“, „nachhaltiges Wachstum“ oder „ökologische Modernisierung“ – sind nachweislich zum Scheitern verurteilt. Diverse Studien zeigen: Eine auf Wachstum basierende Produktionsweise ist mit ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit nicht vereinbar. Ob es sich dabei um „Greenwashing“ handelt, ist letztlich irrelevant; es geht ohnehin weniger um die Bearbeitung der ökologischen Krise, als vielmehr um die Erschließung neuer kapitalistischer Akkumulationsfelder, letztlich um die Aufrechterhaltung bestehender Macht- und Herrschaftsverhältnisse.
(…)
Eine notwendige Voraussetzung dieser lautlosen Disziplinierung ist die Anrufung von Bürger*innen als Konsument*innen, als Konsumindividuen. Das kommt besonders in Form diverser Labels und Zertifikate zum Ausdruck, die die biologische, umweltschonende, nachhaltige, regionale, faire, ethische etc. Herstellung eines Produkts bezeugen sollen. Ich will und kann an dieser Stelle keine Beurteilung darüber abgeben, wie ‚ehrlich‘ solche Zertifikate sind und ob wirklich das ‚drinsteckt, was draufsteht‘. Was hier im Fokus stehen soll, ist die Form. Und diese bezeugt eine ideologische Artikulation in Reinform: diverse Zertifizierungen, die die ‚Reinheit‘ eines Produkts bezeugen sollen, bieten den Konsument*innen ein ideologisches Phantasma an, wonach das Begehren nach Konsumgütern trotz ökologischer Krise weiterhin praktiziert werden kann und soll. Die kapitalistische Reproduktion kann somit trotz vermeintlicher ‚Unregelmäßigkeiten‘ weiterlaufen – besiegelt durch das zertifizierte Versprechen, es gehe Alles mit rechten Dingen zu.
Dadurch, dass in „Geschäften […] den Waren Antworten auf alle Fragen beigefügt [sind]“, schreibt der Soziologe Zygmunt Bauman, heben Unternehmen ihre Konsument*innen in den „Rang des souveränen Subjekts“ – was dem einzelnen „Ego Auftrieb“ verleihen mag, jedoch die Verantwortung für die ökologischen und sozialen Schäden nicht den Produzent*innen, sondern den Konsument*innen aufbürdet. Letzterem steht es schließlich ‚frei‘, zu wählen, zwischen ‚nachhaltig‘ und ‚nicht-nachhaltig‘. Die Anrufung der Subjekte als verantwortungsbewusste, rationale Konsumindividuen suggeriert, die ökologische Krise könne auf individuellem Weg gelöst werden – und deren Bearbeitung liegt zugleich in der Verantwortung eines Individuums. Somit wird die ökologische Krise zur Aufgabe, „die individuell in Angriff genommen und gelöst werden muss, mit Hilfe von individuell erworbenen Konsumfertigkeiten und Handlungsmustern“.
In diesem Verständnis wird von der oder dem einzelnen Konsument*in erwartet, über Arbeitsbedingungen, Produktionsmethoden, Lieferketten, Energieeffizienz, etc. des jeweiligen Konsumobjekts en detail Bescheid zu wissen. Nur so wäre eine bewusste Entscheidung möglich, für die ein*e Konsument*in verantwortlich gemacht werden könnte.
Das Machtgefälle zwischen Konsument*innen und Kapital wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, welche Ressourcen in Psychologie, Neurowissenschaften und Verhaltensökonomie gesteckt werden, um das Kaufverhalten potentieller Konsument*innen subtil zu beeinflussen. Am Beispiel eines Duschgels zeichnet der Kulturwissenschafter Wolfgang Ullrich nach, wie ein aus Marketingexpert*innen bestehendes Orchester darum bemüht ist, eine „Choreographie der Emotionen“ rund um ein Konsumobjekt zu installieren. Von Größe, Farbe, Oberflächenstruktur über Duft, Form und haptische Wahrnehmung wird in dieser Komposition nichts dem Zufall überlassen. Bis hin zum Grande Finale: dass das Öffnen des Verschlusses „wie ein erleichtertes Seufzen“ klingt. In diesem Prozess sind diverse Marktforschungsinstitute damit befasst, mittels tiefenpsychologischer Interviews und neurobiologischen Untersuchungen „jeden noch so gut verborgenen Wunsch zu entdecken und abzusaugen. Man testet, wie einzelne Sinnesreize ankommen, welche Assoziationen ein bestimmtes Design auslöst, wie ein Produkt erlebt wird“. Kurz: Die verantwortungsbewusste Entscheidung kann unmöglich eine Bewusste sein; und trotzdem wird die Bürde der Entscheidung als eine ‚Freie‘ gepriesen.
In den Sphären des „Grünen Kapitalismus“ wird die Dominanz mächtiger Kapitalfraktionen besonders deutlich, die Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche, allen voran des Politischen, besonders schlagend. Das Thema Umweltschutz wird heute selbst von sogenannten Umwelt- oder Ökoparteien wie den österreichischen oder den deutschen Grünen nur noch selten behandelt, ohne im selben Atemzug die Relevanz von Wirtschaft(swachstum) und Arbeitsplätzen zu betonen. ‚Die Umwelt‘ muss in einer Art und Weise an die vorherrschende Produktionsweise angepasst werden, die ein Weiter-wie-bisher zulässt – und nicht umgekehrt. Das politische Terrain ist engumzäunt von EU-Konvergenzkriterien, Schuldenbremsen im Verfassungsrang und diversen ‚Sachzwängen‘, verwaltet von einer Heerschar an Technokrat*innen, die die Herrschaft der Waren und deren Institutionen wie ein göttliches Gesetz von oben herab durchzusetzen vermögen.
Es ist (zumindest in einem gewissen Sinne) erstaunlich, wie das eigentlich Existentielle, die natürliche Lebensgrundlage, gegenüber wirtschaftlichen Paradigmen und daraus abgeleiteten Imperativen ‚selbstverständlich‘ das Nachsehen hat; ganz so als ob, die Luft zum Atmen nicht den Pflanzen, sondern dem Bruttoinlandsprodukt entspringt. ‚Wie von selbst‘ ist somit auch der Umweltschutz in der Sprache der Ökonomie verfasst, die Anstrengungen zum Erhalt des Planeten müssen sich wirtschaftlichen Kennzahlen anpassen, sind stets nur Anhängsel einer höheren Ordnung, der es sich zu fügen gilt – der Umweltschutz wird zum Bittsteller einer als übernatürlich auftretenden Macht. Diese Macht verlangt nach Subjekten, die sich zuvorderst als Summe ihrer Konsumentscheidungen konstituieren, deren gesellschaftliches Engagement an der Obsttheke und nicht auf der Straße stattfindet.
Der entpolitisierende Impetus einer solchen Subjektkonstitution sieht wie folgt aus: Konsument*innen werden einerseits mit einem ideologischen Phantasma ausgestattet, in welchem freiweg geleugnet wird, dass es überhaupt Grund gibt, etwas am Bestehenden verändern zu wollen: Sie mögen von den unsäglichen Zuständen der Massentierhaltung gehört haben, den Kindern in den Coltan-Minen des Kongos, den CO2-Fußabdruck von Bananen aus Costa Rica – vergessen Sie das, kaufen Sie unser Produkt und Alles kann beim Alten bleiben! Anderseits wird die Herausbildung kollektiver Subjekte verhindert, indem die Risse und Krater an der Oberfläche der inszenierten Harmonie auf das (Fehl-)Verhalten Einzelner projiziert wird. Die antagonistische Klassenstruktur bleibt unangetastet, die Herausbildung von kollektiven, politischen Subjekten wird tunlichst verhindert – die entpolitisierende Geste par excellence.
Der Text ist ein Vorabdruck des Buches „Konsumideologie. Kapitalismus und Opposition in Zeiten der Klimakrise“, das Anfang 2022 im Schmetterling Verlag erscheint.
Johannes Greß – Konsumideologie. Kapitalismus und Opposition in Zeiten der Klimakrise
Schmetterling Verlag – 2022, ca. 15 Euro
ISBN: 3-89657-037-4
Titelbild: Ksenia Chernaya von Pexels
DANKE, DASS DU DIESEN ARTIKEL BIS ZUM ENDE GELESEN HAST!
Unsere Zeitung ist ein demokratisches Projekt, unabhängig von Parteien, Konzernen oder Milliardären. Bisher machen wir unsere Arbeit zum größten Teil ehrenamtlich. Wir würden gerne allen unseren Redakteur*innen ein Honorar zahlen, sind dazu aber leider finanziell noch nicht in der Lage. Wenn du möchtest, dass sich das ändert und dir auch sonst gefällt, was wir machen, kannst du uns auf der Plattform Steady mit 3, 6 oder 9 Euro im Monat unterstützen. Jeder kleine Betrag kann Großes bewirken! Alle Infos dazu findest du, wenn du unten auf den Button klickst.