AktuellEuropaInternationalStandpunkte

Solidarität versus Almosen

An der ungleichen Verteilung des vorhandenen Covid-Impfstoffs hat sich in den letzten Monaten kaum etwas geändert. 75 Prozent der Impfdosen sind bisher in 10 Ländern verabreicht worden, in den armen Ländern haben oft nicht einmal Gesundheitspersonal und Hochrisiko-Patient_innen Zugang zu Vakzinen.

Ein Gastartikel von Stephan Burgstaller

Viel ändert sich nicht im Umgang mit der Herstellung, Verteilung und Verabreichung von Covid-Impfstoff, auch wenn die Entwicklung der Impfstoffe gerne als Erfolgsgeschichte bezeichnet wird. Stimmt vielleicht, wenn man nur dorthin schaut und vor allem auf die nordwestliche Hemisphäre. Was die globale Verteilung und Verabreichung angeht, und das gehört nun mal dazu, beschleicht mich jedoch eher das Gefühl, in einer Zeitschleife festzusitzen, in der wir ständig mehr vom Gleichen erleben. Obwohl es ein guter Zeitpunkt wäre, Änderungen vorzunehmen.

Anne Jung von medico international:

„Der Moment ist wie geschaffen für eine breitere globale Bewegung, um das Recht auf bestmöglichen Zugang zu Gesundheit allumfassend und universell auch jenseits von Pandemien zu erstreiten. Es ist jetzt an der Zeit, eine an den Gesundheitsbedürfnissen aller Menschen ausgerichtete Politik einzufordern, die öffentliche Gesundheitssysteme gegen Kapitalinteressen verteidigt und darin auch die Macht der Pharmaindustrie begrenzt. Das ist kostengünstiger als das System von Patenten. Vor allem aber ist es im Interesse aller.“ (ganzer Text hier)

G7 hätten handeln können

Die Gelegenheit des G7-Gipfels vom 11. bis 13. Juni 2021 in Cornwall, wirksame Änderungen in der Pandemie-Bekämpfung und in den öffentlichen Gesundheitssystemen zu beschließen oder voranzutreiben, wurde verpasst und scheiterte vor allem am Widerstand der EU. Der Patentschutz der Corona-Impfstoffe bleibt und wird auch nicht zeitbegrenzt aufgehoben. Beteuerungen, dass man ja hohe Summen in COVAX investieren und Impfdosen im dreistelligen Millionenbereich spenden würde, helfen da wenig.

Gefragt wären Partnerschaftlichkeit und das RECHT auf “den Zugang zu bezahlbaren unentbehrlichen Arzneimitteln und Impfstoffen”, wie es in den SDGs unter Punkt 3, Gesundheit und Wohlergehen, gefordert wird und nicht die Degradierung der ärmeren Länder zu Almosenempfängern. Auch die Tatsache, dass eine Bekämpfung der Pandemie in den armen Ländern gleichzeitig eine Bekämpfung der Pandemie in den reichen Ländern bedeuten würde, scheint kein ausreichendes Argument zu sein. Offensichtlich wird die Gefährdung der öffentlichen Gesundheit hier wie dort in Kauf genommen, um Kapitalinteressen zu schützen. Und das vorwiegend im (meist mit öffentlichen Geldern geförderten) Privatbereich.

Dass es keinen Aufschrei gibt, wenn 2021 Länder noch so unverblümt in Abhängigkeit des Gutwill der Reichen gehalten werden, ist wohl unserer habituell imperialen Lebensweise geschuldet. Die Kolonialzeiten sind vorbei, die der imperialen Lebensweise stehen offenbar in voller Blüte. (“Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur in Zeiten des globalen Kapitalismus”, Ulrich Brand, Markus Wissen, 2017)

Recht statt Hilfe

Um die ‚imperiale Lebensweise‘ zu verdeutlichen: Mit Selbstverständlichkeit wird bei uns darüber diskutiert gesunde Kinder zu impfen, während in vielen ärmeren Ländern weder für Gesundheitspersonal noch für Hochrisiko-Patient_innen Impfstoff zur Verfügung steht. Da findet kaum jemand was Anstößiges dran, selbst wenn die Sinnhaftigkeit dieser Impfungen von vielen Experten bezweifelt wird (außer bei Vorerkrankungen oder erhöhtem Risiko für einen schweren Verlauf). Möglich ist das nur deshalb, weil die reicheren Länder so viel Impfstoff aufgekauft haben, mehr als sie brauchen. Den Mangel, den wir zuerst selbst erzeugt haben, können wir dann mit Hilfsleistungen werbewirksam bekämpfen. Damit bleiben die Abhängigkeiten bestehen und von Rechten ist keine Rede mehr.

„Immer wieder rückten auch die Diskussionen über die ungleiche Verteilung der Impfstoffe in den Mittelpunkt: Tatsächlich wurden bislang 75 % aller COVID-19-Impfstoffe in nur zehn Ländern verabreicht. In Ländern mit hohem Einkommen hat fast jeder vierte Mensch einen Impfstoff erhalten, während es in Ländern mit niedrigem Einkommen nur einer von mehr als 500 ist.“ (Genfer Depesche, Weltgesundheitsversammlung zieht erste Lehren aus der Pandemie, Juni 2021, Konrad Adenauer Stiftung).

Laut Covidvax.live können Deutschland und Österreich bei gleichbleibender Impf-Geschwindigkeit noch 2021 70 Prozent Durchimpfungsrate erreichen, Nepal dagegen erst 2024 und Kenia 2034, um zwei von unzähligen Beispielen zur Verteilungsungerechtigkeit zu nennen. Ähnliches gilt nicht nur für den Covid Impfstoff sondern auch in anderen Bereichen. Mangel besteht etwa an medizinischer Ausrüstung, geschultem Personal und der nötigen Logistik.

Warum nicht TRIPS-Waiver?

Was den Impfstoff betrifft, könnte die zumindest zeitweise Aussetzung des Patentrechts Abhilfe schaffen, der heiß diskutierte TRIPS-Waiver. Von den einen als effiziente Maßnahme der Pandemiebekämpfung gepriesen und eingefordert (Antrag von über 100 Ländern) von den anderen als nutzloses Instrument und als ‚brandgefährlich‘ verteufelt. Das Argument, ohne den Patentschutz hätte der Covid-Impfstoff gar nicht so schnell entwickelt werden können, ist schlichtweg armselig. Das hieße ja (überspitzt ausgedrückt) nichts anderes, als dass wir eine globale Bedrohung der öffentlichen Gesundheit nur dann bekämpfen würden, wenn satte Gewinne winken.

Eine von neoliberal-marktradikaler Ideologie durchsäuerte Weltanschauung, deren Verbreitung wohl nicht zuletzt eine Folge der oben erwähnten habituell ‚imperialen Lebensweise‘ ist. Wir fühlen uns im Recht, uns zu nehmen, was wir brauchen oder haben wollen, Schäden und Abfälle werden ausgelagert, die Ausbeutung von Mensch und Natur in anderen Ländern schlichtweg ausgeblendet, damit wir in Ruhe und ohne schlechtes Gewissen unsere Bedürfnisse befriedigen bzw. aktuell die Pandemie innerhalb des eigenen Landes eindämmen können. Die Inszenierung von Hilfslieferungen dient dann vorwiegend der Kosmetik und wenn nötig der Beruhigung des Gewissens

Hilfe UND Systemänderung

Nicht, dass es nicht gut wäre, Länder, die es brauchen, schnell mit Impfstoff zu versorgen, und wenn es jetzt über Spenden ermöglicht werden kann, dann eben über Spenden. Je mehr und je schneller, umso besser. Es darf aber nicht dabei bleiben, es ist nicht die Lösung und kein Ersatz für die notwendigen Änderungen. Gleichzeitig muss an Systemänderungen gearbeitet werden, damit es zu so einer Situation gar nicht mehr kommen kann. Recht statt Hilfe, echte Solidarität statt Almosen und formelle Beteiligung der Zivilgesellschaften, wenn es um Anliegen der öffentlichen Gesundheit geht, lokal und global.

Stephan Burgstaller ist Klinischer- und Sozialpsychologe 

Titelbild von Frauke Riether auf Pixabay 

Artikel teilen/drucken:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.