Der österreichische Sozialstaat: Schutz in der COVID-19-Krise, aber Verbesserungen notwendig
Die COVID-19-Krise verdeutlicht, wie unverzichtbar ein gut ausgebauter Sozialstaat für breite Bevölkerungsschichten ist. Bestehende Mängel in der sozialen Absicherung – etwa für Armutsgefährdete, Alleinerziehende, Jugendliche oder Solo-Selbstständige bzw. die geringe Höhe des Arbeitslosengeldes – wurden bislang aber nur unzureichend behoben. Nun gilt es, den Sozialstaat auszubauen und seine Finanzierungsbasis zu verbreitern. Damit kann nicht nur die Arbeitslosigkeit abgebaut werden, sondern die Lebensbedingungen der meisten Menschen können verbessert werden.
Von Jana Schultheiß und Julia Hofmann (A&W-Blog)
Pandemie trifft auf ausgebauten Sozialstaat
Nach jahrzehntelangen neoliberalen Angriffen auf den Sozialstaat wird spätestens in der COVID-19-Krise deutlich, wie unverzichtbar er für uns alle ist. In einer ausgebauten Form erfüllt der Sozialstaat vielfältige Aufgaben: er sichert die Menschen vor Risiken und in schwierigen Lebenslagen ab, trägt zum Erhalt des sozialen Friedens bei, ermöglicht benachteiligten Gruppen gesellschaftliche Teilhabe und fungiert als stabilisierende Kraft.
Im internationalen Vergleich gibt Österreich überdurchschnittlich viel Geld für den Sozialstaat aus. Diesen Ausgaben steht auch ein hohes Niveau an Sozialleistungen gegenüber. Der neoliberale Umbau des Sozialstaates durch einen Abbau von Leistungen und eine Individualisierung sozialer Risiken fand in Österreich in einem weit geringeren Umfang statt als in anderen europäischen Ländern. Partiell war sogar eine Weiterentwicklung des Sozialstaates zu verzeichnen (Pflegesystem, Bedarfsorientierte Mindestsicherung). So traf die Pandemie im März 2020 in Österreich auf einen funktionstüchtigen Sozialstaat.
Ein aktuell besonders relevantes Beispiel für den immer noch gut ausgebauten Sozialstaat ist das Gesundheitssystem. In vielen Ländern sind in den vergangenen Jahren Bettenkapazitäten unter dem Schlagwort der Effizienzsteigerung abgebaut worden. Auch in Österreich wurde die angeblich zu hohe Zahl der Spitalsbetten oft kritisiert und auf große Einsparpotenziale verwiesen. Laut einer aktuellen OECD-Studie liegt Österreich aber im Vergleich von 33 OECD-Staaten immer noch auf Platz 5 bei den Akutbetten und im Vergleich von 22 OECD-Staaten mit rund 29 Intensivbetten pro 100.000 EinwohnerInnen auf Platz zwei hinter Deutschland. Unter anderem die bisher ausreichende Zahl an Intensivbetten scheint die Menschen in Österreich bislang vor Schlimmerem bewahrt zu haben.
Lücken und Baustellen wurden in der Krise sichtbar
Das österreichische Sozialsystem dient als Stabilitätsanker in der COVID-19-Krise und sichert die breite Mitte der Bevölkerung ab. Allerdings offenbart die Krise auch, wo seine Lücken und Verbesserungspotenziale liegen. So zeigt sich etwa, wie schnell abrupt eintretende Phasen der Arbeitslosigkeit Angehörigen der „abgesicherten Mitte“ die materielle Basis für das (Über-)Leben entziehen können, wenn sie der Sozialstaat nur bedingt unterstützt.
Bevölkerungsgruppen, die es schon vor der COVID-19-Krise nicht leicht hatten (z. B. Menschen, die von Armut betroffen sind, Frauen mit Mehrfachbelastungen, etwa Alleinerzieherinnen), und Menschen mit prekärer oder unsicherer Arbeit, die oft auch als Solo-Selbstständige tätig sind), treffen die Auswirkungen der Pandemie besonders hart. Gerade für sie werden die Lücken und unzureichenden Absicherungen im Sozialsystem besonders deutlich.
Zentrales Problem bleibt die Arbeitslosigkeit. Alarmierend sind zum einen die Betroffenheit vieler junger Menschen, denn der Einstieg in den Arbeitsmarkt ist besonders wichtig für den Verlauf der weiteren Erwerbskarriere, und zum anderen die Zunahme der Langzeitarbeitslosigkeit. Einmal mehr wird deutlich, dass die – international verglichen – relativ niedrige Nettoersatzrate beim Arbeitslosengeld von rund 55 Prozent keineswegs ausreicht.
Auch wenn eine Zunahme von Armut in den aktuellen Armutsstatistiken noch nicht ersichtlich ist, erwarten ForscherInnen einen Anstieg in den kommenden Jahren. Geringfügige Jobs, mit denen sich viele Armutsbetroffene vor der Krise etwas Geld dazuverdient haben, sind in der COVID-19-Krise oft als Erstes gestrichen worden. Zu diesen erheblichen finanziellen Problemen mehrten sich für Armutsbetroffene gesundheitliche und psychische Probleme.
Lehren ziehen – Rückenwind nutzen
Es gilt nun den Rückenwind aus der bestandenen Bewährungsprobe für den Sozialstaat für dringend nötige Verbesserungen zu nutzen. Im Fokus muss dabei eine offensive Arbeitsmarktpolitik stehen. Zentrale Ziele der Arbeitsmarktpolitik müssen jetzt folgende sein:
- Erhalt der Arbeitsplätze der KurzarbeiterInnen auch über die Behaltefrist hinaus
- arbeitslos gewordene Menschen möglichst gut zu unterstützen bzw. weiter zu qualifizieren
- Einführung einer öffentlichen Jobgarantie für Menschen, die sonst keine Beschäftigung mehr finden
- die Zahl der Arbeitslosen so rasch wie möglich auf das Vorkrisenniveau zurückzubringen
Zudem muss die Arbeitsmarktpolitik auf die besondere Betroffenheit bestimmter Gruppen, wie etwa Jugendlicher und junger Erwachsener, reagieren. Hier sind auch „kreative“ kurzfristige Lösungen gefragt, wie etwa eine Ausweitung von Ausbildungsplätzen in überbetrieblichen Lehrwerkstätten, weiterführenden Schulen, Fachhochschulen und Universitäten. Auch hat die COVID-19-Krise gezeigt, dass über eine bessere Absicherung von (kleinen) Selbstständigen im Sozialsystem nachgedacht werden sollte.
Die genannten Maßnahmen im Bereich des Arbeitsmarktes sind sowohl für die Bekämpfung bestehender als auch zur Verhinderung neu entstehender Armut von zentraler Bedeutung. Weitere Maßnahmen in der Armutspolitik reichen vom Bildungssystem (aktuell insbesondere mit Fokus auf das Home-Schooling) über das Gesundheitssystem (inkl. Zugang zu kostenlosen psychotherapeutischen Angeboten) bis zu Wohnfragen (Wohnungssicherung, Energiearmut). Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung müssen angehoben und die 2019 beschlossenen Verschlechterungen in der Sozialhilfe zurückgenommen werden. Perspektivisch sollte die Mindestsicherung an die Armutsgefährdungsschwelle angepasst werden.
Investitionen in den Sozialstaat
Zudem sind nun möglichst rasch weitere Investitionen in den Sozialstaat notwendig, die sich aus bestehenden Ausbau- und Reformnotwendigkeiten ergeben und aufgrund ihrer Beschäftigungsintensität auch zur nachhaltigen Bekämpfung der COVID-Arbeitslosigkeit beitragen können:
- Kinderbetreuungseinrichtungen: Umsetzen des geforderten Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz und Ausweitung der Investitionen im Bereich frühkindlicher Bildung von derzeit ca. 0,7 Prozent auf den EU-Schnitt von 1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.
- Schulen: Erweiterung des AK-Chancen-Index-Modells, das eine Zuteilung von mehr finanziellen Mitteln für Schulen mit besonderen Herausforderungen vorsieht, auf mindestens 500 Schulen; Einstellung zusätzlichen pädagogischen Unterstützungspersonals zur Bewältigung der pädagogischen Herausforderungen der COVID-19-Krise; massive Mittelaufstockung im Bereich der Erwachsenenbildung.
- Langzeitpflege: Umsetzung des AK-Sofortmaßnahmenpakets mit Investitionen von 1,7 Mrd. Euro: Aufstockung des Personals in Pflegeheimen um 20 Prozent, Ausbau der Betreuung und Pflege zu Hause, flächendeckende Ausrollung von psychosozialer Angehörigenberatung, Abschaffung der Selbstbehalte und Qualitätsverbesserungen in den mobilen Diensten sowie eine Verringerung des Lohnunterschieds zum akutstationären Bereich.
Die COVID-19-Krise hat auch die Notwendigkeit von progressiven Gleichstellungsmaßnahmen deutlich gemacht, etwa einem Rechtsanspruch auf kostenlose Kinderbetreuung, Karenzmodelle, die eine ausgeglichene Aufteilung der Karenzzeiten zwischen den Eltern auch wirklich fördern. Zudem ist eine mit den entsprechenden Mitteln ausgestattete Frauenpolitik sowie eine konsequente Anwendung von Gender-Mainstreaming bzw. -Budgeting dringlicher denn je.
Künftige Herausforderungen für den Sozialstaat
Neben den oben genannten dringend notwendigen Verbesserungen dürfen auch grundsätzlichere Weiterentwicklungen nicht aus dem Blickfeld geraten. Es wird Zeit, emanzipatorische Elemente des Sozialstaats voranzutreiben, die bestehende Machtverhältnisse nicht erhalten, sondern aufbrechen: Arbeitszeitverkürzung, stärkere Orientierung an Care-Leistungen, Sozialstaat als elementarer Teil einer wohlstandsorientierten Wirtschaftspolitik. Hierzu gibt es auch deutlichen Rückenwind durch die Bevölkerung: Fast 90 Prozent der Befragten einer Studie wünschen sich eine Ausweitung des Sozialstaates.
Darüber hinaus ist es wichtig, auch längerfristige Weichenstellungen zu treffen und die großen Herausforderungen im Bereich der Verteilungsgerechtigkeit, der Digitalisierung, des Klimaschutzes und des demografischen Wandels anzugehen. Allein durch die demografische Entwicklung wird es in Zukunft zu Kostensteigerungen im Sozialstaat kommen – dies betrifft aufgrund einer wachsenden und alternden Bevölkerung besonders die Ausgaben im Gesundheits- und Pflegesystem. Staatliche Investitionen müssen Digitalisierung und Klimapolitik adressieren und gleichzeitig die Zahl von VerliererInnen dieser Entwicklungen minimieren sowie deren Verluste ausgleichen. Die Bewältigung der Klimakrise und der Digitalisierung ist somit auch vorausschauende Sozialpolitik.
Andere Formen der Finanzierung sind gefragt
Die Aufgaben des Sozialstaates werden in den kommenden Jahren wachsen: Klimakrise, Folgen der Pandemie, demografische Faktoren und der technologische Wandel müssen aktiv gestaltet werden, was auch eine gewaltige und kostenintensive Modernisierung des öffentlichen Kapitalstocks beinhaltet. Auch notwendige Investitionen in einen Ausbau des Sozialstaats und eine Erweiterung des BezieherInnenkreises sozialer Leistungen benötigen eine entsprechende Finanzierung.
In der Vergangenheit wurde der Ausbau des Sozialstaates stets über einen Anstieg der Abgaben finanziert: Seit den 1970er-Jahren haben sich die Sozialquote und die Abgabenquote in Österreich weitgehend parallel entwickelt. Diese Abgaben sind in Österreich weitgehend an Arbeitseinkommen geknüpft. Aufgrund der bereits hohen Besteuerung der Arbeitseinkommen ist eine Fortsetzung dieses Weges abzulehnen. Vielmehr müssen weitere Einnahmequellen gestärkt werden.
Insgesamt muss es um eine Verbreiterung der Finanzierungsbasis des Sozialstaates gehen: Dies umfasst u. a. progressive Steuern auf Vermögen, Erbschaften, Kapital- und Spitzeneinkommen, aber auch die Bekämpfung von Steuerbetrug bzw. Steuertricks und neue Steuern, die z. B. im Zuge von Digitalisierungsprozessen diskutiert werden sollten.
Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine überarbeitete und stark gekürzte Fassung des Editorials der Zeitschrift „Wirtschaft und Gesellschaft“, 2020, Band 46, Nr. 4. In dieser Ausgabe finden sich u. a. interessante Beiträge zur geschlechtsspezifischen Pensionslücke und zu Erwerbsverläufen und zum psychischen Wohlbefinden während der SARS-CoV-2-Pandemie in Österreich.