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Vom Suchen und Finden: Zwischen den Buchdeckeln

Zwischen den Buchdeckeln wartet gelebte Geschichte darauf wiederentdeckt zu werden. Doch es sind viel zu viele Bücher, um sie alle zu lesen. Trotzdem lohnt es sich mit den historischen Texten und der Geschichte linker Bewegungen vertraut zu machen, um historisches Bewusstsein zu erlangen und bestenfalls die Tendenzen miteinander zu versöhnen.

Eine Kolumne von Andreea Zelinka (Rotes Antiquariat Wien)

Text ist geschriebenes Wort, gelesenes Wort, gedachtes Wort, gesprochenes Wort. Text ist Schrift, die darauf wartet lebendig zu werden. Text ist Zeit, indem sich Vergangenes eröffnet und ständig darauf wartet, entdeckt zu werden, festgeschriebene Lebendigkeit von Gedanken, die überdauern.

In einem Text von Louise Michel las ich den Satz: „Das ist kein Buch, wer immer es berührt, berührt einen Menschen.“ Der ist von Walt Whitman und ich finde ihn treffend. Im Antiquariat, aber auch sonst, habe ich oft das Gefühl, dass mir Dinge begegnen, die mir darüber Aufschluss geben, wer war. Nicht nur weil es Texte sind, die davon berichten oder Zusammenhänge erklären, sondern einfach, weil sie durch das was war geworden sind. Dort war ein Mensch, der eine Leinwand bemalte, hier steht ein Stuhl, den jemand gestern baute, um mich heute setzen zu können. Daneben ruht der Text zwischen den Zeilen, die gelesen werden wollen – nimm das Buch in die Hand, stöber in den Gedanken anderer, längst vergangener Menschen.

Das Werk und der Staub sind die Reliquien der Geschichte. Bücher sind Bruchstücke dieser und vieler anderer Erzählungen. Genauso wie eben alles andere, das die Lebewesen dieser Erde erschaffen.

Aneignung

Für Louise Michel legte sich der Staub auf die Trümmer der bald begrabenen Welten. In ihrem Text „Prise de Possession – Aneignung“, der von Eva Geber übersetzt und in dem Band „Louise Michel. Texte und Reden“ bei bahoe books 2019 von ihr herausgegeben wurde, spricht Michel über die Revolution, die nicht notwendigerweise, sondern unausweichlich kommen werde. Oscar Wilde schrieb einst: „Progress is the realization of Utopias.“ Ich denke, Revolutionen sind gelebte Utopien; wir segeln von Revolution zu Revolution und erreichen so wieder und wieder neue Welten.

Die Vorstellung des technokratischen Zukunftsstaats eines Thomas Morus ist nicht gerade einladend. Auch wenn es nachvollziehbar ist, dass im Mittelalter eine autoritäre Ordnung zum Wohle aller wahrlich utopisch klang, wissen wir, dass Überwachung bis hin zur Kapitalisierung jedes Bits und Bytes und jeder freien Minute schädlich ist für die schöpferische Kraft, die in uns liegt. Auch wenn Utopia für immer mit seinem gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1516 in Verbindung stehen wird, mache ich mich für ein utopisches Denken stark, dass ständig dazu herausfordert für sich selbst zu denken und dazu anspornt, die eigenen Gedanken zu überprüfen und in Frage zu stellen (ohne daran zu krepieren, versteht sich).

Grenzgedanken

Für manche erzeugt das Chaos, für andere Harmonie. Wenn wir ständig die Grenzen unserer gesellschaftlichen Rollen pushen und herausfordern, gelangen wir an die Grenzen der Macht. Die Grenzgedanken werden zu Erfahrungen, die uns dabei helfen aus den kapitalistischen Verhältnissen auszubrechen. Utopisches Denken ist handelndes Denken. Ja, sich zu befreien ist anstrengend. Leider kann das niemand für uns übernehmen, wir müssen uns selbst von den Fesseln unserer Überzeugungen befreien.

Gelebte Geschichte ist etwas anderes als die historischen Texte, die die Buchdeckel konservieren. Geschichte wird lebendig durch Tat und Sprache. Und außerdem kann eins wirklich nicht alles lesen, zu viele Bücher! Heute ist es leicht möglich, auf das gesprochene Wort auszuweichen, mit zum Beispiel Hörbüchern und Podcasts. Bei Anarchie&Cello werden regelmäßig anarchistische Texte vorgelesen, die in die historische Arbeiter_innenbewegung und revolutionäres Denken einführen.

Versöhnung

Warum ist das wichtig? Unabhängig von der eigenen Tendenz, d.h. wo auf dem Spektrum linker Ideengeschichte ich mich befinde, und auch unabhängig davon, wie die einzelnen Strömungen sich zueinander verhielten und sich heute noch positionieren, wünschen sich die meisten Linken Revolution und Evolution, um endlich den Kommunismus des 21. Jahrhunderts zu erschaffen. Dafür ist es nötig, das eigene Verhältnis hinsichtlich revolutionären Ideen und Strategien zu klären und, das hier mit Betonung, sich eingehend und ohne Unterlass den komplexen Fragestellungen von Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit zu stellen.

Nicht weil ich etwa so auf Stress stehe, sondern weil das komplizierte Rätsel sind, die sich nicht von allein lösen. Mir ist erst einmal egal wo sich jemand auf dem Spektrum findet. Es gilt die eigene Position zu verstehen, zu entwickeln und zu festigen, um sich ins Verhältnis mit anderen setzen zu können. Worauf ich hinaus will: Wer denkt, er*sie lebe in einem Vakuum, in dem sie nicht von den historischen Ereignissen berührt ist, die die Gegenwart gebärt haben, täuscht sich leider. Die 68er, die Friedens- und Bürger_innenrechtsbewegung – was glaubt ihr denn, wo der Ruf nach Individualismus und Freiheit, die pazifistische Idee oder Menschenrechte herkommen? Ihr Ursprung liegt weiter zurück als im Mittelalter, sie fanden aber damals ihren Ausdruck bis hin zur Entstehung der sozialistischen Bewegungen und Gesellschaftskritik im 18. und 19. Jahrhundert.

Ich will kein beef oder so, sondern left unity und bin der Meinung, dass sich anti-autoritäre Bewegungen miteinander versöhnen lassen.


Titelbild: Dariusz Sankowski auf Pixabay 

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