Recht auf Bildung
In Österreich entscheidet soziale Herkunft mehr als in vielen anderen Ländern über den Bildungserfolg. Diese Ungerechtigkeit führt uns die OECD-Studie „Education at a Glance“ Jahr für Jahr vor Augen. Die Coronakrise verschärft die Situation. Nun hat eine Klage gegen die Schulschließungen den Verfassungsgerichtshof erreicht.
Von Tamara Ehs
So sehr wie in kaum einem anderen OECD-Staat wird der Bildungsstatus in Österreich vererbt. Trotz der seit Langem vorliegenden Daten scheint das Bildungsministerium aber erst im Zuge des „Homeschoolings“ beziehungsweise „Distance Learnings“ erfahren zu haben, wie viel Tausende Kinder in Österreich in relativer Armut leben: Ein eigener PC sowie Breitbandinternet oder gar ein ruhiger Arbeitsplatz zählen nicht zur Grundausstattung jedes Haushalts; und allzu viele Eltern können ihren Kindern nicht bei der Bewältigung des Lernstoffes helfen oder sich gar Nachhilfe leisten. In diesem Zusammenhang war die Entscheidung, Kindergärten, Schulen und Universitäten im Frühjahr als Erste zu schließen und als Letzte wieder zu öffnen, umso weniger nachvollziehbar. Dem Recht auf Bildung, verankert im Artikel 2 des 1. Zusatzprotokolls der EMRK sowie im Artikel 14 der EU-Grundrechtecharta, wird seit Beginn der Krise nur unzureichend, weil sozial selektiv nachgekommen.
Laut Erhebung des Instituts für höhere Studien (IHS) unter Lehrer_innen benachteiligt das bildungspolitische Coronakrisenmanagement der Regierung besonders Kinder, die wegen Sprachproblemen oder aufgrund des formalen Bildungsstatus der Eltern schon zuvor als unterprivilegiert eingestuft gewesen waren. Die soziale Kluft ist in den Monaten des Homeschoolings so sehr gewachsen, dass Studienleiter Mario Steiner eine wachsende Zahl von Schulabbrecher_innen mit noch mehr arbeitslosen Jugendlichen als Spätfolge befürchtet. Bedenkt man außerdem, wie sehr sich der Migrationshintergrund auch schon in Normalzeiten auf die Bildungsabschlüsse und darauf basierend auf politische Beteiligung auswirkt, muss man die Kindergarten- und Schulschließungen als Kollateralschäden in Hinblick auf die Schwächung der Demokratie erkennen.
Mittlerweile brachten zwei Innsbrucker Rechtsanwälte im Namen ihrer Kinder einen Individualantrag beim Verfassungsgerichtshof (VfGH) ein. Denn sie bezweifeln die Rechtmäßigkeit der neuerlichen Schulschließungen im zweiten Lockdown. Da die evidenzbasierte Argumentation fehle und sich die Coronaampelkommission gegen Schließungen ausgesprochen hatte, handle es sich wohl nicht um das gelindere Mittel. Der VfGH hat erst vor wenigen Wochen mehrere CoViD19-Maßnahmen (u.a. die Regelung zum Mindestabstand der Tische in der Gastronomie) aufgehoben, weil die Entscheidungsgrundlagen unzureichend dokumentiert waren: „Bei allen als gesetzwidrig erkannten Bestimmungen war aus den dem VfGH vorgelegten Akten nicht nachvollziehbar, auf Grund welcher tatsächlichen Umstände die zuständige Behörde – der Gesundheitsminister – die jeweilige Maßnahme für erforderlich gehalten hat. Dies verstößt aber gegen die gesetzliche Ermächtigung im COVID-19-Maßnahmengesetz bzw. im Epidemiegesetz.“
Bundesminister Heinz Faßmann hatte sich noch Anfang November medienöffentlich auf Grundlage der Ampelkommission gegen Schulschließungen ausgesprochen, war dann aber von Sebastian Kurz auf harte Linie gebracht worden. Das autoritäre Machtwort eines Bundeskanzlers mag auf den Titelseiten der Boulevardzeitungen Eindruck machen, genügt den Anforderungen eines demokratischen Rechtstaates jedoch nicht. Für die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen sind Begründungen notwendig, die öffentlich nachvollziehbar zu erfolgen haben. Die Verfassungsklage hat demnach gute Chancen, zumal laut Jurist Heinz Mayer auch die Kompetenz in Frage steht, weil aus seiner Sicht nicht das Bildungs-, sondern das Gesundheitsministerium rechtlich zuständig wäre.
Sei es das Recht auf Bildung, auf persönliche Freiheit oder auf Erwerbsfreiheit: Grundrechte und Rechtstaatlichkeit scheinen für diese Regierung wenig Bedeutung zu haben und müssen stets erst von den Gerichten eingemahnt werden. Die Vorhersehbarkeit des Rechts, eine der Stützen demokratischen Zusammenlebens, geht im Laufe der Coronakrise zusehends verloren. Dieser nicht ohne Absicht herbeigeführte Steuerungsverlust des Rechts trifft auf einen autoritären Diskurs, die Verfassung gar nicht einhalten zu wollen, indem allen voran der Bundeskanzler sie als „juristische Spitzfindigkeit“ in die Bedeutungslosigkeit redete.
Was hat Bundesminister Faßmann eigentlich den Sommer über getan? Einen sozial ausgewogenen Maßnahmenplan für die Schulen hat er nämlich nicht erstellt. Vielmehr bereitete er eine Novelle des Universitätsgesetzes vor, um soziokulturell und ökonomisch benachteiligten Studierenden das Leben weiter zu erschweren und durch die Schwächung der Senate die Entdemokratisierung der Universitäten zum Abschluss zu bringen. Jetzt, ein paar Tage vor dem geplanten Ende des zweiten Lockdowns richtet das Bildungsministerium einen Brief an die Gemeinden mit der Bitte, „die Möglichkeit zusätzlicher gemeindeeigener Räumlichkeiten (Festsäle, Gemeindesäle, Mehrzweckhallen, Schulungsräume etc.) zu prüfen“. Während Waffengeschäfte offenhalten dürfen und der Tiroler „Adler-Runde“ die Rettung der Skisaison um jeden Preis versprochen wird, haben Kinder und Jugendliche keine Lobby. Wenn die Regierung derart grobe Ungleichbehandlung schafft, erzeugt sie damit nicht nur ein rechtliches Problem, sondern schürt zusehends Zweifel daran, dass es in der Gesellschaft fair zugeht – was letztlich die Solidarität des Gemeinwesens nachhaltig untergräbt.
Tamara Ehs ist Wissensarbeiterin für Demokratie und politische Bildung. Dabei berät sie auch Städte und Gemeinden in partizipativen und konsultativen Prozessen. Sie ist Trägerin des Wissenschaftspreises des österreichischen Parlaments. Soeben ist ihr neuestes Buch „Krisendemokratie“ (Wien: Mandelbaum Verlag 2020) erschienen.
Titelbild: olia danilevich from Pexels
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