Aufrüstung durchbuchstabieren
pMS brauchen LoA und FSFP durch PESCO und EDF via CARD mit EDA, EAD und EUMS. Dabei helfen JEIS, H3T, UGS und CBRNDTR. Alles klar? Wenn nein – so die Kritik –, ist ein wichtiges Ziel bereits erreicht.
Von Thomas Roithner
Die Pferde sind nicht mal gesattelt, um in den USA die Stimmen der Wahlmänner auszählen zu können – schon gab’s in der EU Wickel um die Eigenständigkeit von den USA betreffend Rüstung und Truppen. Die „Strategische Autonomie“ der EU sollte die 27 einigen, aber wirkt auch spaltend. Emmanuel Macron will, dass die EU beim Militärischen souverän ist und aus Berlin tönt Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer, dass diese Illusion enden müsse. Ein NATO-freundlicherer Biden sei schließlich kein Trump, so Berlin. Ein NATO-freundlicher Biden sei keine Hilfe, die ökonomischen und politischen EU-Interessen durchzusetzen, so Paris. Ein bereits Jahrzehnte währender transatlantischer Grundkonflikt findet seine Fortsetzung.
Über EU-Militärprojekte, Rüstungsgelder und Truppen wurde letzte Woche am 20.11. Zwischenbilanz gelegt. Die Schlussfolgerungen des Rates über 47 im Wesentlichen militärische Kerneuropaprojekte wurden vorgelegt und die EU-Rüstungsagentur (European Defence Agency, EDA) hat ihren ersten Überblick im Rahmen von CARD – der Koordinierten Jährlichen Überprüfung der Verteidigung – vorgelegt. Der Knackpunkt: Milliarden für die Rüstungsindustrie in Zeiten von Corona. Das Ziel: ein kohärentes full spectrum force package (FSFP), also land-, luft-, weltraum- und seeseitige Fähigkeiten, cyber – also C4ISR – all inklusive. All das ergibt ein „Level of Ambition“ und mit LoA gibt es ein neues Kürzel, welches im EU-Kontext schon für zahlreiche andere Bedeutungen steht. Nachvollziehbarkeit sieht anders aus.
EU-Charakteränderung
Großbritannien entschied 2016 für den Austritt aus der EU und verändert damit den sicherheitspolitischen Charakter der verbleibenden 27. Die transatlantische enge Verbindung – für Großbritannien geht in der Sicherheit nichts ohne USA und NATO – ist seither locker geworden und jenseits des Atlantiks leistete US-Präsident Trump jede Art von Schützenhilfe. Dass die USA kocht und die EU den Abwasch besorge, sollte besonders aus französischer Sicht der Vergangenheit angehören.
Seit dem Referendum zum EU-Austritt im Juni 2016 wurden in den folgenden 18 Monaten ruckzuck eine Reihe Einrichtungen zu Papier gebracht oder operativ, die die EU bei autonomer Rüstung und Militäreinsätzen voranschreiten lassen. Der milliardenschwere EU-Rüstungsfonds (EDF, European Defence Fund), das militärische Kerneuropa (PESCO, Permanent Structured Cooperation) und auch CARD (der militärische Überprüfungsmechanismus) wurden hervorgebracht. CARD entsteht unter der EU-Rüstungsagentur (EDA, European Defence Agency) in Kooperation mit dem Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD oder EEAS, European External Action Service) und sein nunmehr vorliegender erster Bericht wird in Zusammenarbeit mit dem EU-Militärstab (EUMS) vorgelegt.
Die EU-Einrichtungen und -institutionen zur militärischen und rüstungsindustriellen Entwicklungen sind eng verzahnt. Ein Erfolg von PESCO ist ohne Milliarden aus dem Rüstungsfonds nicht denkbar. EU-Militäreinsätze werden ohne PESCO-Projekte und politische Rüstungsappelle durch CARD zunehmend weniger erreichbar. Die Aufgabe der EU besteht nicht nur aus Koordination, sondern sie stellt heute in puncto Rüstung und Truppen einen gewaltigen Mehrwert dar.
Neues zu Truppen und Rüstung
Der CARD-Prozess hat 55 Optionen und sechs Fähigkeiten der nächsten Generation ausgearbeitet. Folgende militärische Bereiche sind mit Optionen bedacht: Land (17 Optionen), Luft (14), See (12), Cyberspace (3), Weltraum (4) und Joint & Enabler (5). Der Bericht hat Schwerpunktbereiche zu den Fähigkeiten benannt: Beim Kampfpanzer arbeiten elf Staaten zusammen, dem Europäischen Überwasserschiff der Patrol Class kooperieren sieben Staaten, zehn Staaten arbeiten zur Modernisierung der Infanteriesysteme und eine jeweils unbekannte Zahl von Staaten wirken in den Bereichen der Abwehr unbemannter Systeme, Verteidigung von Interessen im Weltraum sowie verstärkte militärische Mobilität. Das Hauptproblem sei nach CARD eine Fragmentierung und Inkohärenz auch betreffend der Ausgaben für Rüstung und Truppen.
Militärisches Kerneuropa
Nicht alle EU-Staaten sind bei Rüstungsprojekten und Militäreinsätzen im gleichen Maß engagiert. Unfähige und Unwillige werden vertragskonform abgekoppelt. Ziel ist, Rüstungskapazitäten zu entwickeln und diese für Militäreinsätze verfügbar zu machen. Erreicht wird dies durch die „regelmäßige reale Aufstockung der Verteidigungshaushalte“. Damit niemand von den teilnehmenden Mitgliedstaaten (pMS) bummelt, wird also regelmäßig überprüft.
In drei Tranchen wurden bisher 47 Projekte beschlossen und in Staatengruppen wurde an der Realisierung gearbeitet. Darunter finden sich Projekte wie die Eurodrohne, ein Land Battlefield Missile System, Euro-Artillerie, ein Unterwasserinterventions-Package, eine Geheimdienstschule oder ein neuer EU-Kampfhubschrauber.
Allerdings wurden nicht alle Erwartungen gemäß den Schlussfolgerungen des Rates an PESCO erfüllt. Ein Dickicht an Projekten sei entstanden, der nationale Interessenbasar wurde nicht überwunden und nicht alle Projekte haben zur Entwicklung strategischer Fähigkeiten beigetragen. Nur zwölf der insgesamt 47 Projekte liefern konkrete Ergebnisse. Strittig ist, dass US-Rüstungskonzerne bei EU-Militärprojekten mitnaschen sollen, die aus Steuergeldern der EU-Mitgliedstaaten finanziert werden. Zur Finanzierung sollen Möglichkeiten ausgelotet werden, um steuerliche Ausnahmen für EU-rüstungsfondsfinanzierte Projekte zu gewähren. Rüstungsindustrie und Rüstungslobby haben den Rahm abgeschöpft, sich aber gemessen an den Plänen seit 2016 kaum bewegt – im Grunde ein politisches Fiasko.
Demokratiedefizit
EU-Sicherheits- und Militärpolitik ist ein demokratiepolitisches Ödland. Die Ansiedlung auf Kommissionsebene, die regelkonforme Abkoppelung von EU-Mitgliedstaaten aus militärischen Projekten oder die mangelnden Kompetenzen und Kontrollrechte des EU-Parlaments sind Blüten dieses Ödlands. Die Bedrohungsanalyse des künftigen „Strategischen Kompass“ – ein wichtiges Dokument für die künftige EU-Militärpolitik – wird von den Nachrichtendiensten ausgearbeitet und den EU-Mitgliedstaaten nicht zur Abstimmung vorgelegt.
Fachdebatten haben ihre Begriffe und natürlich ihre Abkürzungen. Doch selbst Stimmen im Bereich der fachlichen Begleitung von EU-Prozessen und ehemaligen Entscheidungsträger*innen stellen ohne Ironie fest, dass ein Kauderwelsch von Abkürzungen um sich greift. Könnte denn eine Mehrheit von Menschen in Corona-Zeiten in einer breiten und verständlichen Debatte überzeugt werden, milliardenschwere Rüstungsbudgets gegen Kürzungen zu impfen?
Kopie der USA
Militärische Kerneuropaprojekte sollen nach Ansicht der EU helfen, die strategische Autonomie zu verstärken. „Allein vorgehen, wenn nötig, und mit Partnern, wann immer dies möglich ist“, war bislang trade mark einer unilateralen und auf nationale Interessensdurchsetzung fokussierte US-Politik. In wichtigen außenpolitischen Fragen – Stichwort Flüchtlinge, Syrien oder Libyen – hat die EU keine gemeinsame Haltung, ist aber bereit, diese nötigenfalls ohne internationale Partner auszufechten. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso erklärte im zeitlichen Umfeld der Beschlussfassung des EU-Vertrages von Lissabon 2007, die EU „hat die Dimensionen eines Imperiums, aber keine zentralistische Struktur, keine Führung mit Allmachtsanspruch.“ An der EU-Struktur hat sich seit 2007 jedenfalls viel verändert.
Neue PESCO-Projekte zivil denken
In den Jahren 2021 – 2025 wird eine neue Phase von PESCO-Projekten eröffnet. Vorschläge sind gefragt. Österreich will sich gemäß dem aktuellen Regierungsprogramm „im Rahmen der permanenten strukturierten Zusammenarbeit der EU (PESCO) und des ‚Civilian Compact‘ unter anderem für Projekte zur zivilen Krisenprävention und Konfliktlösung“ engagieren und greift auf die Idee von „Civilian PESCO“ zurück.
In einem ersten Schritt können gemeinsame Ansatzpunkte für die Zusammenarbeit mit den anderen neutralen und paktfreien EU-Mitgliedern gesucht werden. Zivile Krisenprävention oder auch die Unterstützung von Abrüstungsprozessen könnten als Ausgangsbasis formuliert werden. Weil eine europäische Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik mehr ist als nur Militär.
Thomas Roithner ist Friedensforscher, Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Wien und Mitarbeiter im Internationalen Versöhnungsbund. Sein jüngstes Buch „Flinte, Faust und Friedensmacht. Außen-, Sicherheits- und Friedenspolitik Österreichs und der EU“ erschien bei myMorawa. Web: www.thomasroithner.at
Titelbild: S. Hermann & F. Richter auf Pixabay
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