Warum Haie nicht für den Corona-Impfstoff sterben müssten
Die NGO Shark Allies machte kürzlich darauf aufmerksam, dass für den neuen Corona-Impfstoff bis zu
500.000 Haie sterben könnten. Warum man sich diese Zahlen genauer ansehen sollte und welche Rolle Europa bei dieser Problematik spielt, erfährst du hier.
Von Sandra Czadul
Jedes Jahr werden 100 Millionen Haie gefangen. Ihr Körper dient uns Menschen als Ressource und ihr Wert ist abhängig von unserem Zweck. Ihre Finnen gelten als Delikatesse, ihr Fleisch als Energielieferant, ihre Haut wird zu Leder verarbeitet und auch ihre Leber produziert einen Stoff, der heiß begehrt ist. Die Rede ist von Squalen oder dem sogenannten Haileberöl.
Haileberöl und das Corona Virus
Squalen ist ein Öl, das unter anderem in der Leber von Haien produziert wird. Es wird zu 90 Prozent an Kosmetikproduzent_innen verkauft, und ist zum Beispiel in manchen Sonnencremes, Lippenstiften oder Foundations enthalten. In letzter Zeit hat die Substanz vor allem wieder Aufsehen erregt, weil die NGO Shark Allies darauf aufmerksam gemacht hat, dass für den neuen Corona-Impfstoff Squalen aus Haien verwendet soll:
„Würde jede Person auf der Erde eine Impfstoffdosis mit Squalen-Adjuvans erhalten, müssten dafür etwa 250.000 Haie sterben, wären es zwei Dosen, seien es sogar eine halbe Million Tiere.“, behaupten Aktivist_innen der Tierschutzorganisation Shark Allies.
Was ist dran an dieser Meldung?
Schon 2009 soll Haileberöl im Impfstoff für die Schweinegrippe enthalten gewesen sein. Es wird bei Impfungen als Wirkverstärker eingesetzt, und sorgt dafür, dass die Impfstoffe besser wirken und die erforderliche Antigen–Menge reduziert werden kann. Der britische Pharmakonzern GlaxoSmithKline hat kürzlich bekannt gegeben, bis zu einer Milliarde Dosen des Wirkverstärkers AS03, der unter anderem Squalen enthält, herzustellen. Das Unternehmen soll schon mehrere Kooperationen mit wissenschaftlichen Partner_innen geschlossen haben, die an Impfungen für Covid-19 forschen. Gegenüber dem ARD Faktenfinder hat das Unternehmen erklärt, dass man derzeit noch keine Alternative für tierisches Squalen gefunden habe.
Laut einer Analyse von mimikama soll der Impfstoff selbst einen geringen Beitrag zum allgemeinen Verbrauch von Haileberöl leisten, da das meiste Haileberöl für die Kosmetikindustrie verwendet wird. Im Moment ist außerdem noch nicht klar, welcher Impfstoff der sein wird, der uns von Corona befreien soll. Denn nur 5 von 176 Impfstoffen enthalten Squalen.
Ein ethisches Dilemma das keines ist
Die veröffentlichte Kampagne von Shark Allies hat also möglicherweise zu hohe Zahlen verwendet, doch geht es hier wirklich nur um Zahlen oder auch um Moral und Ethik? Auf Social Media, in den Kommentaren und auch in den Medien selbst, wird nun darüber diskutiert, ob es gerechtfertigt sei, Haie für einen Impfstoff zu verwenden.
Es scheint als wäre es ein ethisches Dilemma, bei dem man gezwungen sei, zwischen dem Leben von Menschen, die durch den Impfstoff immun gegen das Virus werden könnten, und dem Leben von Meeresbewohnern, die dafür sterben müssten, zu entscheiden. Doch das ist es nicht.
Haie und ihre Bedeutung im Ökosystem Ozean
Laut Wikipedia versteht man unter einem ethischen Dilemma eine ethisch-moralische Entscheidungssituation, in der mehrere Handlungen gleichzeitig geboten sind und sich gegenseitig ausschließen. Doch grundsätzlich schließen sich die Bewältigung der Corona Krise und Umweltschutz nicht aus.
Würden wir in Sachen Corona Krise auf Haie setzen, dann würden wir auch unsere eigene Gesundheit und Wirtschaft aufs Spiel setzen. Da Haie eine enorm wichtige Rolle im Ökosystem Meer haben. Sie stehen an der Spitze der aquatischen Nahrungskette und ihre Aufgabe als Prädator ist es, ein Gleichgewicht im Ökosystem Ozean zu halten. Das tun sie, indem sie alte oder kranke Fische und sogar andere Haie fressen. So sorgen sie dafür, dass sich Beutetiere nicht unkontrolliert vermehren.
Haie haben also eine wichtige Rolle im Ökosystem, sind aber besonders von Überfischung bedroht: Da sie ihre Geschlechtsreife erst spät erreichen, wodurch sie insgesamt nur sehr wenig Nachwuchs bekommen.
Haie und die Klimakrise
Der Ozean spielt auch eine entscheidende Rolle im Klimasystem und Haie können uns als Regulatoren bei der Bewältigung des Klimawandels helfen. Studien weisen darauf hin, dass mit den Haien auch andere Fische verschwinden, und somit die gesamte Nahrungskette zusammen breche. Beim Fehlen von Haien würden sich kleinere Fische nämlich viel schneller vermehren und sich zunächst selbst die Nahrungsgrundlage wegfressen. Eine Studie zeigt, dass dadurch jahrelang gespeichertes CO2 freigesetzt werden würde. Deshalb helfen uns Haie auch bei der Herausforderung Klimawandel.
Gibt es keine Alternativen?
Ein ethisches Dilemma ist es aber auch deshalb nicht, weil es gute Alternativen gibt. Denn Squalen wird nicht nur in der Haileber produziert, sondern auch von Pflanzen. Deshalb fordert die Tierschutzorganisation Shark Allies vor allem, dass nachhaltiges Squalen in allen unkritischen Anwendungen verwendet werden muss, und dass pflanzliche Alternativen, die genauso wirksam sind wie Hai-Squalen, bei zukünftigen Tests von Impfstoffen mit Wirkverstärkern berücksichtigt werden. In einem Interview mit Vice betont die Aktivistin Stephanie Brendl von Shark Allies, dass jährlich 2,7 Millionen Haie für die Kosmetikindustrie sterben und, dass sich die Zahl bis 2024 wahrscheinlich noch verdopple.
Das Austrian Centre of Industrial Biotechnology setzt was Squalen betrifft auf Mikroorganismen. So ist es möglich, Hefe-Stämme so zu modulieren, dass sie Squalen produzieren. Im Labormaßstab konnte bewiesen werden, dass der Prozess funktioniert, nun arbeiten die Grazer Forscher_innen daran, die Substanz auch in größeren Mengen für die Industrie zu produzieren.
Ein Grund warum es trotzdem noch Squalen aus der Haileber gibt ist, dass pflanzlich produziertes um bis 30 Prozent teurer ist als das tierische. Außerdem soll Squalen aus der Leber von Tiefseehaien das ertragreichste sein. Um eine Tonne Haileberöl zu produzieren braucht es durchschnittlich 3000 Haie.
Die Verbindung zu Europa
Global wird Squalen in der Kosmetik größtenteils aus der Leber von Haien gewonnen. In Europa haben viele Kosmetikhersteller aber auf pflanzliches Squalen umgestellt. Warum sollte ich mir als Europäer_in also Gedanken um Haie machen, wenn viele europäische Kosmetikunternehmen auf pflanzliche Alternativen setzen und die Mengen in Impfstoffen so gering sind?
Erstens, weil Europa entscheidend zum Haisterben beiträgt. Fast 80 Prozent der jüngsten Fänge stammen aus dem Atlantik. Die 3 Länder die am meisten Haie fangen und exportieren sind Indonesien, Spanien und Indien. Zu den Top 20 zählen aber auch Frankreich und Portugal. Trotz Gesetzen, die das Fischen von Haien regulieren sollen, gibt es laut WWF immer noch Berichte darüber, dass Makro-Haie illegal in Italien angelandet und verkauft werden.
Zweitens, weil das Aussterben von Haiarten bei Ländern wie Frankreich, Spanien oder Italien, eines der gravierendsten ist. Laut WWF sind mehr als die Hälfte der 80 Hai- und Rochenarten im Mittelmeer bereits gefährdet, viele davon akut. Durch eine Citizen Science Initiative konnten über 60 aktuelle und dokumentierte Fälle, die die brutale Ausbeutung geschützter Arten in 11 Mittelmeerländern zeigen, aufgedeckt werden.
Drittens, weil jedes Lebewesen eine Rolle auf dieser Erde hat. Auch wenn „weniger“ Haie als angenommen für den Impfstoff sterben könnten, geht es immer noch um Lebewesen. Wir haben uns daran gewöhnt mit Zahlen überhäuft zu werden und eine ganzheitliche Einordnung fällt dann schwer. Es ist zur Normalität geworden, dass Haie sterben und das akzeptieren viele, vor allem wenn damit vermeintlich der Menschheit geholfen wird. Doch wie sehr wir uns helfen wenn wir weiterhin auf endliche und tierische Ressourcen bei wichtigen Gesundheits-Entscheidungen setzen, sei dahin gestellt. Außerdem hat nicht zuletzt die Corona-Krise gezeigt, dass es besser ist, Abstand von wilden Tieren zu halten.
Der mediale Aufschrei von der Tierschutzorganisation Shark Allies hat vor allem eines erreicht: Die Aufmerksamkeit für ein Thema zu schaffen, das schon zu lange ignoriert wurde. Denn noch immer kann man sich als Konsument_in nicht sicher sein, ob Haileberöl in Produkten enthalten ist oder nicht. Abgesehen vom Menschen sind Haie aber auch durch den Klimawandel bedroht, und ein zusätzlicher Druck würde diesen Trend nur verstärken. Durch einen Mangel an Transparenz-Richtlinien, muss kein Wort darüber auf Packungen verloren werden und Etikettenschwindel wird ermöglicht. Noch immer werden Haie gefangen, obwohl sie unter Schutz stehen. Deshalb braucht es internationale Zusammenarbeit, strengere Kontrollen und eine bessere Datengrundlage um die Hai-Fischerei zu verwalten.
Die Bewältigung der Corona Krise hat im Moment hohe Priorität, das steht außer Frage. Doch andere Herausforderungen hören nicht auf zu existieren, weil wir global gerade andere Probleme haben. Es geht vor allem darum, das Hai sterben insgesamt zu reduzieren. Denn eine nachhaltige Quelle für einen Impfstoff oder alles andere ist Haileberöl sicher nicht. Aus ökologischer Sicht wäre es fatal, in der Medizin oder auch der Kosmetik auf das Öl aus den Jägern der Tiefsee angewiesen zu sein.