Wer stoppt den Krieg um Bergkarabach?
Ein Appell an die Friedensbewegung weltweit und die internationalen Institutionen!
Von Heidi Meinzolt
Seit einem Monat wird Krieg geführt in einer Region, die erst vor zwei Jahren in einer friedlichen “samtenen“ Revolution Demokratie und Frieden erreicht hat. Unendliche Hoffnungen, dass sich das Land Armenien gegen den Druck von Oligarchen und korrupten politischen Eliten zum Wohle aller entwickelt.
Eine große Solidarität, eine Aufbruchstimmung war in den letzten Jahren zu spüren bei der Zivilbevölkerung, aber auch bei parlamentarischen Vertreter*innen. Ich erinnere mich mit Freuden an die Debatte mit einer jungen Parlamentarierin 2019 in Yerevan. Frauenrechte, Gesundheit, Armutsbekämpfung all das stand auf der Agenda; und die erste Welle der Pandemiebekämpfung zeigte Erfolge.
Die Friedens- und Demokratiebewegung, maßgeblich von Frauen geleitet, und unter ihnen viele junge Menschen, die die Schrecken und Traumata der Vergangenheit überwinden wollten, machte sich auf den Weg Dialoge in der gesamten Kaukasusregion zu organisieren, Austausch über Grenzen hinweg und mit internationalen Institutionen.
Democracy Today Armenia wird seit 25 Jahren geleitet von Gulnara Shahinian und einem großartigen Team – (wir erinnern uns gerne an die Verleihung des Anita-Augspurg-Preises an eine Rebellin gegen den Krieg durch die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) 2018 und den Bericht über fortgeführte Friedensaktivitäten).
Frau Shahinian ist eine international anerkannte Expertin für Menschenrechte, mit dem Schwerpunkt auf moderne Formen der Sklaverei. Sie hat ein internationales Frauennetzwerk aufgebaut, das in Yerevan jährlich zu Konferenzen zusammen kam, auf dem Frieden aus unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet (Friedensjournalismus, Prävention u.v.m.) und mit praktischem Training verbunden wurde. Auf den Konferenzen wurde ein Preis an junge Friedensaktivistinnen verliehen aus Myanmar, dem Libanon, Kolumbien, dem Irak, Yemen.
Die jungen Frauen teilten ihr Engagement mit dem Publikum (über soziale Medien und Filme ist das dokumentiert und abrufbar), sie lernten von Erfahrungen aus anderen Konfliktregionen und wurden Teil eines engagierten Netzwerkes. Unter dem Jahr veranstaltete Democrazy Today unzählige Trainings, Begegnungen, humanitäre Aktionen – gerade auch grenzüberschreitend. Die Stimmung war unendlich vertrauensvoll, inspirierend und voller Hoffnung auf eine Zukunft in Frieden.
Und jetzt wieder Krieg, der nicht nur alte Traumata des Völkermords aufbrechen lässt, der Isolierung Armeniens in einer hochkomplexen Zone vieler „eingefrorener“ Konflikte, an die sich die internationale Gemeinschaft kaum mehr heranwagt und so die Erinnerung Vieler im Ausland an die vergangenen Kriege, an das Leid der Menschen verblassen lässt.
Berg-Karabach hat den völkerrechtlichen Status eines „nichtanerkannten Territoriums“. Trotzdem gab es seit 30 Jahren viele Versuche ein demokratisches Gemeinwesen zu installieren, das sich auf das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ beruft. Es ging wohl in allen internationalen Verhandlungen – aus denen die Bevölkerung bzw. die Regierung von Arzach, wie das Land sich selbst nennt, als Verhandlungspartner ausgeschlossen war – nie um ehrliche Verhandlungen für das Wohl der Menschen in der Region, sondern um geostrategische und machtpolitische Rechthaberei.
Das ist ein Stachel in machtpolitischen Überlegungen eines autoritär regierten Aserbaidjan – einem Land mit vielen begehrten Rohstoffen – und seiner Helfershelfer, wie dem türkischen Ministerpräsidenten, der als Kriegstreiber in vielen Konflikten seit Jahren auftritt (und dafür auch fleißig mit Geld und Waffen auch aus Deutschland ausgerüstet wird). Laut Amnesty International u.a. ist inzwischen auch klar dokumentiert, dass militärische Lieferungen auch aus Israel, Pakistan und anderen Ländern kommen. Es werden Streubomben und autonome Waffensysteme eingesetzt gegen zivile Ziele, die international als Kriegsverbrechen geächtet sind und syrische Söldner, die im Rahmen illegalen Menschenhandles an eine neue Front geschickt werden.
All das müsste international von der UNO, der OSZE und nationalen politischen Vertreter*innen strengstens verurteilt werden – ganz abgesehen davon, dass der Aufruf des UN Generalsekretärs zum Waffenstillstand insbesondere in Pandemiezeiten – dringend mit internationaler Präsenz in der Region abgesichert werden müsste.
Jeden Tag sterben weiter Menschen, haben Angst, werden vertrieben, ganze Bevölkerungsgruppen radikalisieren sich. Junge Männer, die noch vor kurzem von der Gründung einer Familie, von beruflichem Erfolg geträumt haben, kämpfen nun an der Front – auf allen Seiten. Flüchtende aus Berg-Karabach haben keinen internationalen Schutz nach der universellen Menschenrechtskonvention, weil sie keinen Status haben. Nicht einmal UNICEF kümmert sich um Kinder aus Arzach.
Was bleibt ist ein großer „Test“ für die junge armenische Nation: Solidarität, Humanismus, kreative Lösungen: manche nähen warme Schlafsäcke, andere Uniformen, die einen nehmen Vertriebene auf in ihren Häusern unter schwierigsten Umständen in Covid-19 Zeiten, andere verschreiben sich der Landesverteidigung für den Frieden und den Schutz des Territoriums. Fatale und schwierige Entscheidungen gerade auch für Frauen in einem Konflikt, der noch kein Ende sieht. Dialog zwischen den Fronten ist durch hohe Emotionen und auch verheerende Kriegspropaganda, vor allem mit der türkischen Flagge, fast unmöglich.
Aus der Außenperspektive einer Frauenfriedensbewegung heißt das aktuell: die Solidarität aller mit der geschundenen Zivilbevölkerung aufrecht zu erhalten. Ihre Stimmen hörbar zu machen – wie im Blog im Anhang und zu helfen, wo nötig. Es bedeutet auch eine dringende Aufforderung an einen echten Waffenstillstand durch die UNO einzufordern, eine Schutzzone einzurichten und OSZE Beobachter*innen sofort zu installieren.
Vertreter*innen Berg-Karabachs und insbesondere die Frauen der Region müssen auf allen Seiten in Waffenstillstandsabkommen und darauf folgende Friedensverhandlungen maßgeblich einbezogen werden. Friedensverhandlungen, die schon so oft gescheitert sind, müssen alle Erfahrungen und Kompetenzen in Mediation, Frühwarneinrichtungen, Abrüstungsinitiativen, Stopp des internationalen Waffenhandels – insbesondere in Konfliktregionen – aktivieren.
Anlässlich des 20 Jahrestags der UNSCR1325 ist es geboten Partizipation, Protektion und Prävention an dem konkreten Fall dieses Krieges erneut durchzudeklinieren. Die Kriegshandlungen sind sofort einzustellen! Hass, Traumata und Ängste müssen in feministischer Solidarität und politischen Perspektiven langfristig überwunden werden.
„Give peace a Chance!“
Heidi Meinzolt, von 1992-1998 im Vorstand der europäischen Grünen, 2000 Parteiaustritt. Seit den 1980er-Jahren Mitglied der Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF) und dort internationale Vertreterin der deutschen Sektion und Europakoordinatorin.
Dieser Beitrag erschien auf pressenza.com, Kooperationspartner von Unsere Zeitung.
Titelbild: Furfur, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons