Revolte in Serbien – Ein „zweiter 5. Oktober“?
„Sozialpolitisch ist Serbien heute devastiert und zu einem Hardcore-Billiglohnland der verlängerten EU-Werkbank verkommen.“
Eine Analyse von David Stockinger
Weil mich in den letzten Tagen etliche meiner serbischen und auch österreichischen Freunde fragen, wie meine Einschätzung, als Freund und Kenner des Landes, zu den Protesten in Serbien ist und fragen, ob das nicht dasselbe wie der 5. Oktober 2000 sei. Hier eine konkrete Einschätzung meinerseits:
NEIN, die aktuellen Proteste sind NICHT gleichzusetzen mit dem 5. Oktober 2000!
Was passierte am 5. Oktober 2000? Eine Staatlichkeit, die – trotz ihrer Schwächen und Fehler – im Großen und Ganzen und unter neuen schwierigen Bedingungen die sozio-ökonomischen und politischen Grundlagen des sozialistischen Jugoslawien (Volkseigentum, Sozialpolitik, Unabhängigkeit vom neoliberalen Globalismus und Sicherung der nationalen Souveränität) im „3.Jugoslawien“ zu verteidigen versuchte (gegen das härteste Wirtschaftsembargo und sogar die offene militärische NATO-Aggression), wurde von einer Allianz aus westlicher Einmischung (NATO, EU usw.) und deren heimischen Verbündeten (Otpor, DOS, NGOs – von liberal über monarchistisch bis rechtsextrem) in einem lang geplanten und organisierten Putsch beseitigt. Hassobjekt des westlichen Auslandes wie auch der Opposition (von liberal über monarchistisch bis rechtsextrem) war dabei die regierende Staats-Linke in Form der postkommunistischen Sozialistischen Partei Serbiens (SPS).
Am 5. Oktober 2000 entschied sich Serbien (das sich damals mit ihm in der Bundesrepublik befindliche Montenegro machte diesen Schritt selbst durch die eigene Polit-Elite rund um Djukanovic) für die totale Restauration des Kapitalismus, die neoliberale Schocktherapie und die Unterwerfung unter den sogenannten EU-Stabilitätspakt und den IWF. Was in den anderen ost- und südosteuropäischen Ländern (bis auf Belarus) 10-12 Jahre früher 1989/90 passierte, trat nun auch in Jugoslawien/Serbien ein. ALLE Regierungen – ob gelbe Demokraten oder Vucics SNS – setzten den neoliberalen Weg fort. Ich zitiere an dieser Stelle den bekannten serbisch-jugoslawischen marxistischen Philosophen Mihailo Markovic (Interview junge Welt 10/2000), – den ich persönlich noch kennen lernen durfte – wie er den 5. Oktober 2000 einschätzt:
„Der 5. Oktober begann als eine der »Rebellionen«, wie wir sie schon erleben konnten, angefangen mit dem 9. März 1991. Danach gab es verschiedene Versuche auf der Straße, das Regime einzuschüchtern, es zurückzudrängen, vielleicht in staatliche Institutionen einzudringen und sie mit Gewalt zu übernehmen – wie es anderswo in Ländern Osteuropas der Fall war. Natürlich war dieser Protest des 5. Oktober nicht nur der »friedliche« Ausdruck zivilen Ungehorsams, und er war nicht einmal als solcher geplant, gleich was seine Organisatoren sagen. Dabei gab es viel Gewalt, einige Menschen wurden getötet und etwa hundert verletzt; der materielle Schaden war beträchtlich. All dies zeigt klar und deutlich, daß es eine Konterrevolution war und keineswegs diese »Samtheit«, von der einige jetzt sprechen. Nach meiner Definition ist Revolution ein sozialer Gewaltstreich, eine soziale Umwälzung, die zu einer höheren, fortschrittlicheren Form der Gesellschaft führt. Wenn das nicht der Fall ist, sprechen wir von Konterrevolution.“
….Juli 2020, fast 20 Jahre nach der Konterrevolution:
Heute geht v.a. die Jugend des Landes auf die Straße, weil sie keinerlei Perspektiven hat, die falschen und verlogenen Versprechungen des 5. Oktober nicht Realität wurden und die Oligarchie (die v.a. durch den Privatisierungswahn nach 2000 befeuert wurde) für viele unerträglich geworden ist. „Rest-Jugoslawien“ wurde – auch ein Resultat des 5. Oktober 2000 – aufgelöst und Serbien wurde ökonomisch im Grunde zu einer Kolonie.
Sozialpolitisch ist Serbien heute devastiert und zu einem Hardcore-Billiglohnland der verlängerten EU-Werkbank verkommen. Das Volk soll mit dümmlichen TV-Reality-Shows unter- und stillgehalten werden. Auch ein Format, das nach der Wende vom Westen importiert wurde. Außenpolitisch hat Serbien unter Vucic OBERFLÄCHLICH die Neutralität („pendeln zwischen dem Westen und Russland/China“) etwas intensiviert, v.a. durch die Einbindung der SPS in die Regierung, da diese nach wie vor ehrliche und feste Beziehungen zu Moskau und Peking hat und auch in der Kosovo-Frage unnachgiebiger erscheint als Vucic. Vucic hingegen gilt als „bester Mann Merkels in Serbien“ und man erhofft sich von ihm endlich eine Beseitigung der UN Resolution 1244 und eine defacto Anerkennung des Kosovos. Nach der 2/3 Mehrheit seiner SNS bei den Parlamentswahlen, gehe ich nicht davon aus, dass er die SPS abermals in die Regierung nehmen wird.
Aber nochmals: Vucic setzte sozio-ökonomisch und etwas abgeschwächt auch außenpolitisch nur dort fort, wo die „Pro-EUropäer“ unter DS-Djindjic & Co. nach dem Putsch 2000 begannen. Der Umgang Vucics mit den Corona-Maßnahmen ist dabei nur ein, wenngleich für viele Leute offenbar wesentlicher demokratiepolitischer Grund für die Proteststimmung. Auch sehe ich keinen konkreten politischen Plan bzw. längerfristiges politisches Ziel dieser Proteste außer der Parole „Vucic muss weg“. Eine konkrete Agenda – im negativen neoliberalen Sinne – gab es 2000 sehr wohl. Der aktuelle Protest – im weitesten Sinne sozial begründet – hat daher aus den oben beschriebenen Aspekten einen völlig anderen Charakter als der Putsch am 5.Oktober 2000 gegen die sozialistische Regierung.
Es bleibt spannend, wenngleich ich nicht glaube, dass diese Proteste nachhaltig sein werden, sofern sie nicht in einen sozial-fortschrittlichen und ökonomisch-souveränistischen programmatischen Rahmen eingebettet werden. Und ja, der SPS, in der ich ja seit vielen Jahren etliche Freunde habe, kann ich als „kritisch-solidarischer Begleiter“ nur empfehlen, „in sich zu gehen“ und ihre Rolle in der serbischen Gesellschaft zu überdenken: Als Stabilisator des Status Quo oder als Anwältin der vielen Wende-Verlierer, als Partei, die die Ideen von Svetozar Markovic und Djordje Petrovic gleichermaßen vereinigt.
David Stockinger ist Vorstandsmitglied der Solidarwerkstatt Österreich – Für ein solidarisches und neutrales Österreich und seit 1999 in der politischen und humanitären Solidaritätsarbeit mit Serbien aktiv.
Titelbild: Tatra Belgrad night photo, Banjica (wikimedia.org; IIAleksandarII; Lizenz: CC BY-SA 3.0)