Der 8-Stunden-Arbeitstag: die wechselvolle Geschichte eines Mythos
„Es geht aber in einer Zeit, wie die jetzige ist, nicht an, dass auf der einen Seite Zehntausende Menschen länger als acht Stunden, zehn und elf Stunden arbeiten, während anderseits viele Zehntausende Menschen vollständig arbeitslos sind und nicht den nötigen Erwerb zu finden vermögen.“
Diese Worte sind aktuell wie nie. Tatsächlich sind sie aber beinahe 100 Jahre alt. Ausgesprochen wurden sie von Ferdinand Hanusch im Jahr 1918 als Begründung für die Notwendigkeit des 8-Stunden-Tages. Dieser steht zwar noch heute im Gesetz. De facto wurden die Arbeitszeiten seit seiner Einführung aber stetig ausgedehnt. Im Jahr 2018 wurde sogar der 12-Stunden-Tag legalisiert.
Rück- und Ausblick von Elias Felten, Professor für Arbeitsrecht und Sozialrecht an der Johannes Kepler Universität Linz.
Die Forderung nach dem 8-Stunden-Tag und einer 40-Stunden-Woche
Blickt man zurück, so ist der 8-Stunden-Tag die zentrale Forderung der Arbeitnehmer:innenbewegung im 19. und 20. Jahrhundert gewesen. Seit der Industrialisierung war es der Normalfall, dass Lohnarbeiter:innen jeden Alters, also auch Kinder, 15 bis 16 Stunden am Tag arbeiteten. Für Erholung war keine Zeit. Eine Verelendung der Arbeiterklasse war die Folge. In bestimmten Industriegebieten lag die Tauglichkeitsrate unter 5 Prozent. Diese erschreckenden Zahlen führten zu ersten zaghaften Schritten, das Arbeitspensum gesetzlich zu reduzieren. Ab dem Jahr 1880 wurden die täglichen Höchstarbeitszeitgrenzen sukzessive auf 12 und in weiterer Folge auf 11 Stunden gesenkt. Eine Reduktion auf 8 Stunden konnte jedoch während der Donaumonarchie nicht realisiert werden.
Dennoch machte die Arbeitnehmer:innenbewegung weiterhin Druck. Insbesondere am 1. Mai sollte der Forderung nach dem 8-Stunden-Tag auf der Straße Gehör verschafft werden. Darüber hinaus erkannte die Arbeiterschaft früh die Vorteile einer Internationalisierung ihrer Sache. Bereits im Jahr 1919 wurde im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation in Washington ein Abkommen zur Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf 8 Stunden geschlossen. Vor allem diese Ballung der Kräfte auf internationaler Ebene veranlasste letztlich den österreichischen Gesetzgeber dazu, noch im selben Jahr per Gesetz generell den 8-Stunden-Tag einzuführen. Die Wochenarbeitszeit wurde hingegen zum damaligen Zeitpunkt mit 48 Stunden festgelegt. Tatsächlich sollte es noch weitere 50 Jahre dauern, bis die Forderung nach einer 40-Stunden-Woche vom österreichischen Gesetzgeber erfüllt wurde.
Erst nach der Wiedereinführung der Demokratie im Jahr 1945 wurde ernsthaft über eine Reduktion der Wochenarbeitszeit diskutiert. Allerdings musste die österreichische Wirtschaft nach dem Krieg erst wieder aufgebaut werden. Deshalb war auch das Thema der Arbeitszeitreduktion nicht prioritär auf der sozialpolitischen Agenda. Vorrangig waren zunächst Lohnerhöhungen. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung geriet aber auch das Thema der Arbeitszeitverkürzung wieder in den Fokus. Im Jahr 1959 gelang es dem ÖGB, mittels Generalkollektivvertrag eine Reduktion der Wochenarbeitszeit auf 45 Stunden durchzusetzen. Damit wurde letztlich der Weg für eine gesetzliche Regulierung der Arbeitszeit geebnet. Tatsächlich ist es keine Seltenheit, dass zuerst die Sozialpartner tätig werden und auf kollektivvertraglicher Ebene Fakten schaffen, die dann in weiterer Folge vom Gesetzgeber aufgenommen und in Gesetze gegossen werden. So war es eben auch beim Arbeitszeitgesetz (AZG) der Fall, das im Jahr 1969 erstmals in Kraft trat.
Das Arbeitszeitgesetz 1969
Der Einführung des AZG war ein von der SPÖ initiiertes Volksbegehren vorangegangen, das eine etappenweise Reduktion der Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden bis Mitte der 1970er-Jahre forderte. Unterstützt wurde dieses von knapp 900.000 Personen. Das Ergebnis dieses Volksbegehrens veranlasste letztlich die Sozialpartner, in Verhandlungen über eine schrittweise Einführung der 40-Stunden-Woche zu treten. Tatsächlich kam es noch im selben Jahr zu einer Einigung, die letztlich als Vorbild für das spätere AZG diente.
Zusammengefasst lässt sich also festhalten, dass es nahezu 100 Jahre dauerte, bis die Forderung nach einem 8-Stunden-Arbeitstag und einer 40-Stunden-Arbeitswoche Realität wurde. Das AZG ist das Ergebnis dieses langen politischen Kampfes. Noch heute legt § 3 AZG die Normalarbeitszeit mit 8 Stunden pro Tag und 40 Stunden pro Woche fest.
Freilich handelte es sich bei diesen beiden Marken nie um absolute Grenzen. Überschreitungen waren seit jeher zulässig. Darüber hinaus eröffnete bereits das AZG 1969 die Möglichkeit der Durchrechnung der Arbeitszeit. Das heißt, dass die gesetzliche Vorgabe der 40-Stunden-Woche nicht in jeder einzelnen Woche des Kalenderjahres, sondern lediglich im Durchschnitt eines längeren festgelegten Zeitraums eingehalten werden musste. Damit ermöglicht man in einzelnen Wochen eine Überschreitung der gesetzlichen Arbeitszeitgrenzen, ohne dass eine Zuschlagspflicht für Arbeitgeber:innen entsteht. Diese Möglichkeit zur sogenannten „Flexibilisierung“ der Arbeitszeit war der Preis dafür, dass die Arbeitgeber:innenseite einer Reduktion der Wochenarbeitszeit zustimmte.
Die Flexibilisierungsschraube dreht sich
Bemerkenswert ist, dass seit der Einführung des AZG im Jahr 1969 alle wesentlichen Überarbeitungen des Arbeitszeitrechts darauf abzielten, die bestehenden Regelungen „flexibler“ zu gestalten. Im Jahr 1994 wurden die sogenannte „Dekadenarbeit“ und die „Gleitzeit“ eingeführt. In beiden Fällen handelt es sich um Formen der Durchrechnung der Arbeitszeit. Das heißt, dass sowohl die 8-Stunden-Grenze als auch die 40-Stunden-Grenze in einzelnen Wochen überschritten werden dürfen, ohne dass Überstunden entstehen, wenn dafür in anderen Wochen ein entsprechender Ausgleich in Freizeit gewährt wird.
Die nächste große Flexibilisierungsnovelle trat im Jahr 1997 in Kraft. Ihr Ziel war es, die bestehenden Durchrechnungsmöglichkeiten weiter auszudehnen. So wurde beispielsweise die Möglichkeit geschaffen, durch Kollektivvertrag längere als bloß einjährige Durchrechnungszeiträume festzulegen sowie die wöchentliche Normalarbeitszeit auf bis zu 50 Stunden pro Woche auszudehnen. Auch die Übertragung von bestehenden Zeitguthaben in den nächsten Durchrechnungszeitraum wurde erlaubt. Darüber hinaus wurde die generelle Ermächtigung geschaffen, für Überstunden anstelle von Entgelt entsprechenden Zeitausgleich zu gewähren. Im Gegenzug wurde jedoch die Festlegung der Lage der Arbeitszeit, also deren Beginn und Ende, dem Weisungsrecht der Arbeitgeber:innen entzogen.
Im Jahr 2007 wurde die Flexibilisierungsschraube nochmals angezogen. So wurden die Kollektivvertragsparteien dazu ermächtigt, die tägliche Normalarbeitszeit generell – also unabhängig von der Vereinbarung eines Durchrechnungszeitraums – von 8 auf 10 Stunden auszudehnen und bei der Schichtarbeit 12-Stunden-Schichten zuzulassen. Auch bei der Gleitzeit wurde die 10-Stunden-Grenze insofern zementiert, als sie nicht mehr von einer kollektivvertraglichen Ermächtigung abhängig gemacht wurde. De facto wurde aber mit dieser Novelle vor allem die Möglichkeit zur Einführung eines 12-Stunden-Arbeitstages ausgedehnt. Dies war zwar bei erhöhtem Arbeitsbedarf schon zuvor zulässig, jedoch maximal für 12 aufeinanderfolgende Wochen im Jahr. Die AZG-Novelle des Jahres 2007 erweiterte diese Möglichkeit auf bis zu 24 Wochen. Im Gegenzug wurde für Teilzeitarbeitnehmer:innen ein Anspruch auf einen Mehrstundenzuschlag eingeführt, der allerdings einer Reihe von Ausnahmen unterliegt.
Als Begründung für diese weitreichenden gesetzlichen Flexibilisierungsmöglichkeiten wird zumeist angeführt, dass damit den Herausforderungen in einer globalen Wirtschaft Rechnung getragen werden soll. Darüber hinaus findet sich auch immer wieder der Hinweis, dass die bestehenden Regelungen auch den Bedürfnissen der Arbeitnehmer:innen nicht mehr gerecht werden. Letzteres spielt wohl auf das zunehmende Interesse der Arbeitnehmer:innen an einer selbstbestimmten Zeiteinteilung an. Zum einen geht es dabei um eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, zum anderen um eine ausgewogene Work-Life-Balance. Beides wird zweifelsfrei durch längere zusammenhängende Freizeitphasen erleichtert. Auch die letzte AZG-Novelle des Jahres 2018, mit der es zu einer generellen Ausdehnung der höchstzulässigen Tagesarbeitszeit auf 12 Stunden und der Wochenarbeitszeit – vorbehaltlich ihrer Durchrechnung – auf 60 Stunden kam, wurde unter anderem damit gerechtfertigt, dass dadurch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessert werden soll. So ist beispielsweise die Verlängerung der täglichen Normalarbeitszeit auf 12 Stunden bei Gleitzeit nur dann zulässig, wenn gleichzeitig vereinbart wird, dass Zeitguthaben in ganzen Tagen und im Zusammenhang mit der Wochenendruhe konsumiert werden können. Dadurch soll im Ergebnis eine 4-Tage-Woche ermöglicht werden. Allerdings sieht das Gesetz keine Mindestanzahl an „langen Wochenenden“ vor, die Arbeitnehmer:innen in Gleitzeit mit einer täglichen Normalarbeitszeit von 12 Stunden zu gewähren ist. Die Möglichkeit darf bloß nicht „ausgeschlossen“ sein. Umstritten ist auch, ob der Verbrauch von Zeitguthaben in ganzen Tagen mit den Arbeitgeber:innen vereinbart werden muss oder einseitig in Anspruch genommen werden kann. In Anbetracht der fehlenden Planungssicherheit für Arbeitnehmer:innen ist daher fraglich, ob von dieser Regelung tatsächlich ein positiver Effekt für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ausgeht.
Klar ist jedenfalls, dass knapp 50 Jahre nach seinem Inkrafttreten von der Grundidee des AZG wenig übrig geblieben ist. Die Normalarbeitszeitgrenzen von 8 Stunden pro Tag und 40 Stunden pro Woche stehen zwar noch im Gesetz. Der betriebliche Alltag sieht freilich anders aus. Die AZG-Novelle 2018 hat im Ergebnis den 12-Stunden-Tag legalisiert, der zuvor nur innerhalb enger Grenzen zulässig war. Bei der Gleitzeit sind nunmehr sogar 12 Stunden Normalarbeitszeit pro Tag möglich. Der Trend geht also eindeutig in Richtung Ausdehnung und nicht Reduktion der Normalarbeitszeitgrenzen.
Fazit
Polemisch könnte man also sagen, dass das, wofür die Arbeitnehmer:innenbewegung 100 Jahre gekämpft hatte, in der Hälfte der Zeit wieder zunichtegemacht wurde. Man könnte freilich auch eine weniger kritische Haltung einnehmen und von einer Win-win-Situation sprechen. Die Wirtschaft erhält auf diese Weise einerseits ein „Mehr“ an Produktivität, die Arbeitnehmer:innen andererseits ein „Mehr“ an Freizeit. Allerdings bestehen Zweifel, dass dieses „Mehr“ an Freizeit tatsächlich ein Vorteil ist, wenn man sich die Zahl der arbeitsbedingten psychischen Erkrankungen in Österreich ansieht, die stetig im Steigen begriffen ist. Zwar sind dafür nicht allein das hohe Arbeitspensum und überlange Arbeitstage verantwortlich. Vor allem die zunehmende Digitalisierung von Arbeitsprozessen scheint ein entscheidender Faktor zu sein. Dennoch zeigt sich, dass die durch Gleitzeit und Durchrechnungszeiträume ermöglichten längeren Freizeitphasen nicht ausreichen, um die arbeitsbedingten Belastungen abzufedern und ausreichend Zeit zur Regeneration zu bieten. Das ist nicht nur sozialpolitisch problematisch, sondern auch rechtlich. Denn das AZG scheint zunehmend seinen eigentlichen Zweck nicht mehr erfüllen zu können: nämlich die Gesundheit der in Österreich beschäftigten Arbeitnehmer:innen zu schützen. In Anbetracht dieses Befundes stellt sich die Frage, wie man aus dieser Flexibilisierungsspirale wieder herauskommt. Darauf gibt es keine einfache Antwort. Eines ist aber klar: In einem vereinten Europa mit Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit gleicht es einem Kampf gegen Windmühlen, wenn man ausschließlich auf nationaler Ebene versucht, einer Ausdehnung der Arbeitszeiten Einhalt zu gebieten. Das hatte die Arbeitnehmer:innenbewegung bereits Ende des 19. Jahrhunderts erkannt.