Haiti: Gewalt, Vertreibung und der Zusammenbruch des Bildungssystems
Der Verlust des Rechts auf Bildung ist zu einem weiteren Nebeneffekt der Krise in Haiti geworden, die durch die Gewalt der Banden in Puerto Príncipe (Port-au-Prince) ausgelöst wurde. Die Menschenrechtsorganisation Plan International hat mehr als 200 Menschen in den betroffenen Gebieten befragt. Neun von zehn Kindern und Jugendlichen sind von ihrem Recht auf Bildung ausgeschlossen.
Die anhaltende Krise macht es ihnen unmöglich, Bildungseinrichtungen zu besuchen. Seit 2024 wurden mehr als 900 Schulen geschlossen – einerseits aufgrund von Angriffen bewaffneter Gruppen, andererseits, weil Schulgebäude als improvisierte Zufluchtsorte dienen, um Menschen aufzunehmen, die aus den am meisten von der Gewalt betroffenen Stadtvierteln der Hauptstadt fliehen.
Selbst wenn man die gesamte Bevölkerung des Landes betrachtet und nicht nur diejenigen, die in Extremsituationen leben, ist der eingeschränkte Zugang zu Bildung offensichtlich. Laut Unicef können mehr als eine halbe Million haitianischer Kinder – jedes siebte – aufgrund der Gewalt nicht zur Schule gehen.
Jedes siebte Kind kann nicht zur Schule gehen
Laut Plan International bringt diese Situation die Kinder in eine besonders verletzliche Lage. Da sie nicht zur Schule gehen können, sind sie noch stärker der Gefahr ausgesetzt, von bewaffneten Banden rekrutiert zu werden. Dadurch steigt das Risiko, Opfer sexueller Gewalt oder von Menschenhandel zu werden, informierte die Nachrichtenagentur Efe. Dies führt unter anderem zu einer Zunahme von Schwangerschaften unter Jugendlichen.
Diese Perspektivlosigkeit zeigt sich auch in den Aussagen von Kindern, die von der Zivilorganisation befragt wurden. Einige von ihnen, kaum zehn Jahre alt, äußerten ihre Bereitschaft, in ihr Viertel in Puerto Príncipe zurückzukehren und sich dort den bewaffneten Banden anzuschließen, um wirtschaftliche Ressourcen zu erhalten.
Vergangenen Monat mussten mehr als 60.000 Menschen ihr Zuhause verlassen – eine außergewöhnlich hohe Zahl, so die Internationale Organisation für Migration (IOM). „Dieser alarmierende Anstieg der Vertreibungen verdeutlicht den unaufhörlichen Kreislauf der Gewalt, der die haitianische Hauptstadt verwüstet. Noch nie haben wir in so kurzer Zeit so viele Menschen gleichzeitig fliehen sehen“, sagte der Leiter der IOM in Haiti, Grégoire Goodstein.
Das Phänomen betrifft vor allem die Hauptstadt Puerto Príncipe, wo bewaffnete Banden rund 85 % des Gebiets kontrollieren. „Die Menschen, die vor der Gewalt fliehen, brauchen dringend Schutz, Nahrung, Wasser und Unterkunft. Die Situation verschärft sich von Tag zu Tag, und ohne zusätzliche Unterstützung riskieren wir eine noch größere humanitäre Krise“, warnte Goodstein.
Laut IOM-Daten steigt die Zahl der Geflüchteten jedes Jahr weiter an und hat inzwischen insgesamt mehr als eine Million Menschen erreicht. Gleichzeitig zeigen Zahlen der UNO, dass im Jahr 2024 in Haiti 5.601 Menschen durch Gewalt ums Leben kamen – 1.000 mehr als 2023.
Eine Million Geflüchtete
Für Journalist*innen ist die Berichterstattung über die Krise in Haiti mit erheblichen Risiken verbunden, selbst bei vermeintlich harmlosen Einsätzen. So wurden im Dezember zwei Journalist*innen getötet, als sie über die Eröffnung eines Krankenhauses berichteten und die Zeremonie von einem Schussangriff unterbrochen wurde.
Wie Radio France International berichtete, sagte der Unesco-Vertreter in Haiti, Eric Voli Bi, dass die Banden journalistische Medien „methodisch“ angreifen, um sie „zum Schweigen zu bringen“. „Die Situation ist alarmierend und besorgniserregend, da Medien zunehmend zur Zielscheibe werden“, erklärte der Unesco-Funktionär gegenüber der Nachrichtenagentur AFP.
Kürzlich wurden ein Fernsehsender und zwei Radiosender attackiert, sagte er und betonte, dass das Ziel sei, „zu verhindern, dass die Haitianer*innen Zugang zu fundierten und transparenten Informationen über die Lage erhalten“. Dennoch arbeiten Medien weiterhin unter gefährlichen Bedingungen, hob er hervor.
Frantz Duval, Chefredakteur der ältesten haitianischen Zeitung Le Nouvelliste, beschrieb in einem Editorial, das von The Guardian zitiert wurde, die dramatische Lage in der Hauptstadt. Er zog Parallelen zu historischen Ereignissen und schrieb: „Genauso wie Phnom Penh von den Roten Khmer eingenommen wurde, Saigon von nordvietnamesischen Truppen, Tripolis nach dem Sturz von Muammar al-Gaddafi, Saná von den Huthis oder Kabul von den Taliban, so hängt Puerto Príncipe seit geraumer Zeit an einem seidenen Faden. Nun ist zu befürchten, dass die Gerüchte und Angstschreie nicht nur Echos, sondern das Vorzeichen eines endgültigen Zusammenbruchs sind.“
Mitten in dieser Krise berichtete die Zeitung am 24.03. über die Entscheidung der US-Regierung unter Donald Trump, die Politik seines Vorgängers Joe Biden zu beenden. Diese hatte zuvor Migrant*innen aus Haiti, Kuba, Nicaragua und Venezuela einen zeitlich begrenzten legalen Aufenthaltsstatus in den USA gewährt. Diese Maßnahme betrifft mehr als 530.000 Menschen. Denjenigen, die keinen anderen Rechtsstatus erhalten, droht die Abschiebung in das Land, aus dem sie geflohen sind.
Dieser Beitrag erschien am 02.04.2025 auf npla.de/poonal, lizensiert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international. Übersetzung: Annette Brox
Titelbild: GPE/Chantal Rigaud via flickr, CC BY-NC-ND 2.0.
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