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„Der Gurtmuffel“ als Denkanstoß

„In Österreich gibt es immer mehr Gurtmuffel“, so war vor einigen Tagen im ORF/Ö1-Morgenjournal zu hören. Was tun?

Ein Gastbeitrag von Ilse Kleinschuster

Nachdenklich geworden ob des Begriffs Muffel im Zusammenhang mit dem Begriff Gurt – das heißt, aus Sicherheitsgründen wird Angurten nicht nur empfohlen, sondern behördlich vorgeschrieben. Ich erinnere mich, dass die Bezeichnung Muffel bei Moliere in “Tartuffe” einem scheinheiligen Menschen zugeschrieben wird. An Herkunftsableitungen kann man auch gut den Wertewandel in der Gesellschaft erkennen. Ein Grantler, wie im Wienerischen ein Mensch genannt wird, der sich für nichts begeistern kann und alles ablehnt, was ihn in seiner Bequemlichkeit stört, ist demnach wohl ganz allgemein ein Muffel. So jemand trägt durch seine übellaunige und engstirnige Haltung wenig zum Fortschritt der Menschheit bei. Aber ist nicht der Kampf der regressiven Modernisierungsmuffel gegen die progressiven Modernisierer ständiger Treibstoff für die Geschichte der Menschheit?

Nun also gibt es in Österreich – ich nehme an auch sonst wo in der Welt – immer mehr solche Muffel. Das wird statistisch erhoben und ausgewertet – und ist aber noch kein Beweis für die Widerständigkeit des modernen Menschen. Gurt anlegen müssen! Warum? Und wenn, dann will ich es freiwillig tun! 

Okay, Meinungsfreiheit! Denke ich weiter und gerate dabei gedanklich zu den autonom-autokratischen Protestaktionen während der Corona-Krise.  Aber wie kann man mit Gurt- und Impfmuffeln demokratische Prozesse weiterführen, die ein “gutes Leben für alle” zum Ziel haben? 

Wann ist der Muffel-Bewegung genüge getan, wo beginnt die Verschwörungs-Bewegung? Wenn Fakten straffrei öffentlich und lautstark angezweifelt werden können, wo führt das hin? Wenn Muffel Anspruch auf Autonomie erheben, droht dann nicht Gefahr für alle? Die meisten Muffel wissen nicht, was sie wirklich wollen, sie kennen sich mit den Menschenrechten nicht wirklich aus und sind nur froh, wenn da endlich einer kommt, der ihnen sagt, was ihr Wille zu sein hat.

Tja, hässliche Gedanken – und plötzlich bin ich in der Situation, in der ich anfange, mich selbst zu hinterfragen. Ich besinne mich meiner Lage und stelle fest, dass ich schon längst begonnen habe mich, das heißt meine Widerstandskraft zu “optimieren”, um nicht “verrückt” zu werden. Ich habe eine dicke Haut entwickelt und mich gegenüber den vielen Normverletzungen desensibilisiert. Aber ich habe ja leicht reden: Ich bin alt, habe meine Pension – was ja schon viel ist in dieser Gesellschaft der Ungleichheit, wo es jetzt für jene, die auf der Verliererseite sind, einen unheimlichen Kraftakt bedeutet, sich mit den Verhältnissen zu arrangieren. Jene aber, die auf der Gewinnerseite sind, wären gut beraten, unempfindlicher zu werden, unempfänglich für die sozial-ökologische Verwüstung, die mit ihrer „Freiheit“, ihren „Werten“ und ihrem „Lebensstil“ unzertrennlich verbunden ist. 

Das ist wohl eine nachhaltige Rezeptur – nicht nur für Muffel, sondern für Menschen aller Art: Resilienz-Entwicklung.

Ich will ja nicht aufdringlich sein, ich frage euch ja nur, was haltet ihr von meiner Therapie-Empfehlung, die aufgrund der kritischen Analyse des Zustands unserer “westlichen” Welt mir immer dringender zu werden scheint.


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Titelbild: Paolo Chiabrando / Unsplash 

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Ein Gedanke zu „„Der Gurtmuffel“ als Denkanstoß

  • Ilse Kleinschuster

    – Tja, sie geht mir nicht aus dem Kopf, diese ORF-Meldung von der Zunahme an Gurtmuffeln in Österreich. Warum nur? Ich vermute es ist teils meine aktuelle Lektüre über die Unhaltbarkeit der Annahme, dass wir eine sozialökologische Transformation auf demokratischem Weg noch schaffen könnten, wenn wir nur ….. Nun ja, hier wehrt sich mein hergebrachter Glaube an Normen, also an menschliche Werte, die mich hoffen lassen, dass diese Transformation doch noch gelingen könnte. Als kritischer Soziologe hat Ingolfur Blühdorn (WU-Wien) unsere moderne Gesellschaft einer Analyse unterzogen und diagnostiziert, dass wir „auf dem Weg in ein andere Moderne“ – jenseits liberal-demokratischer Normen und jenseits des Glaubens an die Mündigkeit des Menschen – seien. Erschienen in der edition suhrkamp unter dem Titel „Unhaltbarkeit“ – Was meint ihr dazu?

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