Sonntag ist Büchertag: „Alles, was bleibt“
Martin Liechtis beeindruckender Berlin-Roman um eine nicht heilende Wunde.
Von Burkhard Jahn (auf Vermittlung von Urs Heinz Aerni)

Martin Liechti, der brillante Aphoristiker, hat nun einen Roman vorgelegt, dem das Gewicht des Alterswerks zugestanden werden muss.
„Alles, was bleibt“ ist der Titel, und der Roman widmet sich der Melancholie, die jeden betrifft, der als reifer Mensch sein Leben einer Prüfung unterzieht.
Adrian Ambühl – mal als Adrian A, meist in die Initialen AA verknappt, mal mit vollem Namen auftretend – ist der Protagonist. Der alternde Architekt aus Zürich, in komfortablen Umständen lebend, gleichwohl skeptisch gegenüber seinem Erfolg, kommt bald nach der Wende nach Berlin wegen eines bevorstehenden Bauauftrags. Er trifft auf die in vielen Winkeln, auf vielen Brachen noch glanzlose künftige Kapitale, freilich Wetterleuchten die begonnenen Großprojekte – Potsdamer Platz, Großflughafen, Hauptbahnhof – in den Scherenschnitten der Kräne am Himmel; an diesem „Himmel über Berlin“, der doch sonst den Krähenschwärmen aus dem Osten gehört.
Lena, eine Anwältin und Kommunalpolitikern, in zarter Gehbehinderung ein Bein nachziehend, weckt Verliebtheit und Begehren, doch der Flirt verglimmt nach einigen gemeinsamen Spaziergängen, Museumsbesuchen und gemeinsamen Essen, ohne wirklich angefangen zu haben.
Evozierte skurrile Szenen der Vergangenheit
Ambühl, in seiner Melancholie, evoziert auf seinen langen Spaziergängen, in staunenden S-Bahn-Fahrten durch die Stadt flackernde Erinnerungsbilder, mal die eines einsamen Urlaubs in Griechenland, dann Szenen seiner geschiedenen Ehe und solche von Begegnungen mit seinem vom Schlendrian und von Drogen bedrohten Sohn in Zürich. Er durchstreift in all seinem betrübten Flanieren jene so unfertige, noch fast armselige, erst unlängst wiedervereinigte Metropole.
Doch er sucht keine Gesellschaft. Und besucht er zweimal eine Sauna, so zu verschiedenen Zeiten, um nicht Gefahr zu laufen, in Wiederbegegnungen etwa unerwünschter Vertrautheit zu begegnen, wenn schon zuvor ein Smalltalk unumgänglich gewesen war.
Die Wetter seiner Reflexionen und Erinnerungen, seines inneren Monologs fliegen durch die Architekturgeschichte, sind Schinkel nah wie Gropius, evozieren skurrile Szenen der Vergangenheit. So wie jene des „Schlosses Duwisib“ und seines Besitzers im Herero-Land „Deutsch Süd-West“ zur kurzen Spanne Wilhelminischer Kolonialherrschaft. Und trotz aller Nebenwege nähern sich doch seine Erinnerungen dem Zentrum seiner Amfortas-Wunde: Dieser so fernen einen Stunde, dieser so fernen einen Minute in seinem jungen Leben, da er das Falsche gesagt, das Falsche getan hatte. Aja, seine Liebe, nahm Salzsäure, überlebte knapp, um dann doch zu sterben, als habe sie sich die Liebe aus Mund, Speiseröhre, Magen und Solarplexus herausätzen wollen.
Exzellent erfunden
Liechtis Sprache kennt kein Talmi, so wie sein Protagonist dem Klaren in seinem Bauen sich verpflichtet fühlt, und so schreibt Liechti sozusagen nicht „in Öl“, sondern in den klaren Linien der architektonische Zeichnungen. Der Leser fliegt so gern wie komfortabel durch die Kapitel und staunt umso mehr, wenn aus besten dramaturgischen Gründen wie in brillanter Anverwandlung der Autor dann dem vielleicht achtzehnjährigen Adrian A eine Rede von virtuoser Erfindung in den Mund legt. Eine großartige Nachempfindung des pubertär-altklug renommierenden Gockel-Gebarens gelingt dem Autor:
…Olim fuhr nun in einem Schlitten, gezogen von einem Elchgespann, weiter durch kahles Land, über eine Mond- und Erzfläche, im Sog einer verwunschenen und erkalteten Welt. Der Wind pfiff, Rabengeschrei, Stille…
Das ist schlichtweg exzellent erfunden! Da hören wir den sterneneiskalten Büchner in der Erzählung der Großmutter im „Woyzeck“, wie wir zugleich an den so seltsam expressionistischen Monolog der Tschechow’schen Nina in der „Wildente“ erinnert werden, wenn sie Kostjas so befremdlichen Pubertätsdichter-Text vor Familie und Nachbarn pathetisch rezitiert.
Zufall, dass beide genannten Theaterstücke mit dem Tod enden?
Mansardenglück der Liebenden
Doch Berlin in einsamen Gängen, Berlin mit einer missglückten Liebesgeschichte, mit ärgerlichen Verhandlungen um Baugenehmigungen und behördliche Auflagen, mit Einsprachen von Anrainern und interviewenden Reportern, ist bestimmt von einem Unterstrom in der Seele des Protagonisten. Und in dem geschieht, was nicht geschehen konnte: Ambühl setzt dem erschütternden Ereignis des Suizids der Aja, mitten im Schmerzzentrum der quälenden Erinnerung ein Traumbild entgegen, wie alles hätte anders sein können. Und er führt seine Leser und Leserinnen in die Phantasmagorie eines Zusammenlebens des Liebespaares in Paris, in dieses Epizentrum der glücklichen Liebesvorstellungen von Generationen in aller Welt. Er entwirft ein Mansardenglück der Liebenden, ein sorgloses Boheme-Glück, dem die Traumvorstellung eines gemeinsamen Studiums im deutschen Freiburg folgt. Und wir alle träumen so gern mit in diesen Szenen, die wir doch alle kennen.
Wenn auch nur aus schönen Filmen.
Die dann oft traurig enden.
Nichts Geringeres als das „ideale Paar“ waren sie, diese uneingeschränkt Liebenden, die leicht und unbeschadet im Meer der Epochenströmungen – Existenzialismus, 68er-Revolte, Kommunarden-WG – ungerührt für sich miteinander dahinschwammen. Ein Paar wie Orpheus und Eurydike, die aber in Ambühls Phantasie ungehindert aus dem Hades die Stufen in die Pariser Mansarde, in die Freiburger Studentenwohnung des glücklichen Paares hinaufgestiegen waren.
„Fraglos war Liebe, wenn sie gelang.“
Mit Beharrlichkeit durch das unwirtliche Universum
So eine lange, vor Glück betörende Passage im Roman, die die Leserinnen und Leser die Realität des schrecklichen Suizids vor der Entfaltung des erfundenen Glückes fast vergessen lässt.
Wie erwacht aus jenem Traum, sieht sich AA wieder in Berlin. In einer wahrlich virtuosen Erfindung des Bedrohlichen weicht Liechti dem allzu Naheliegenden aus und erfindet eine terroristische Bedrohung, die die Stadt eine Weile in Atem hält, die den Geschmack einer virtuosen Erfindung wie den einer surrealistischen Gespensterhaftigkeit in sich vereint. Und jene Bedrohung sei hier nicht verraten. Jeder und jede soll selber lesen, was da Berlin bedrohte, und in Kontext setzen zu dem, was dann Jahre später Berlin nicht nur wirklich bedrohen, sondern mörderisch treffen würde.
Doch auch jenes Bedrohliche ebbt ab, und Liechti nimmt seine Leser beharrlich durch das unwirtliche Universum der gegen ihre Narben aufbegehrenden Stadt. In einem Gespräch in einem Haus von Intellektuellen heißt es am Ende:
„Warum ergibt man sich einem Übermaß an Vorausregulierung“, warf Adrian ein. Einer Festlegung, die das Leben lähmt?
Ein Lächeln von gegenüber. Entfaltung führe über Verfeinerung, meinte die Dame mit den roten Strümpfen.
Hässlichkeit Berlins
Szenen dieser Art branden dann und wann an Ambühls Einsamkeit. Evident die Hässlichkeit Berlins jener Jahre. Zwischendurch sind hübsche kleine Spottpfeile zu lesen des gängigen Tagungs-,, Ausstellungs- und Symposiums-Blablas („Was bewegt Berlin?“). Und so geht der seinem Leben nachgrübelnde Flaneur durch das Berlin zwischen Liebermann-Villa und verlotterten Kiezen, besucht das Gruselmuseum im alten Bunker. Und der Besuch beim einstigen Gegenanwalt in den Streitigkeiten um den Bau im Goldgräber-Berlin gerät zur phantasmagorischen Szene.
Skurrile Begegnungen, mit scharfem ironischem Blick erlebt und gezeichnet, dazu ein Voranschreiten von Zeit. Der Bau in Berlin ist fertig, die Firma dem Adlatus und Kompagnon Brönnimann übergeben.
Eine neue Bedrohung – hier sind gespenstische Drohnen die Werkzeuge des Unheimlichen, des indifferent Terroristischen – geht wie eine Schlechtwetterzone über Stadt und Land.
Besänftigung durch Brandenburgs Landschaft
Und immer wieder kreist Ambühls selbstquälerisches Grübeln um das eine, das nicht zu bewältigende Trauma. Um den Tod der so geliebten Aja.
Den Wanderungen durch die Stadt, die ja auch Wanderungen durch die Szenerien des Unbewältigten, des weiter Verwundenden sind, folgen dann die Besänftigungen durch die Landschaft Brandenburgs. Milde Herbststimmungen werden beschworen, die Schilderungen berühren zutiefst im Spiegel der so gesuchten Einsamkeit, und nicht nur ein Hahnenschrei bekommt ein herausragendes literarisches Gewicht.
Adrian Ambühl bezieht ein Haus an einem Brandenburgischen See. Und schließlich weiß er, dass alles richtig war, dass alles so kommen musste.
„Sie erst ermöglichte es, sie erst ermöglichte ihn, Aja.“
Und ihm wird klar:
„Der Abschied war noch nicht vollbracht.“
„Alles, was bleibt“ heißt dieses Buch.
Und…..ja: es bleibt sehr, sehr viel.
Das Buch: „Alles, was bleibt“, Roman von Martin Liechti, KaMeRu Verlag Zürich, 978-3-906082-97-4, 200 Seiten, 2025
Der Autor: Martin Liechti, Jahrgang 1937, wuchs in Jegenstorf (Schweiz) auf. Er besuchte Progymnasiums und Gymnasiums in Bern und arbeitete später in verschiedenen Berufen, u. a. als Korrespondent. Einige Jahren lang lebte er in Deutschland, in Berlin und in Hagen, bis er schließlich beschloss, in die Schweiz zurückzukehren. Heute lebt und schreibt er in Zürich. Für seine Texte erhielt er literarische Preise von Stadt und Kanton Zürich und vom Kanton Bern.
Der Autor der Rezension: Burkhard Jahn wurde 1948 in Hildesheim geboren, ist Schauspieler, Regisseur und Autor und lebt heute bei Zürich. Unter anderen sind von ihm diese Bücher erschienen: „Requiem für A. R.“ (Neustadt a. d. Orla 2018) und „Der Weg an der Sarca“ (Weitra 2017)
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