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Sonntag ist Büchertag: «Die Gedächtnislagune»

So lautet ein Roman von Martin Suter, der nie erscheinen wird. Über die Gründe, Erinnerungen an «Small World», ein neues Schreiberlebnis und den Nutzen von Liegestützen unterhält sich der Autor mit Urs Heinz Aerni.

Foto- Joël Hunn © Diogenes Verlag

Im Diogenes Verlag in Zürich wurden wir herzlich empfangen, mit Kaffee, Süßem und Wasser. Martin Suter setzte sich in dunklem Anzug an den Tisch und wählte das «laute» Mineralwasser.

Urs Heinz Aerni: Wir sind uns 1997 zum ersten Mal begegnet, an der Buchtaufe von «Small World» im Theater Neumarkt.

Martin Suter: Ich erinnere mich gut, wie nervös ich war.

Aerni: Damals verschrieb der Stadtarzt für Zürich für alle Zivilschutzdienstleistende «Small World» als Pflichtlektüre damit man die demenzkranken Menschen besser verstehen könne.

Suter: Ja, das war verrückt. Ein Professor und Alzheimerforscher in Tübingen verlangte von allen Praktikanten, dass sie dieses Buch gelesen haben müssen…

Aerni: So kam es, dass in den Regalen in Arztpraxen zwischen den Fachbüchern immer auch ein Diogenes-Buch zu sehen war.

Suter: Ich weiß noch, wie ich zu einer Gedenkveranstaltung des Entdeckers Alois Alzheimer eingeladen war, um vor der Crème de la Crème der Fachwelt aus meinem Roman zu lesen.

Aerni: Seit daher tat sich viel in der Welt, auch was die Kultur, die Buchbranche und das Lesen in der Gesellschaft betrifft. Wie nehmen Sie die Entwicklungen wahr?

Suter: Ich behaupte, ohne es wissenschaftlich belegen zu können, dass heute nicht weniger gelesen wird, sondern sogar mehr.

Aerni: Mehr?

Suter: Ja, aber nicht Bücher. Ich würde sagen, dass es heute zum Beispiel im Zug mehr Menschen zu sehen sind, die irgendetwas lesen. Aber nicht in Büchern und Zeitungen, im Handy, Tablet oder Laptop. Also die Lesegewohnheit ist anders, darum richtete ich auch eine Website ein, damit Lesende mich auch digital finden.

Aerni: Auf Ihrer Website findet man alte und neue Texte, so auch Kolumnen mit der Kultfigur Geri Weibel, der wieder erneut versucht, den Trends der Gesellschaft zu genügen. Ihre Website kann auch abonniert werden.

Suter: Ja, aber die Abo-Zahlen sind noch bescheiden.

Aerni: Sie sind auch auf den Sozialen Kanälen aktiv und ich fand bei Ihnen auf X (ehemals Twitter) den Satz: «Martin Suter schreibt Bücher und auch im Geheimen / So Sachen, die sich total reimen.»

Suter: Als ich die Website machte, ging ich auch auf Twitter. Und um gegen die Verrohung etwas zu tun, twitterte ich nur gereimt. Daraus entstand das #poesiepingpong, bei dem viele mitmachen, und das auf meiner Website animiert und gratis zu genießen ist.

Aerni: Was motivierte Sie, auch in der Digitalen Welt präsent zu sein?

Suter: Ein Schriftsteller will nun einmal gelesen werden. Und wenn das immer mehr digital geschieht, dann eben auch dort. Ich veröffentliche dort Vergessenes und Unveröffentlichtes, schreibe zum Beispiel an «Lila, Lila» weiter, oder darüber, was Allmen zwischen den Büchern treibt. Und so ganz nebenbei entsteht so ein stets wachsendes Archiv über mich, in das alle, die es interessiert, Zugang haben. Und der Vorteil: Auch ich.

Aerni: Und Geri Weibel verzweifelt heute noch?

Suter: Selbstverständlich. 

Aerni: Nicht nur das Lesen verändert sich, auch das Schreiben. Wie war das bei Ihnen? Schreibt sich heute anders? Oder anders gefragt, schreiben Sie genauso gern?

Suter: Früher hatte ich klare Zeiten, von 9 – 13 Uhr. Sehr gut ging das damals zu Hause in Guatemala, da es ja Pflicht war, Hausangestellte zu beschäftigen, was mir beim Schreiben entgegenkam. Die meisten Bücher sind dort entstanden. 

Aerni: Immer von Anfang an am Computer?

Suter: Ja. Aber der Roman «Melody» ist der erste Roman, den ich von Hand schrieb.

Aerni: Mit Griffel und Papier?

Suter: Nicht ganz, wenn ich Sie sehe, wie Sie auf Ihrem Papierblock Notizen machen, hat das für mich irgendwie einen Stallgeruch. Ich schrieb mit einem Stift auf ein Tablet. Das schreibt sich viel besser als auf Papier und wandelt meine Schrift sogar in Druckschrift um. Kostet so um die 300 Franken plus paar Franken im Monat für eine Cloud.

Aerni: Eine neue Schreiberfahrung nach so vielen Romanen.

Suter: Ja, diese Technik half mir, mobil zu schreiben, in einem Café, im Zug oder im Krankenhaus bei meiner Frau. Ich konnte schreiben, wann und wo ich wollte. Auch den nächsten Allmen habe ich auf diese Weise geschrieben. Es ist ganz anders für mich.

Aerni: Inwiefern denn?

Suter: Schwierig zu erklären, ich habe das Gefühl, dass ich nun «unplugged» schreibe, wie man das bei der Musik ohne Elektronik sagt. Viele Leute sagten mir, dass «Melody» irgendwie anders sei. Auch früher nutzte ich gerne neue technische Erneuerungen zum Beispiel die Kugelkopfschreibmaschine von IBM mit der Korrekturtaste.

Aerni: Apropos alte Zeiten, Ihre Schreibkarriere entstand ja als Werbetexter bei einer bekannten Agentur und führte Sie zum Kolumnisten und Romancier. Beim Texten für Werbung soll das Zielpublikum erreicht werden. Denken Sie beim Schreiben der Romane an die Leserschaft?

Suter: Nein, ich sehe immer nur mich als Leser. Ich schreibe also so, wie ich es gerne lesen würde. Wir wussten damals nicht viel über Werbung, heute eigentlich auch nicht, aber man tut so als ob. Wir waren in der Überzeugung, dass die Werbung, die am besten unterhält und sympathisch rüberkommt, funktioniert. 

Aerni: Achten Sie heute noch auf Werbung und ihre Texte?

Suter: Nein, zum Glück kann ich sie überspringen oder überblättern.

Aerni: Die ersten drei Romane «Small World», «Die dunkle Seite des Mondes» und «Ein perfekter Freund» wurden von der Kritik als Bücher der «Identitätskrisen» bei den Protagonisten bezeichnet. 

Suter: Ich nannte sie einmal eher scherzhaft «die neurologische Trilogie», das ist geblieben. Aber meine Bücher haben keine Botschaft. Wenn man für sich eine herauslesen möchte, so freut es mich trotzdem. Bei «Small World» wollte ich auch nicht ein Lehrbuch für Pflegende schreiben. Ich sage, dass meine Bücher auf der ersten Seite beginnen und auf der letzten enden. Ich bin ein Geschichtenerzähler, auch wenn diese Haltung im Feuilleton oder bei der Literaturkritik früher oft nicht ernst genommen wurde. 

Aerni: Ich denke jedoch spontan an andere Autoren, die sich ähnlich sehen wie zum Beispiel Alex Capus.

Suter: Genau, unsere Laufbahn als Schriftstelle begann auch gleichzeitig, ich mag ihn. Das mit dem Werbetexter wurde mir oft zum Vorwurf gemacht mit dem Verdacht, dass ein Werber die Psychologie der Konsumenten kennt. Das stimmt nicht. Wir kannten höchstens ein bisschen die unserer wirklichen Zielgruppe: den anderen Werbeagenturen.

Aerni: Schreiben für die Konkurrenz?

Suter: Wir wollten es den Kollegen zeigen, dass wir es besser machen, was natürlich auch den Konsumenten freuen sollte. Ein Motto von uns lautete: Ein Text ist nie zu lang, nur meistens zu wenig lang gut. Ein anderes Motto: Leser sollen mit einer Pointe belohnt werden, weil sie so lange durchgehalten haben.

Aerni: Wann wissen Sie, dass der Roman vollbracht ist, also fertig geschrieben ist?

Suter: Das weiß ich, weil ich das Ende schon kenne. Ich beginne nicht zu schreiben, um mich vom Ausgang überraschen zu lassen. Zwei Romanprojekte sind gescheitert, bei denen ich das Ende nicht kannte. Ich musste lernen, dass wer sein Ziel nicht kennt, nicht ankommt. Ein Lehrstück war der Versuch nach «Small World» einen Roman zu schreiben, ohne zu wissen, wie er ausgehen wird. Der Titel hieß «Die Gedächtnislagune»…

Aerni: Schöner Titel.

Suter: Finde ich auch, aber das ist auch schon alles.

Aerni: Verstehe ich richtig, es liegen jetzt zwei unfertige Romane in der Schublade.

Suter: Richtig. Ja, auch mein erstes Manuskript, das Diogenes zu Recht abgelehnt hatte. Da kannte ich den Schluss nicht. Ich behaupte nicht, dass ihn alle Schriftsteller kennen müssen. Donna Leon arbeitet soviel ich weiß, ganz anders, sie sagte mal zu mir, dass es bei ihr mit einer Leiche anfängt und dann entsteht die Geschichte dazu. Und bei ihr funktioniert das ja wunderbar.

Aerni: Schreiben Sie heute altersbedingt entspannter als in jungen Jahren?

Suter: (Denkt nach), vielleicht schreibe ich heute schon anders, wie vieles andere auch, das im Alter anders wird, zum Beispiel Liegestützen.

Aerni: Sie machen Liegestützen? Wie viele?

Suter: Manchmal schaffe ich über 20. Ich habe eine junge Tochter, da muss man fit bleiben.

Aerni: Hilft das Schreiben beim Älterwerden?

Suter: Es hilft beim Denken im Alter, und ich denke auch nicht ans Aufhören.

Aerni: Herr Suter, noch zum Abschluss die Frage nach Ihrer Lektüregewohnheiten. Was liegt bei Ihnen auf dem berühmten Nachttisch?

Suter: Können Sie noch lesen im Bett?

Aerni: Eher Zeitschriften, damit es beim Einnicken nicht ins Auge geht.

Suter: (Schmunzelt). Ich habe den Nachttisch frei geräumt, was auch ordentlicher aussieht für einen alleinerziehender Witwer. 


Martin Suter wurde 1948 in Zürich geboren. Seine Romane (darunter ›Melody‹ und ›Der letzte Weynfeldt‹) und die ›Business-Class‹-Geschichten feierten große Erfolge. Seit 2011 löst außerdem der Gentleman-Gauner Allmen in einer eigenen Krimiserie seine Fälle. 2022 feierte der Kinofilm von André Schäfer ›Alles über Martin Suter. Außer die Wahrheit‹ am Locarno Film Festival Premiere. Seit einigen Jahren betreibt der Autor die Website martin-suter.com. Er lebt mit seiner Tochter in Zürich. 2024 erschien der Roman «Allmen und Herr Weynfeldt» und danach „Kein Grund, gleich so rumzuschreien“ und „Alle sind so ernst geworden“ zusammen mit Benjamin von Stuckrad Barre, im Diogenes Verlag.

Dieses Interview erschien zuerst im Magazin «Lesen», herausgegeben von Orell Füssli Thalia Schweiz.

TitelbildPexels / Pixabay


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