Sonntag ist Büchertag: „Es geht um den Wunsch nach einer grundlegenden Veränderung.“
Im neuen Roman «In der Nacht auf Morgen» des in Zürich lebenden Autors Aldo Solid Betschart entwickelt sich der Existenzkampf zweier Kleinunternehmer zur Metapher einer aus den Fugen geratenen Welt. – Sonntag ist Büchertag
Urs Heinz Aerni stellte ihm dazu Fragen.
Urs Heinz Aerni: Herr Betschart, in Ihrem Roman nehmen Sie die Leserschaft mit auf eine Reise nach Ägypten, in einer Zeit, in der vor Reisen gewarnt wurde, wegen der Pandemie. Warum reist Ihr Protagonist Ritz Hürlimann trotzdem?
Aldo Solid Betschart: Dass meine Hauptfigur Ritz Hürlimann im März 2020 trotz der Reisewarnungen gemeinsam mit seiner Liebsten in Zürich in den Flieger steigt, ist gewissermaßen eine Kampfansage gegen das ihm verhasste kapitalistische System, besonders nachdem die Banken sich nicht bereit erklärt haben, Hürlimann und seinen Zwei-Mann-Betrieb mit einem dringend benötigten neuen Kredit zu unterstützen. Während also ein nervlich angespannter Ritz Hürlimann in Ägypten „gute Miene zum bösen Spiel“ macht, soll in Zürich ein von ihm selbst organisierter Einbruchdiebstahl stattfinden, um auf die Art Geld über die Versicherung abzukassieren. Hürlimanns Liebste, selbst mit vielen Lebensfragen beschäftigt, weiß allerdings nichts davon.
Aerni: Es ist Ihr fünfter Roman, dicht an Stoff, Figuren und Dialogen. Irgendwo las ich, dass Sie ein „überzeugter Autodidakt“ sind. Worin denn?
Betschart: Wo immer möglich. Was ich im Alltag zu leben versuche, ist, was der große amerikanische Sprachwissenschaftler Noam Chomsky „Unabhängiges Denken“ nennt. Ich tue wann immer möglich, was dem Establishment am meisten gegen den Strich geht, nämlich, den eigenen Kopf zu benutzen, statt die Formeln des Systems nachzubeten. All die tollen Geschäftsmodelle und Schulen, die uns das Leben und die Kreativität erst „beibringen“ wollen, oder auch unsere westlichen Mainstream-Medien, welche die Konsumgesellschaft nonstop mit kapitalistischen Ideologien füttern und beeinflussen – all dem stehe ich als überzeugter Autodidakt, der sich mal lieber selbst informiert und eine eigene Meinung bildet, kritisch gegenüber.
Aerni: Okay, dazu kämen mir noch ein paar Fragen mehr in den Sinn. Aber bleiben wir beim Schreiben: Schreiben war für Sie immer wichtig. Was treibt Sie dazu an?
Betschart: Sich mit Themen auseinanderzusetzen, die einen stark beschäftigen, das liefert mir bereits den Treibstoff – insbesondere bei Themen, die uns alle betreffen. Es macht mich richtiggehend wütend, wie die Ungleichheit auf Erden von einer verhältnismäßig kleinen Anzahl superreicher Misanthropen systematisch gefördert werden kann, wie schadlos diese Nimmersatten sich in die Politik einkaufen, sie korrumpieren und vergiften.
Aerni: Was können wir tun?
Betschart: Dagegen braucht es Stimmen, Stimmen der Aufklärung, des Widerstands und der Kampfansage. Dass systemkritische Bücher etwas zum Wohl der Allgemeinheit bewirken können, hat sich in der Vergangenheit oft genug gezeigt. Ohne diese Art der kulturellen Auflehnung lebten wir bald in der Finsternis einer lieblosen Diktatur, wie Mao Tse-tung, Stalin oder Hitler es sich für ihre Völker gewünscht haben.
Aerni: Die Hauptfigur Ritz Hürlimann sagt: „Wir Normalos sind die Besiegten, und als solche gehen wir unserem täglichen Job nach – so, als arbeiteten wir auf einem Ozeanriesen, ohne den uns umgebenden Ozean überhaupt wahrzunehmen.“ Es geht um Freiheit, Gesellschaft und den Willen, aus alledem auszusteigen. War das der Antrieb für diesen Roman?
Betschart: In meinem Roman geht es nicht so sehr darum, als Einzelperson aus den gegebenen sozialen Strukturen auszusteigen, sondern vielmehr um den Wunsch nach einer grundlegenden Veränderung im kapitalistischen System. In der Schweiz hört man von früh bis spät, in was für einer tollen Demokratie wir leben; dabei könnte mir, wenn ich mich in einer Stadt wie Zürich oder Basel umsehe, die Galle hochkommen.
Aerni: Warum denn?
Betschart: Immobilienfirmen ziehen in den teuren Stadtzentren ihre hässlichen Klötze hoch, es wird wie wild gebaut und verdichtet, aber was hat die Bevölkerung davon, zumal die Lebenshaltungskosten ständig steigen? Der Finanzsektor sagt, wo es langgeht, investiert viele Milliarden fürs eigene Wachstum, streicht Renditen ein, ohne die stöhnende Bevölkerung an den immensen Gewinnen teilhaben zu lassen. Der ohnehin schon mit Schuldkrediten belastete Mittelstand bezahlt die Zeche. Wird das Murren lauter, kann man in der Politik hier wie dort der Migration den Schwarzen Peter zuschieben und ausrufen, die Zuwanderung sei schuld! Das alles, um es hier möglichst kurz auf einen Nenner zu bringen, war der eigentliche Antrieb zum neuen Roman.
Aerni: Ist für Sie das Schreiben die Form, gegen den Druck unseres Systems anzustemmen?
Betschart: Lassen Sie es mich so formulieren: Mein Roman steht für einen Grundzustand, mit dem in unserer hochgelobten Demokratie Worte wie „Gleichheit“ und „Gerechtigkeit“ nicht vereinbar sind. Es kann niemand ernsthaft der Meinung sein, diese unsere Lebensweise sei zum Wohl der Allgemeinheit geschaffen worden. Die so hilfreiche Digitalisierung? Das perfekte Instrument zur totalen Überwachung und Kontrolle des Volkes. Demokratie? Wo der millionenschwere Geschäftsmann im Verhältnis zu seinem hohen Einkommen prozentual nicht annähernd so viel in die Krankenkasse einzahlt wie der Tellerwäscher? Demokratie ist ein vergewaltigtes, zu Tode gesprochenes Wort – gerade in Ländern, wo der Bankmanager im Vergleich zum normalen Lohnarbeiter oft das Fünfzig- oder Hundertfache verdient.
Aerni: Sie leben doch im teuren Zürich. Gerne?
Betschart: Wie man’s nimmt. Es gibt ein paar Orte in Zürich, in die ich mich in den bald 24 Jahren meines „Aufenthalts“ verliebt habe, Ruheoasen; dorthin kehre ich manchmal mit Freude zurück. Aber sonst? Ich bin zu Hause, wo mein Herz schlägt. Darum kann ich mir gut vorstellen, in Zukunft wieder ganz woanders zu leben – nachdem meine Kinder einmal das Erwachsenenalter erreicht haben.
Aerni: Sie arbeiten mit der Metapher des Auszugs der Hebräer aus Ägypten, wie wir es aus der Bibel kennen. Warum dieses Bild?
Betschart: Weil dieser Bibelspruch über den „satten Sklaven“, der sein Schicksal nicht länger hinterfragt, meiner Meinung nach ziemlich genau den Zustand der westlichen Konsum- und Leistungsgesellschaft wiedergibt.
Aerni: Der Literaturbetrieb mit all seinen Facetten zwischen Vertrieb, Handel und Medien ähnelt eigentlich allen anderen Branchen. Wie nehmen Sie das als Autor wahr?
Betschart: Ich habe da nicht wirklich einen Einblick. Natürlich sehe ich, wie kleine Buchläden zu kämpfen haben; allerdings bin ich, obwohl das Buch als solches heutzutage einen schweren Stand hat, davon überzeugt, dass es weder tot ist noch sterben wird. Was das angeht, vertraue ich auf jene Menschen mit Herz und Prinzipien, welche mit ihrer brennenden Leidenschaft für die Literatur entscheidend dazu beitragen werden, uns vor einer Welt zu bewahren, in der nur noch gigantische Unternehmen wie etwa Amazon den Ton angeben.
Aerni: Wenn Sie einen neuen Roman in die Welt entlassen, mit welchem Gefühl tun Sie das?
Betschart: Natürlich möchte man, dass das im Buch Mitgeteilte die Menschen da draußen erreicht, aber letztendlich entscheiden Faktoren, auf die ich keinerlei Einfluss habe. So sehr ich mich über hohe Verkaufszahlen und schmeichelhafte Rezensionen freuen würde – ich habe gelernt, Realist zu sein.
Aerni: Ich nehme an, dass Sie auch für Lesungen zur Verfügung stehen. Gehört für Sie zum stillen Schreiben automatisch das öffentliche Reden darüber?
Betschart: Sagen wir, ich tue, was nach Abschluss des Schreibprozesses notwendig ist. Ich lese öffentlich, um nicht mir, sondern der ins Buch verpackten Botschaft eine Bühne zu geben. Bei interessierten, konstruktiven Fragen stehe ich gerne zur Verfügung. Auch ist es einem wichtig, dass die eigenen Absichten, die man ursprünglich mit seinem Buch verfolgt hat und nach wie vor verfolgt, nicht missinterpretiert werden.
Aerni: Zum Schluss noch diese Frage: Wenn ich ein Gemälde malen würde mit einem lesenden Menschen, der Ihr Buch in Händen hält, wie müsste dieses Bild aussehen?
Betschart: Das wäre ein von allem Drumherum befreiter Donald J. Trump, der, unter einer hell leuchtenden Glühbirne sitzend, hinter Gitterstäben in mein Buch starrt. Bei näherem Hinsehen kann man allerdings erkennen, dass der arme Häftling das Buch verkehrt herum in Händen hält.
Das Buch: «In der Nacht auf Morgen» von Aldo Solid Betschart, Roman, Bucher Verlag, 2024, 480 Seiten, ISBN 978-3-99018-714-2
Aldo Solid Betschart geboren 1971 in Muotathal, Schweiz, betätigte sich in der Vergangenheit als Zeitungsautor von Kurzgeschichten, New York-Berichterstatter, Theater-Bühnentechniker, Musiker, Tätowierer, Möbelschreiner und Gelegenheitsarbeiter. Mit »Apparatus Magneticus« erschien 2006 sein Roman-Debut. Es folgten »Grüße aus dem Schwalbennest!« (2009), »Ewig die Dummen« (2014) sowie »Fliegender Ring« (2017). Der als überzeugter Autodidakt sich verstehende Aldo Solid Betschart ist zweifacher Vater und lebt in Zürich.
Titelbild: Lubos Houska / Pixabay