1,3 Mio. Menschen in Österreich dürfen nicht wählen, obwohl sie arbeiten & Steuern zahlen
Jede fünfte Handwerkerin in Österreich hat keine heimische Staatsbürger:innenschaft. Im Dienstleistungsbereich wie etwa bei Friseuren ist es jede vierte Person. Die Hürden sind zu hoch, die Staatsbürger:innenschaft kostet zu viel. So kommt es, dass in Österreich 1,3 Millionen Menschen leben und arbeiten, aber nicht mitbestimmen dürfen. Denn das Wahlrecht ist an die Staatsbürger:innenschaft gekoppelt. Das muss sich ändern: Alle, die hier leben und Steuern zahlen, haben ein Recht mitzubestimmen!
„Schnell erklärt“ ist die Kolumne des Marie Jahoda – Otto Bauer Instituts in der Neuen Zeit. Von Nora Waldhör.
Erst kürzlich sorgte ÖVP-Generalsekretärin Laura Sachslehner mit ihrer Aussage, dass Lockerungen im Einbürgerungsgesetz die österreichische Staatsbürger:innenschaft entwerten würden, für Aufregung. Sachslehner zu Folge sei die österreichische Staatsbürger:innenschaft ein hohes Gut, das man sich zuerst verdienen müsse. Ein Blick auf die Fakten zeigt: Hunderttausende hier lebende Menschen gehen jeden Tag arbeiten und zahlen Steuern, scheitern aber an den viel zu hohen Hürden für eine Staatsbürger:innenschaft.
Österreich zählt im internationalen Vergleich zu den Staaten, in denen es am schwierigsten ist die Staatsbürger:innenschaft zu erhalten. Das geht aus dem Migrant-Integration-Policy-Index hervor. Er vergleicht, wie schwierig oder einfach es ist, Staatsbürger:in der Nation zu werden, in der man lebt und arbeitet. Dafür vergibt der Bericht Punkte und reiht die Länder danach – je mehr Punkte, desto einfacher der Zugang. Österreich schneidet erschreckend schlecht ab. Nur in Bulgarien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi Arabien ist es noch schwieriger, die Staatsbürger:innenschaft zu erlangen.
In Österreich sind die Kosten für eine Staatsbürger:innenschaft besonders hoch
Dass Österreich im internationalen Vergleich derart schlecht abschneidet, liegt an den zahlreichen Hürden im österreichischen Einbürgerungsgesetz. Beispielsweise ist die Staatsbürger:innenschaft in Österreich für ein hier geborenes Kind an die der Eltern gekoppelt. Wenn die Eltern keine österreichischen Staatsbürger:innen sind, bekommt ihr Kind immer die Staatsbürger:innenschaft der Mutter – egal, wie lange die schon in Österreich lebt. So kommt es, dass viele Menschen hier geboren und aufgewachsen sind, hier arbeiten und rechtlich trotzdem keine Österreicher:innen sind.
Außerdem ist es teuer, österreichische:r Staatsbürger:in zu werden. Bis zu 1.115 Euro an Abgaben müssen an den Bund geleistet werden. Zusätzlich kassieren die Länder noch bis zu 864 Euro. Außerdem müssen Antragsteller:innen nach Abzug der Miete und Unterhalt ein Einkommen von zumindest 1.030 Euro im Monat nachweisen können.
Das sind hohe Kosten für eine Staatsbürgerschaft in Österreich – überhaupt, wenn man bedenkt, dass die Kosten für Wohnen und Unterhalt in den letzten Jahrzehnten deutlich stärker gestiegen sind als die Einkommen. Man muss also ziemlich gut verdienen, um überhaupt Staatsbürger:in werden zu können. Das ist gerade für Menschen, die keine EU-Staatsbürger:innen sind, schwierig. Denn für sie ist es rechtlich ungleich schwerer, Arbeit zu finden.
Große Teile der arbeitenden Menschen sind in Österreich vom Wahlrecht ausgeschlossen
So kommt es, dass viele Menschen, die in Österreich arbeiten, gar keine Staatsbürger:innenschaft besitzen. Insgesamt waren laut Statistik Austria im Jahr 2019 rund 4,4 Millionen Menschen in Österreich erwerbstätig. Davon hatten 705.947 Menschen keine österreichische Staatsbürger:innenschaft. Das sind rund 16 % der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung.
Zum Vergleich: Wäre der österreichische Arbeitsmarkt ein Betrieb mit etwa 60 Beschäftigten, so hätten 10 davon keine österreichische Staatsbürger:innenschaft. Doch es gibt sehr große regionale Unterschiede: In Wien lag der Anteil der erwerbstätigen Personen ohne österreichische Staatsbürger:innenschaft sogar bei 30 %.
Jede:r fünfte Handwerker:in hat keine österreichische Staatsbürger:innenschaft
Große Unterschiede gibt es auch zwischen den einzelnen Berufsgruppen. 2019 lag der Anteil der als Hilfsarbeiter:innen beschäftigten Menschen ohne österreichische Staatsbürger:innenschaft österreichweit bei 50 %. Besonders hoch ist auch hier der Anteil in Wien (82 %). In der Berufsgruppe der Handwerksberufe sind in Wien Personen ohne österreichische Staatsbürger:innenschaft mit 56 % ebenso deutlich überrepräsentiert. Österreichweit liegt der Anteil an Personen ohne österreichische Staatsbürger:innenschaft unter allen Handwerker:innen bei 22 %.
Zwar ist der Anteil österreichweit nur halb so hoch, dennoch hat statistisch gesehen jede:r fünfte Handwerker:in eine andere Staatsbürger:innenschaft. Im Dienstleistungsbereich haben österreichweit etwa jede vierte (24 %) und in Wien jede zweite (49 %) Person keine österreichische Staatsbürger:innenschaft.
Diese Zahlen verdeutlichen, dass große Teile vieler Berufsgruppen mangels österreichischer Staatsbürger:innenschaft nicht wahlberechtigt sind und somit von politischer Mitbestimmung ausgeschlossen sind. Jedoch gilt auch für sie: Sie müssen Steuern und Beiträge zur Sozialversicherung zahlen. Der große Unterschied ist jedoch, dass sie nicht mitentscheiden dürfen, wer regiert und somit über ihre Steuern entscheiden kann.
Immer weniger Menschen werden durch die Politik vertreten
Die Beschäftigten-Zahlen zeigen aber auch: Personen ohne österreichische Staatsbürger:innenschaft “leisten” genug. Integration darf nicht nur das Ziel verfolgen, Arbeitsplätze am Arbeitsmarkt möglichst schnell zu besetzen, sondern muss auch politische Rechte und Teilhabe beinhalten. Ansonsten schwächen wir unser demokratisches System.
Bereits jetzt leben in Österreich rund 1,3 Millionen Menschen im wahlfähigen Alter, die mangels österreichischer Staatsbürger:innenschaft nicht wahlberechtigt sind. Diese Menschen dürfen somit weder aktiv noch passiv an Wahlen teilnehmen, keine Volksbegehren unterschreiben – sie dürfen nicht einmal selbst eine Kundgebung oder eine Demonstration anmelden.
Bleibt die Gesetzeslage so, wie sie aktuell ist, wird sich dieses Problem weiter verschärfen: Die Zahl der Menschen, die in Österreich leben, aber keine österreichische Staatsbürger:innenschaft haben, wird bis 2045 um weitere 28 % steigen. Das würde bedeuten, dass im Jahr 2045 rund 2,3 Millionen Menschen in Österreich von politischen Prozessen ausgeschlossen sind.
Egal ob es um arbeitsrechtliche Fragen wie die Einführung eines 12-Stunden-Tages geht, oder um sozialpolitische Reformen wie etwa die Einführung eines degressiven Arbeitslosengeldes – viele arbeitende Menschen in Österreich dürfen derzeit nicht mitbestimmen, in welche Richtung sich das Land bewegt. Und das, obwohl viele seit Jahrzehnten hier leben, arbeiten und einen großen Beitrag für unsere Gesellschaft und Wirtschaft leisten.
Um einer modernen Demokratie zu entsprechen, die Mitbestimmung für alle ermöglicht, muss daher das Wahlrecht von der Staatsbürger:innenschaft entkoppelt werden. Außerdem muss der Zugang zur österreichischen Staatsbürger:innenschaft vereinfacht werden. Ansonsten werden immer größere Teile der Bevölkerung nicht mehr durch die Politik vertreten – was zu Politikverdrossenheit führt und gefährlich für jede Demokratie ist.
Zum Weiterlesen:
Migrant Integration Policy Index (2020): https://www.mipex.eu/
Marie Jahoda – Otto Bauer Institut (2022): 1,1 Millionen Menschen, die in Österreich leben, dürfen nicht wählen, online unter: https://jbi.or.at/migration_04/
Black Voices – Warum es ein Anti-Rassismus Volksbegehren braucht, online unter: https://jbi.or.at/black-voices/
Kowall redet Tacheles: https://www.youtube.com/results?search_query=kowall+redet+tacheles (Folge 18-21)
SOS Mitmensch (2022): Fragen & Antworten – Pass Egal Wahl, online unter: https://www.sosmitmensch.at/faq-pass-egal-wahl
Ginner, B. & Hammer, K. (2022): Demokratie braucht Jugend, online unter: https://awblog.at/demokratie-braucht-jugend/
Dieser Beitrag erschien am 13.09.2022 auf Marie Jahoda – Otto Bauer Institut unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY Attibution 4.0 International veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den Nutzer*innen eine freie Bearbeitung, Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen.