9,3 Millionen wählen in São Paulo
Am 6. Oktober finden in der größten Stadt Brasiliens Kommunalwahlen statt. Es wird ein knappes Rennen zwischen dem amtierenden Bürgermeister Ricardo Nunes (MDB) und seinem linken Herausforderer Guilherme Boulos (PSOL) erwartet. Auch dem Bolsonaristen Pablo Marçal (PRTB) werden Chancen auf die Stadtpräfektur eingeräumt. 9.322.444 Paulistanos ab 16 sind wahlberechtigt, für 18 bis 70-jährige besteht Wahlpflicht.
Von Michael Wögerer
Während in ganz Österreich am 29. September 6,3 Millionen Menschen zur Teilnahme an den Nationalratswahlen aufgerufen sind, werden es die Woche darauf bei den Kommunalwahlen in der Stadt São Paulo um drei Millionen mehr sein. In der 12,4 Millionen-Metropole wird am 6.10. über den nächsten Bürgermeister, den/die Vizebürgermeister/in und 56 Stadträtinnen und Stadträte entschieden. Eine mögliche Stichwahl ist für den 27. Oktober vorgesehen.
Weiter rechts, links oder faschistisch?
São Paulo wird seit sieben Jahre durchgehend von Vertretern des konservativen, neoliberalen Lagers regiert, auch wenn sich die Bürgermeister João Doria Júnior (2017/2018) und Bruno Covas (2018-2021) offiziell als „Sozialdemokraten“ (Partido da Social Democracia Brasileira) bezeichnet hatten. Derzeitiger Prefeito (Stadtpräfekt) ist der schneidige Geschäftsmann Ricardo Nunes von der zentristischen Partei Movimento Democrático Brasileiro (MDB). Er befürwortet die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen (u.a. wurden in seiner Amtszeit die Gemeindefriedhöfe ausgelagert) und kam – auf der anderen Seite – wegen massiver Erhöhung der städtischen Werbeausgaben und Unregelmäßigkeiten bei öffentlichen Vergaben in die Schlagzeilen.
Nunes ist angezählt, seine Herausforderer sind ihm – aktuellen Umfragen zufolge – dicht an den Fersen. Je nach Institut und Schwankungsbreite werden dem Amtsinhaber lediglich 18-27 Prozent der Stimmen prognostiziert, während Guilherme Boulos von der linken Partei ‚Socialismo e Liberdade‘ (Sozialismus und Freiheit) Zustimmungswerte von 22-26 Prozent und Pablo Marçal von der wirtschaftsliberalen bis rechtsextremen ‚Brasilianischen Partei zur Erneuerung der Arbeit‘ von 19-32 Prozent bescheinigt werden. Letzterer gilt als ‚digitaler Influencer‘, der durch den Verkauf von Kursen zur Persönlichkeitsentwicklung in den sozialen Medien reich und bekannt wurde. Zudem ist er erklärter Fan des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro (2019-2022), dessen rassistischen, neoliberalen, frauenfeindlichen, homophoben – kurzum: faschistischen – Positionen weltweit Unrühmlichkeit erlangt haben.
Vereinte Linke für Boulos e Martha
Seit 1989 bestimmten grosso modo zwei Parteien abwechselnd die Regierungspolitik der Stadt: die sozialistische ‚Partido dos Trabalhadores‘ (PT) und die rechte ‚Partido Progressista‘ bzw. ‚Partido Popular/Populista‘ (PP). Die Linke regierte zuletzt von 2013 bis 2017 unter Fernando Haddad (PT), derzeit Finanzminister im Kabinett Lula III.
Bei den bevorstehenden Wahlen geht Guilherme Castro Boulos für die Linke als Bürgermeisterkandidat ins Rennen. Er ist Mitglied des Nationalkomitees der Bewegung der wohnungslosen Arbeiter (MTST) und war 2018 Präsidentschaftskandidat der PSOL. Seit 2022 ist er Abgeordneter für den Bundesstaat São Paulo in der brasilianischen Abgeordnetenkammer und somit Teil des Nationalkongress. Obwohl der studierte Philosoph nicht der Arbeiterpartei (PT) angehört, wurde seine Kandidatur von Präsident Lula da Silva ausdrücklich unterstützt, was Anfangs für Irritationen in seiner Partei sorgte. Doch die Wogen haben sich geglättet und sowohl die PT als auch viele weitere sozialistische und kommunistische Parteien haben sich hinter dem aussichtsreichsten Kandidaten Boulos versammelt.
Geht es nach dem progressiven Wahlbündnis, soll die ehemalige Stadtpräfektin Marta Suplicy (2001-2004) von der Arbeiterpartei Vizebürgermeisterin werden. Im Wahlkampf aktiv unterstützt werden die beiden von der 89-jährigen Luiza Erundina de Sousa (PSOL), die 1989 bis 1992 erste Bürgermeisterin der Millionenstadt war.
Wie das Rennen ausgeht, werden wir am 6. Oktober bzw. spätestens nach der Stichwahl am 27. Oktober erfahren.
Michael Wögerer berichtet während seiner Reise durch Lateinamerika laufend via Alerta Media – Kooperationspartner von Unsere Zeitung.
Titelbild: Michael Wögerer