AktuellNachhaltigkeitÖsterreich

Tausende Systemerhalter:innen verlassen uns in die Pension: Wer füllt die Lücke?

Systemrelevante Beschäftigung ist jene, ohne die wir nicht überleben. Sie ist es, die den Zusammenhalt unserer Wirtschaft und Gesellschaft garantiert. In betroffenen Branchen, wie etwa Gesundheit und Pflege oder Verkehr steht jedoch eine enorme Pensionierungswelle bevor.

Von Julia Bock-Schappelwein und Gabriele Schmid (A&W-Blog)

Etwa 288.000 „wahre Leistungsträger:innen“ verlassen in fünf bis zehn Jahren den Arbeitsmarkt. Und noch länger ausgelaugt arbeiten ist für die überwältigende Mehrheit der Systemerhalter:innen sicher nicht möglich. Daher muss die erste Aufgabe einer neuen Regierung sein, für ausreichende Nachbesetzung zu sorgen.

Lehrmeister Corona

Eines wissen wir seit Corona definitiv: Wenn der Handel, das Gesundheitswesen, die Altenpflege, die Kinderbetreuung etc. überlastet sind oder gar ausfallen, stoppt die gesamte Wirtschaft. Aber systemrelevante Beschäftigung ist viel mehr:

Zu ihr zählen auch die Energie- und Wasserversorgung, die Abwasserbeseitigung, Abfallentsorgung, die Lebensmittelversorgung, Telekommunikation, Banken, Transport und Verkehr, Rundfunk, Presse sowie Staat und Verwaltung mit öffentlicher Sicherheit und Ordnung, Verteidigung, Justiz und Feuerwehren.

Es ist klar: Ohne systemrelevante Beschäftigung, ohne Systemerhalter:innen geht gar nichts.

Gemeinsamkeiten von systemrelevanten Beschäftigten?

Die Gesamtheit der systemrelevanten Beschäftigten umfasst 1,5 Mio. Beschäftigte (840.000 Frauen und 620.000 Männer). Damit ist fast jeder vierte Beschäftigte in Österreich der systemrelevanten Beschäftigung zuzurechnen. Und: Es handelt sich um Branchen mit hohem Frauenanteil und häufig irregulären Arbeitszeiten.

Arbeitnehmer:innen mit Migrationshintergrund finden sich vor allem in der Altenpflege und im Verkehr. Die Bezahlung in den genannten Branchen ist zumeist unterdurchschnittlich, die Arbeitszeiten von Abweichungen der Regelarbeitszeiten gekennzeichnet. Physische und psychische Belastungen gefährden den Verbleib im Beruf bis zur Pension.

Wer pflegt noch 2030? Wer bringt uns dann von A nach B?

Systemerhalter:innen sind im Schnitt deutlich älter als andere Beschäftigte.

47 Prozent, also fast die Hälfte der Beschäftigten in systemrelevanten Bereichen, sind 45 Jahre oder älter. Daraus folgt zweierlei:

  • Zum einen braucht es für ältere Beschäftigte eine alternsgerechte Arbeitsumwelt, die es ihnen erlaubt, gesund und aktuell qualifiziert die Pension zu erreichen, und
  • zum zweiten muss rechtzeitig für geeignete Nachfolger:innen vorgesorgt werden. Denn schon jetzt leiden Branchen wie die Gesundheit oder die Pflege unter Personalmangel, was die Qualität der erbrachten Arbeit stark beeinträchtigt. Damit sich die Situation verbessert, sind mehr Beschäftigte notwendig.

Ein Fünftel der Systemerhalter:innen geht in den nächsten fünf bis zehn Jahren in Pension: 288.000 potenzielle Nachbesetzungen sind notwendig.

Die Hälfte dieser potenziellen Nachbesetzungen entfällt auf die öffentliche Verwaltung. Eine effizient arbeitende öffentliche Verwaltung dient u. a. der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit. Mehr Polizei, mehr Sozialarbeit wird gewünscht, um soziale Konflikte zu unterbinden, aber wir benötigen auch Feuerwehr und Justiz. Wollen wir Klimaziele erreichen, muss jemand unabhängiger messen, planen, kontrollieren und auf die Einhaltung gesetzlicher Vorgaben pochen.

Besonders auffällig ist der hohe Anteil von Frauen im Alter ab 45 Jahren im Bereich der Ernährungssicherheit (Produktion, Verarbeitung und Verkauf) und im Gesundheits- und Pflegewesen, wo Frauen einen Großteil der Beschäftigten stellen. Am Beispiel Gesundheit und Pflege erläutert, sind besonders viele in Pflegeheimen, Krankenhäusern und in Arztpraxen beschäftigte Frauen älter. Hohe physische und psychische Belastung trifft auf ohnehin häufig gesundheitlich angeschlagene Mitarbeiterinnen.

Bei Männern ist eine Alterszentrierung im Güter- und Personenverkehr auffällig, mit einem großen Anteil von über 55-Jährigen.

Enorme Lücke bei Nachbesetzungen bereits absehbar

Aufgrund der starken Zunahme älterer Menschen in unserer Gesellschaft ist bereits absehbar, dass die Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen stark steigen wird.

Pflege: Bis 2030 müssen 51.000 Pflegepersonen nachbesetzt werden. Betrachtet man den Mehrbedarf, so wird sich dieser in den nächsten Jahren für den akutstationären Bereich und für den Langzeitbereich zumindest zwischen 5.000 und 6.600 Pflegepersonen pro Jahr bewegen. Die Zahl der Ausbildungsplätze reicht aber nicht aus, um diesen Bedarf zu decken. Es werden pro Jahr unter 5.000 Personen ausgebildet. Und damit klafft ein Gap zwischen Bedarf und Auszubildenden.

Aus dem benachbarten Ausland sind kaum Nachbesetzungen zu erwarten. Denn ganz Europa altert und braucht Betreuungspersonen in Pflege und Gesundheitswesen.

Verkehr: Mit der Forcierung eines ökologisch verträglichen Mobilitätsverhaltens sind Nachfrageerhöhungen im Verkehr zu erwarten, vor allem im Bereich Fahrzeugführer:innen. Arbeits- und Qualifikationsanforderungen könnten sich in Sachen Mobilität gravierend ändern – beispielsweise bei der E-Mobilität. In diesem Sektor ist es besonders augenscheinlich, dass Qualifizierung eine zentrale Aufgabe ist.

Der Verkehr umfasst sehr viele unterschiedliche Beschäftigungsbereiche, wie etwa das Eisenbahnwesen, den Busverkehr, die Schifffahrt, Luftfahrt, Transportdienste etc.

Dabei benötigen etwa die ÖBB bei 42.000 Beschäftigten in den nächsten drei Jahren laut eigenen Aussagen 17.000 neue Beschäftigte. Es existiert zwar eine Lehrlingsausbildung für Berufskraftfahrer:innen, diese wird aber zumeist im außerordentlichen Lehrabschluss erreicht bzw. durch Berufspraxis.

Was tun?

Es muss eine prioritäre Aufgabe einer neuen Regierung sein, sich um die Versorgungssicherheit zu kümmern und der systemrelevanten Beschäftigung einen zentralen Stellenwert beizumessen. Gerade weil so viele Arbeitskräfte in den nächsten Jahren altersbedingt aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden werden, ist es enorm wichtig, dass sie ihren Beruf bis zur Pension gesund und qualifiziert ausüben können.

Gerade aufgrund des zentralen Stellenwerts der systemrelevanten Beschäftigung für Wirtschaft und Gesellschaft muss sichergestellt werden, dass ausreichend Fachkräfte in den systemrelevanten Branchen nachfolgen können.

Schritt eins: Arbeitskräfte halten! Alternsgerechte Arbeitswelt!

Schritt zwei: Fachkräfte rechtzeitig ausbilden und Arbeitsplätze attraktivieren!

Denn die einen sind im Dunkeln. Und die anderen sind im Licht.
Und man siehet die im Lichte. Die im Dunkeln sieht man nicht.“
Bertolt Brecht (1898–1956)


Dieser Beitrag wurde am 22.08.2024 auf dem Blog Arbeit & Wirtschaft unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den NutzerInnen eine freie Bearbeitung, Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen.

Titelbild: Luis Melendez / Unsplash

Artikel teilen/drucken:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.