Wer sich schämt, macht keine Revolution
Daniela Dröscher: „Zeige deine Klasse – Die Geschichte meiner sozialen Herkunft“. Die Biografie einer Klassenaufsteigerin zeigt, welche herrschaftssichernde Funktion soziale Scham hat. Sonntag ist Büchertag
Von Julian Koptisch (kritisch-lesen.de)
Das Gefühl des Dazwischen. Losgelöst von dort, wo man herkommt, aber noch nicht vollständig da integriert, wo man hinmöchte. Möglicherweise wird man es nie wirklich sein. Seit gut einem Jahrzehnt erlebt die literarische Gattung der Autosoziobiografie unter anderem in der Beschreibung dieses subjektiven Erlebens zwischen den Klassen einen beispiellosen Erfolg. Autor:innen wie Didier Eribon, Édouard Louis, Christian Baron und Ilija Matusko haben ebenso wie Daniela Dröscher mit ihrem Buch „Zeige deine Klasse“ (2018) zu einem Kanon an Texten beigetragen, die Literatur und Fiktion verbinden und gleichzeitig eine soziologische Gegenwartsbeschreibung vornehmen. Was durch die Verschränkung von Autobiografie und soziologischer Analyse besonders gut realisiert werden kann, ist die Thematisierung des individuellen Gefühlslebens der Autor:innen, das sogleich soziologisch kontextualisiert wird. Als eines der zentralen Themen autosoziobiografischer Werke gilt die Auseinandersetzung des oder der Erzähler:in mit der eigenen sozialen Herkunft. Dabei handelt es sich um einen biografischen Prozess, der einen starken Einfluss auf eben jenes Gefühlsleben von Individuen, seine Emotionen und Affekte zu haben scheint.
Im Falle Daniela Dröschers erweist sich die Scham als eines der zentralen Motive, das sie durch die biografische Reise einer nicht-akademischen Herkunftsklasse in ein akademisches Umfeld begleitet.
Pfälzischer Dialekt und andere Unwägbarkeiten
Dröscher lädt ihre Leser:innen ein, gemeinsam ihren Lebensweg aus heutiger Perspektive zu rekapitulieren. So trifft ein soziologisch geschulter Blick der Gegenwart auf die Stationen ihrer Kindheit und Jugend, ihre ersten Jahre an der Universität und fächert nicht zuletzt jenen Prozess auf, sich diesen Blick aus der akademischen Klasse heraus mühsam erarbeitet zu haben. Den Startpunkt dieser Reise markiert eine soziale Herkunft in der rheinland-pfälzischen Provinz. Ökonomische Sorgen bekommt Dröscher von ihrem Elternhaus nicht mit auf den Weg, allerdings auch keine kulturellen Kompetenzen und sozialen Beziehungen, die ihr den Einstieg in die akademische Welt der Universität erleichtert hätten. Entsprechend groß erweist sich der Abstand zwischen ihrer sozialen Herkunft und dem akademischen Milieu. Ein Aspekt, der sie durch ihre Biografie zu begleiten scheint und den Weg ihres Klassenaufstiegs besonders erschwert: der Affekt der Scham. Insofern diese nie unvermittelt, sondern immer in Verbindung mit anderen sozialen Kontexten greift, wird sie in der Emotionssoziologie auch als soziale Scham bezeichnet. Der Begriff bezieht sich auf das Selbstwertgefühl einer Person, das von der Wertschätzung durch andere nicht zu trennen ist. Ab dem Moment, in dem Dröscher beginnt, ihr Herkunftsmilieu zu verlassen, begegnet ihr Scham wiederkehrend als zentraler Affekt. Dabei verhält sie sich ambivalent und kann sowohl als Scham „nach oben“ wie auch „nach unten“ funktionieren:
„Wenn ich mich ‚nach oben‘ schäme, also mich mit den Augen derjenigen sehe, die ihre Privilegien als selbstverständlich betrachten, gewähre ich diesen die Macht darüber, meinen gesellschaftlichen Wert zu bestimmen. Diese Scham sucht die Unsichtbarkeit. Das Versteck. Sie lähmt und erzeugt Stillstand. Wenn ich mich ‚nach unten‘ schäme, also mich in diejenigen spiegele, die deutlich weniger Privilegien besitzen, kann ich mir meiner blinden Flecke und ungenutzten Handlungsmöglichkeiten bewusst werden.“ (S. 24-25)
So berichtet sie etwa von dem Schulwechsel auf ein Privatgymnasium und dem ersten Mal, dass sie mit Mitschüler:innen aus einem nicht-provinziellen, akademischen Umfeld in Kontakt kommt. Hier wird sie sich bald ihres Dialekts bewusst, den sie als einzige spricht, was sie mit Scham erfüllt und dazu bringt, diesen so schnell wie möglich durch präzises Hochdeutsch zu ersetzen. Dass sie sich dabei aber gleichzeitig von einer Mitschülerin aus dem Ursprungsmilieu entfernt und diese für den von ihr beibehaltenen Dialekt implizit angreift, löst bei Dröscher ebenso Scham aus – nach unten.
Am stärksten begegnet ihr die Scham später an der Universität: Dem Ort, der symbolisch für das Andere der provinziellen Durchschnittsbiografie steht und für Klassenwechsler:innen gleichzeitig Fluchtpunkt, Faszination und Abschreckung bedeutet. An dieser Stelle eröffnet sich die gesamte Stärke der Literaturform der Autosoziobiografie im Allgemeinen und Dröschers Version davon im Speziellen. Immer wieder breitet sie ihr Gefühlsleben aus, lässt den Leser:innen gerade genug Zeit, sich damit identifizieren zu können, um die Erfahrung direkt im Anschluss mit einem soziologischen Deutungsangebot wieder einzufangen. So verhält es sich beispielsweise mit dem vollgepackten Semesterplan, von dem sie berichtet und den sie sogleich als Ausdruck eines „unverarbeiteten progressiven Milieuwechsels“ (S. 201) zu erklären versucht. Oder wenn sie davon schreibt, wie ihr am Ende ihres ersten Semesters klar wird, dass sie sich im Seminarraum überhaupt nicht mehr aktiv beteiligt, obwohl ihr das in der Schule nie schwerfiel. Auch hier folgt rasch die soziologische Erklärung. Im Selbstvergleich mit den Kommiliton:innen bleibt die eigene Ausdruckfähigkeit stets hinter deren selbstbewusst vorgetragenen Wortbeiträgen zurück. Im Gegensatz zu den Privilegierten im Seminarraum wird ihr plötzlich der Abstand bewusst, den die unterschiedlichen sozialen Herkünfte bis dato produziert haben. Alles, was als potenzieller Redebeitrag formuliert wird, wird in der Selbstwahrnehmung im Vergleich mit den Anderen automatisch abgewertet – Scham nach oben.
„Hier im Seminarraum sagte ich plötzlich nichts mehr, nicht einmal, wenn etwas wirklich meine Leidenschaft weckte. Im Nachhinein erstaunt das nicht. Der Grundhabitus im Seminar bestand aus eloquenten, wortgewandten, mit Namen und Fremdwörtern gespickten Argumentationen und einer kristallinen, eleganten Syntax. Als einschüchternd und elitär nahm ich dieses Verhalten wahr, die Sprechenden verhielten sich wahrscheinlich aber schlicht selbstbewusst.“ (S. 187)
Zur gesellschaftlichen Funktion des Schamgefühls
Der Vergleich mit Menschen akademischer Herkunft kann Dröschers Erzählung zufolge zu einer defizitären Selbsteinschätzung führen. Denn ihr Erleben von Scham reproduziert das Gefühl, nie genug zu sein, gemacht oder versucht zu haben. Sie spricht von einem immerwährenden „Gefühl des zu-SPÄT“ (S. 192, [Herv. i.O.]). Es entsteht die Scham über das eigene Unvermögen, weniger als die anderen gelesen, gelernt und an Wissen angehäuft zu haben. Als einzig zur Verfügung stehendes Gegenmittel bleibt der Versuch, der Distanz zu jenen Menschen, die qua Geburt Teil des akademischen Milieus sind, mit einem übersteigerten Arbeitsethos zu begegnen und diese Distanz irgendwie zu verringern. Emotionssoziologisch gesprochen sind Dröschers Erfahrungen ein Paradebeispiel für die Funktion, die soziale Scham innerhalb der Gesellschaft einnimmt. In einer ökonomischen Ordnung, für die soziale Ungleichheiten konstitutiv sind, dienen Affekte wie Scham zur Reproduktion der herrschenden Verhältnisse und immunisieren diese gegen Irritation und Infragestellung. Gewiss ist der Ursprung dieser Ungleichheiten in den Produktionsverhältnissen zu suchen und insofern materieller Natur. Jedoch zeigt eine Analyse von Affekten wie Scham, dass die symbolische Dimension der Alltagswelt ein nicht zu unterschätzendes Instrument in der Aufrechterhaltung ungleicher Sozialstrukturen ist. Dass diese Aufrechterhaltung gelingt, zeichnet sich auch in Dröschers Erfahrung ab, denn: „An den schlechten Tagen […] überwog das Gefühl, mich am gänzlich falschen Ort zu befinden.“ (S. 193) Sie hat es dennoch geschafft, sich gegen alle Widrigkeiten in der akademischen Welt zu behaupten und sogar eine medienwissenschaftliche Promotion abzuschließen. Sehr wahrscheinlich ist sie damit eine der wenigen Ausnahmen im Vergleich zu anderen angehenden Klassenwechsler:innen, bei denen die Scham als Exklusionsmechanismus „erfolgreicher“ funktioniert hat. Dass Daniela Dröscher ihre Reise auf diese autosoziobiografische Weise öffentlichkeitswirksam aufbereitet, ist ein Glücksfall. Dass der Scham in ihrer politischen Funktion damit endlich eine gewisse Öffentlichkeit zukommt, erscheint aus emanzipatorischer Perspektive höchst produktiv. Denn sich zu schämen ist meist ein höchst intimer Moment. Dafür zu sensibilisieren, dass die Scham nicht selbst verursacht, sondern ganz im Gegenteil sogar herrschaftssichernd von außen wirkt, kann ein erster Schritt sein, das Herrschaftsgefüge, das durch sie reproduziert wird, zu destabilisieren.
Daniela Dröscher: Zeige deine Klasse – Die Geschichte meiner sozialen Herkunft
Hoffmann und Campe, Hamburg.
ISBN: 978-3-455-00431-1
245 Seiten. 20,00 Euro
Dieser Beitrag wurde am 09.04.2024 auf kritisch-lesen.de, Kooperationspartner von Unsere Zeitung, unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den Nutzer*innen eine Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen zu nicht kommerziellen Zwecken.
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