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Zwei-Klassen-Medizin im Gesund­heits­system: Wahl­ärzt:innen auf dem Vor­marsch

Lange Wartezeiten, verschobene Operationstermine, Lieferengpässe für notwendige Medikamente und weitere Problemberichte aus dem Gesundheitswesen finden sich regelmäßig in den Medien. Auch aktuelle Umfragen zeigen: Die Zufriedenheit mit dem österreichischen Gesundheitssystem sinkt. Laut Austrian Health Report sind nur mehr 45 Prozent der Befragten sehr zufrieden oder zufrieden mit dem Gesundheitssystem, 2022 waren es immerhin noch 56 Prozent. Bereits 79 Prozent sind der Meinung, dass Menschen, die es sich leisten können, schneller behandelt werden, und nur 25 Prozent glauben, dass das österreichische Gesundheitssystem fair ist. Tatsächlich wächst der Anteil an Wahlärzt:innen rasant.

Von Pia Zhang, AK Wien (A&W-Blog)

Sind die Wahlärzt:innen schuld?

Gesundheitsexpert:innen und -politiker:innen beschäftigen sich in den letzten Jahren intensiv mit möglichen Stellschrauben im komplexen österreichischen System. Aktuell wird insbesondere über den Vorstoß des Wiener Gesundheitsstadtrats Peter Hacker diskutiert. Er kündigte an, künftig für Spitalsärzt:innen, die Teilzeit in Wiener Spitälern tätig sind, keine Wahlärzt:innentätigkeit mehr zulassen zu wollen. Diesem Vorschlag kann auch ÖGK-Obmann Andreas Huss sowie der Wiener Patient:innenanwalt Gerhard Jelinek etwas abgewinnen. Kritisch äußerte sich hingegen die Wiener Ärztekammer.

Ob eine solche Einschränkung, insbesondere in Zusammenhang mit der Teilzeitrichtlinie der EU (RL 97/81/EG), die eine Schlechterbehandlung von Teilzeitbeschäftigten im Vergleich zu Vollzeitbeschäftigten nur aus sachlichen Gründen erlaubt, rechtlich zulässig ist, wird von der genauen Ausgestaltung abhängen. Diese soll bis Ende des Jahres 2024 im Rahmen eines neuen Personalpakets mit der Gewerkschaft ausverhandelt werden.

Demografischer Wandel – Daten, Zahlen, Fakten zur ärztlichen Versorgung

Tatsache ist, dass aufgrund des demografischen Wandels die Anzahl Älterer in den nächsten Jahren massiv ansteigen wird. Derzeit beträgt der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung rund 20 Prozent, dieser Anteil wird auf Basis der aktuellen Bevölkerungsprognose der Statistik Austria bis 2050 auf rund 28 Prozent ansteigen. Der Anteil der über 80-Jährigen ist seit 1991 von 3,57 Prozent auf 5,91 Prozent im Jahr 2023 angestiegen. Bis 2050 wird hier ein Anstieg auf 11,53 Prozent prognostiziert.

Dies führt zwangsläufig auch zu einer höheren Inanspruchnahme medizinischer Leistungen sowohl im stationären als auch im niedergelassenen Bereich. Derzeit werden rund 50 Prozent der medizinischen Leistungen während stationärer Aufenthalte an über 65-jährige Patient:innen erbracht. Ein ähnliches Bild zeigt sich im niedergelassenen Bereich.

Dem gegenüber steht eine stagnierende Anzahl an Kassenärzt:innen. Laut einem Bericht des Rechnungshofs aus 2021 stieg die Anzahl der Vertragsärzt:innen für Allgemeinmedizin zwischen 2009 und 2019 um bloß 0,1 Prozent an, während die Gesamtbevölkerung im gleichen Zeitraum um 6,3 Prozent wuchs. Die Gesamtanzahl der Ärzt:innen mit Kassenvertrag erhöhte sich von 2009 auf 2019 ebenfalls nur um 3,8 Prozent. Ganz anders sieht es bei den Wahlärzt:innen aus, deren Anzahl im selben Zeitraum von 7.211 auf 10.037 um 39 Prozent überdurchschnittlich anstieg.

Versorgungswirksamkeit?

Somit stehen deutlich mehr (und ältere) Patient:innen einer stagnierenden Anzahl an Kassenärzt:innen und einer steigenden Anzahl an Wahlärzt:innen gegenüber. Laut Rechnungshofbericht stehen keine Daten zur Versorgungswirkung der Wahlärzt:innen zur Verfügung. Die abgerechneten Leistungen der Krankenversicherungsträger zeigen aber, dass der Anteil der Ausgaben der Gebietskrankenkassen für Wahlärzt:innen im Verhältnis zu den Ausgaben für Vertragsärzt:innen gestiegen ist. Während sie im Jahr 2008 noch 4,6 Prozent betrugen, sind es im Jahr 2018 bereits 6,4 Prozent.

Auch eine aktuelle Anfragebeantwortung des Gesundheitsministeriums bestätigt diese Entwicklungen. In einzelnen Fächern sank der Anteil der Kassenärzt:innen massiv. So waren im Jahr 2017 beispielsweise im Bereich der Dermatologie noch 312 Vertragsärzt:innen tätig, im Jahr 2023 nur mehr 233. Gleichzeitig stieg die Zahl der Wahldermatolog:innen von 434 auf 570 an. Dies bildet sich auch im Anstieg der Ausgaben der Krankenversicherungsträger für Wahlarztrefundierungen ab. Die Wahlarztrefundierungen für Hautärzt:innen haben sich im selben Zeitraum von rund 8 Millionen auf rund 14 Millionen Euro fast verdoppelt. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch in den Bereichen Augenheilkunde, Gynäkologie und Orthopädie.

Diese Zahlen lassen den Schluss zu, dass die Leistungen der Wahlärzt:innen zumindest in einzelnen Bereichen zur Absicherung der ärztlichen Versorgung beitragen. Da Wahlärzt:innen nicht zur Einhaltung bestimmter Öffnungszeiten verpflichtet sind und wohl aufgrund der finanziellen Hürden nicht allen Patient:innen zugänglich sind, können diese bei der Sicherstellung der ärztlichen Versorgung nicht eingerechnet werden. Teilweise kommt es wohl in bestimmten Fachrichtungen aufgrund fehlender vertragsärztlicher Angebote aber zur Lückenabdeckung durch Wahlärzt:innen. Auch der Rechnungshof sieht darin eine der zentralen Herausforderungen im System der Krankenversicherungen.

Die Zahlen des Verbands der Versicherungsunternehmen Österreichs (VVO) zeigen, dass auch die Anzahl privater Kranken-Zusatzversicherungen stark ansteigt. So haben sich die Netto-Neukunden von 2022 auf 2023 vervierfacht. Der größte Anteil der Auszahlungen wird laut VVO-Jahresbericht für das Jahr 2023 zwar für Krankenhauskosten geleistet, aber auch die Ausgaben der Arztleistungen im niedergelassenen Bereich sind allein im Vergleich zum Vorjahr um 17,8 Prozent gestiegen. Dies befördert wiederum die Zwei-Klassen-Medizin. Wer es sich leisten kann, schließt eine Wahlarztversicherung ab und kann das wahlärztliche Angebot in Anspruch nehmen. Alle anderen sind davon ausgeschlossen oder müssen bei „gezwungener“ Inanspruchnahme die erheblichen Kosten selbst tragen.

Es braucht mehr Kassenverträge

Dass es zur Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgung des Gesamtbevölkerung mehr Kassenstellen braucht, ist augenscheinlich und wurde auch von der Regierung erkannt. So wurde auf die bestehenden Herausforderungen mit einem Maßnahmenpaket und zusätzlichen Mitteln für das Gesundheitsbudget im Rahmen des Finanzausgleichs reagiert (wobei hiervon der größte Teil dem stationären Bereich zugeordnet wurde). Mit 1. Jänner 2024 trat das Gesundheitsreformmaßnahmen-Finanzierungsgesetz in Kraft. Demnach sollen ergänzend zu den ärztlichen Stellenplänen 100 zusätzliche Vertragsstellen für bestimmte Fachgebiete geschaffen werden, darunter beispielsweise Allgemeinmedizin, Kinder- und Jugendheilkunde, Dermatologie und Frauenheilkunde. Eine Verordnung regelt die Verteilung der Vertragsstellen auf die einzelnen Bundesländer. Hinsichtlich der Fachgebiete ist vorgegeben, dass zumindest die Hälfte der 100 zusätzlichen Stellen für Allgemeinmedizin und Kinder- und Jugendheilkunde vorzusehen sind. Die konkrete regionale und fachspezifische Verteilung hat je nach jeweiliger Versorgungslage zu erfolgen.

Nach § 2 des Gesundheitsreformmaßnahmen-Finanzierungsgesetzes können die Krankenkassen einen Startbonus bis zu 100.000 Euro gewähren, wenn zwischen 1.8.2023 und 31.12.2024 ein Vertrag zur Besetzung einer Vertragsstelle in den genannten Fachbereichen abgeschlossen wird. Bei einer Vertragskündigung vor Ablauf von fünf Jahren ist der Startbonus aliquot zur Vertragsdauer zurückzuzahlen.

In einer aktuellen Anfragebeantwortung zum Startbonus für Kassenarztstellen des Bundesministers Johannes Rauch wird festgehalten, dass bisher 67 Stellen der insgesamt 100 neuen Vertragsstellen ausgeschrieben wurden. Nach aktueller Auskunft der ÖGK konnten bisher 12 davon ihren Betrieb aufnehmen, die internen Prozesse für weitere Stellen sollten ebenfalls bald abgeschlossen sein. Dass bis Ende des Jahres tatsächlich alle 100 Stellen besetzt werden können, ist auf Basis dieser Zahlen eher unwahrscheinlich.

Stärkere Einbeziehung aller Gesundheitsberufe

Ein weiterer Ansatzpunkt ist die vermehrte Einbeziehung nichtärztlicher Gesundheitsberufe in die sozialversicherungsrechtliche Erstattungsfähigkeit von Leistungen mit gesetzlich definierten Leistungsbereichen. Dies wäre jedenfalls sowohl im Bereich von Disease-Management-Programmen (DMP) angezeigt als auch beim Wundmanagement nach ärztlicher Verordnung. Mehr Aufgabenbereiche für nichtärztliche Gesundheitsberufe sorgen auch für eine Entlastung der Ärzt:innen und dadurch für mehr Kapazitäten für ärztliche Versorgung.

Was muss getan werden?

Der dringend notwendige Ausbau der vertragsärztlichen Versorgung, zu der insbesondere auch Primärversorgungseinheiten zählen, wird zwar seit Jahren angestrebt, geht aber in Anbetracht der demografischen Herausforderungen deutlich zu langsam voran. Auch die stärkere Einbeziehung nichtärztlicher Gesundheitsberufe wird nur sehr schleppend vorangetrieben (zuletzt wurden klinisch-psychologische Leistungen den ärztlichen gleichgestellt). Es sind aber eine Vielzahl an Maßnahmen notwendig, um die genannten Herausforderungen zu meistern. Die eingangs erwähnte geplante Einschränkung wahlärztlicher Tätigkeiten für Spitalsärzt:innen kann dabei nur ein Puzzlestein sein. Weitere Engpässe im Bereich der niedergelassenen Versorgung müssen unbedingt verhindert werden und es braucht eine echte Attraktivierung von Kassenstellen, um mehr Ärzt:innen für die öffentliche Versorgung zu gewinnen. Zusätzliche Kassenstellen zu schaffen ist das eine, offene Kassenstellen auch zu besetzen aber das Zweite. Die gesundheitspolitischen Entscheidungsträger:innen müssen sich im Detail mit den Gründen für die vermehrte Inanspruchnahme von Wahlärzt:innen ebenso wie mit der stagnierenden Zahl von Kassenärzt:innen auseinandersetzen, um den Vormarsch der Zwei-Klassen-Medizin aufzuhalten. Ein Schrumpfen des Anteils der Kassenärzt:innen, wie es in einigen Fachbereichen deutlich zu erkennen ist, führt dazu, dass Patient:innen gezwungen sind, wahlärztliche Leistungen in Anspruch zu nehmen. Etwa wegen deutlich kürzerer Wartezeiten auf einen dringend benötigten Termin, aber auch wenn alle Kassenärzt:innen in näherer Umgebung schlicht und einfach keine neuen Patient:innen mehr aufnehmen. Dies führt zu erheblichen Zusatzkosten, da die privatärztlichen Honorare meist deutlich höher sind als der zurückerstattete Kassentarif. Wer sich also keine Wahlarztversicherung leisten kann oder will, bleibt auf den Mehrkosten sitzen. Was nicht passieren darf: dass diejenigen, die sich die Mehrkosten nicht leisten können, notwendige medizinische Leistungen gar nicht in Anspruch nehmen.

Klar ist: Die medizinische Versorgung von Patient:innen darf in Österreich nicht von der Geldbörse abhängen! Allen, die es brauchen, muss eine qualitativ hochwertige Versorgung ohne Zusatzkosten zur Verfügung stehen. Vorschläge liegen genügend am Tisch, es muss nun rasch gehandelt werden, damit die Zufriedenheit der Österreicher:innen mit ihrem Gesundheitssystem wieder wächst und die gute medizinische Versorgung für alle sichergestellt ist.


Dieser Beitrag wurde am 01.08.2024 auf dem Blog Arbeit & Wirtschaft unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den NutzerInnen eine freie Bearbeitung, Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen.
Titelbild: geralt / pixabay
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