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Bürgerräte: Demokratie per Zufall

Bürgerräte – Versammlungen mit zufällig aus der Bevölkerung gelosten Menschen gelten als Beteiligungsinstrumente mit Potenzial zur Stärkung, wenn nicht gar Rettung der Demokratie.

Von Tamara Ehs / Marie Jahoda – Otto Bauer Institut

Vorarlberg experimentiert seit 2006 mit Bürgerräten und schrieb sie 2013 in die Landesverfassung, bundesweit ist der Klimarat in Erinnerung, auch Oberösterreich sind Bürgerräte nicht unbekannt: Hier begehen allen voran die SPES Zukunftsakademie in Schlierbach und Agenda 21-Gemeinden diesen Weg der Partizipation; schon 2013 wurde das oberösterreichische Landesumweltprogramm mit Bürger- und Jugendräten erarbeitet.

Im Bürgerrat sitzen Akademiker:innen neben Arbeiter:innen, Alte neben Jungen, Zugezogene neben Alteingesessenen und spiegeln die Bevölkerung in ihrer Zusammensetzung wider. Wessen Wege sich im Alltag nur selten kreuzen und wessen Medienkonsum kaum mehr eine gemeinsame Wirklichkeit teilt, trifft im Bürgerrat aufeinander, sucht gemeinsam nach Lösungen für gesellschaftliche Probleme und berät politische Entscheidungsträger:innen. Im Idealfall befördern Bürgerräte die demokratischen Zivilisationstechniken einer pluralistischen Gesellschaft: zuhören, Meinungen austauschen, Kompromisse aushandeln, Solidarität und Gemeinwohl üben.

Demokratievertrauen: je nach sozialer Lage

Aber warum sind Bürgerräte notwendig? Ist es nicht Wesen der parlamentarischen Demokratie, dass Menschen mit unterschiedlichen Weltanschauungen sich in Parteien wiederfinden und diese dann in Nationalrat und Landtag nach politischen Lösungen suchen? Wenn Österreich am 29. September einen neuen Nationalrat wählt, also seine Vertreter:innen „nach Wien“ entsendet, werden dort alle Bundesländer repräsentiert sein. Ein Parlament ohne oberösterreichische Abgeordnete wäre rechtlich unmöglich. Nicht so bei anderen Kriterien, denn abgesehen von der regionalen Verteilung muss der Nationalrat kein Spiegelbild sein – und ist es auch nicht: Frauen, Menschen unter 40 Jahren, Arbeiter:innen oder jene mit Migrationsgeschichte sind unterrepräsentiert, Selbständige und Unternehmer: innen hingegen gut vertreten, Bauern sogar überrepräsentiert.
Wenn nun aber Abgeordnete die soziale Realität der Bevölkerung nicht aus eigener Erfahrung kennen, hat dies Folgen für die Politikgestaltung – auch weil sich immer weniger Menschen in Parteien engagieren und der Bevölkerungsausschnitt, der sich an der innerparteilichen Meinungsfindung beteiligt, verengt. Manche Themen werden übersehen oder falsch eingeschätzt, insbesondere dann, wenn – wie in der Coronakrise – schnell entschieden werden muss und die Abgeordneten auf eigene Erfahrungswerte zurückgeworfen sind. Dies beeinträchtigt die Responsivität des politischen Systems: Studien belegen, dass die Entscheidungen von Parlamenten nicht alle sozialen Klassen gleichermaßen berücksichtigen, sondern dass die Anliegen der oberen Einkommensgruppen eher als die der Armen umgesetzt werden. Dies wiederum hat Auswirkungen auf den Zuspruch zur Demokratie: Wie der Demokratiemonitor belegt, ist die Zufriedenheit mit dem politischen System mit gerade einmal 24 % in der untersten ökonomischen Klasse am geringsten. Zudem fühlen sich zwar 61% des obersten Drittels im Parlament gut vertreten, aber nur 16% des untersten. Der Vorwurf von Politik als Elitenveranstaltung verfängt.

Losverfahren verbürgt Chancengleichheit

Um dieses Repräsentationsdefizit zu beheben, greifen Politik und Verwaltung auf Bürgerräte zurück – nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung zu Wahlen und Parteiendemokratie. Sie sind entgegen so manch euphorischer Erwartung per se keine „Demokratierevolution“, sondern zuerst einmal Governanceinnovation, Instrumente der politischen Steuerung, um gesellschaftlich umstrittene Fragen zu diskutieren. Ihr politisches Ziel ist, mittels höherer Repräsentativität mehr Responsivität in der Entscheidungsfindung und somit mehr Legitimation zu erreichen. Bürgerräten fehlt die Interessensdurchsetzung, sie geben bloß Rat. Die Macht verbleibt weiterhin bei den gewählten Institutionen.

Der Wert von Bürgerräten liegt darin, mittels Losverfahren diversere Perspektiven in den politischen Prozess zu bringen. Ihre Teilnehmer:innen sind durch Zufallsauswahl geloste Personen, die nach bestimmten Kriterien (Geschlecht, Alter, formaler Bildungsabschluss, Einkommensklasse etc.) die Bevölkerung bestmöglich abbilden. Zwar gelten Wahlen als Herzstück der Demokratie, doch das war nicht immer so: Im antiken Athen wurden Politiker nicht gewählt, sondern gelost. Schon Aristoteles meinte, Wahlen seien aufgrund des Reichtums, mit dem man teure Wahlkämpfe führe, oligarchisch; einzig das Los verbürge Demokratie im Sinne von Chancengleichheit. Heute geht es beim Losverfahren darum, jene Stimmen gleichberechtigt in den politischen Prozess zu bringen und zu hören, die nicht zur „Partizipationsaristokratie“ (Veith Selk) gehören. Dies betrifft nicht nur die unterste sozioökonomische Klasse, sondern auch die mittlerweile 1,5 Millionen Menschen „im Wahlalter“, die dauerhaft in Österreich leben, aber aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft nicht wahlberechtigt sind.

Gegen Populismus, für die politische Mitte

Die Kritik, dass es sich bei den Ergebnissen von Bürgerräten bloß um rechtlich unverbindliche Ratschläge handelt, ist berechtigt. Sie entfalten ihre Wirkung jedoch auf einer anderen Ebene, nämlich für die demokratische Kultur, um im persönlichen Austausch über Weltanschauungen hinweg vom Bauchgefühl zur informierten Meinung zu gelangen. Sie gewährleisten durch den entschleunigenden Diskussions- und Moderationsprozess ein nicht-populistisches Partizipationsinstrument, das extreme Positionen abschwächt und die politische Mitte stärkt. Zudem belegen Studien, dass Bürgerräte unter den Teilnehmer:innen den Gemeinsinn sowie das Politikvertrauen fördern. Nicht selten dienen sie als politische Talenteschmiede. Für Parlamente können sie im besten Fall ein gesellschaftliches Mandat darstellen, mit dem sich parteipolitische Blockaden überwinden lassen.

Gelegentlich werden Bürgerräte jedoch als „Particitainment“ (Klaus Selle) missbraucht und Beteiligungskulissen aufgebaut, um den Unmut der Bevölkerung bei einem bestimmten Thema zu kanalisieren. Diese Gefahr besteht vor allem dann, wenn sie nicht ins politische System integriert sind, sondern Ad-hoc-Veranstaltungen darstellen. Selbst autoritäre Staaten betreiben mittlerweile citizen-washing. So beteiligen zahlreiche chinesische Städte geloste Teilnehmer:innen an Bürgerhaushalten und verfolgen ein Ziel, das auch in Demokratien wesentlich ist: gute Regierungsführung. Bürgerräte sind letztlich ein neutrales Instrument; es kommt auf ihre Ausgestaltung und Verwendung an.

Politiker:innen auf Zeit

Als gute demokratische Praxis sind Vorarlberg, Baden-Württemberg und Ostbelgien anzuführen: Vorarlberg gestaltet seit 2006 Landes- und Gemeindepolitik mit Bürgerräten, etablierte eine eigene Verwaltungsstelle und verankerte die partizipative Demokratie in der Landesverfassung. Seither sind Bürgerräte nicht nur Instrumente in Händen der Politiker:innen, sondern können mittels 1.000 Unterschriften von den Vorarlberger:innen selbst eingesetzt werden. In Baden-Württemberg gibt es seit 2021 mit dem Gesetz über die Dialogische Bürgerbeteiligung Partizipationsprozesse mit Zufallsbürger:innen und eine Servicestelle, die Standards und Qualität der Beteiligung gewährleistet. Umfragen ergaben, dass dort die Zufriedenheit mit der Demokratie seither höher ist als in allen anderen deutschen Bundesländern. Am weitesten fortgeschritten sind Bürgerräte in der deutschsprachigen Gemeinschaft Ostbelgien, die 2019 gar eine Bürgerkammer einrichtete: 24 Mitglieder – per Los aufgrund der Merkmale Geschlecht, Alter, Wohnort und Berufstätigkeit gezogen – sind 18 Monate lang Politiker:innen auf Zeit. Umgelegt auf Oberösterreich würde dies bedeuten, neben dem gewählten Landtag eine geloste Bürgerkammer zu etablieren, die selbständig Beratungsthemen festlegen und die politische Agenda beeinflussen kann. Die Letztentscheidung verbleibt aber beim Landtag.

Allen drei Beispielen gemein sind die gesetzliche Verankerung und Etablierung einer Servicestelle, die Beteiligung als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge versteht. Zwar geben die genannten Bürgerräte weiterhin nur Rat und sind ausnahmslos zur Stärkung der repräsentativen Demokratie konzipiert; sie sind aber nicht mehr davon abhängig, ob ein:e Politiker:in Beteiligungsprozesse überhaupt für notwendig hält oder sich damit profilieren möchte. Statt nur eines Leuchtturmprojekts verwirklicht die Aufnahme in die Rechtsordnung Lichterkettenprojekte – die stete Einübung in partizipative Demokratie. Die Übung, Politik beteiligungsoffener zu gestalten, ist notwendig, sowohl aufseiten der Bürger:innen als auch aufseiten der Verwaltung.

WAS KANN MAN TUN?

  • Institutionalisierung von Bürgerräten:
    Verankerung in der Rechtsordnung und Etablierung einer Servicestelle als Partnerin für Bürgermeister:innen und Gemeinderät:innen, die in ihrer Kommune Bürgerräte durchführen wollen.
  • Lichterketten statt Leuchttürme:
    Neue Beteiligungsinstrumente bedürfen der steten Übung und Verbesserung und sollten – wie Wahlen – regelmäßig als Teil des demokratischen Systems zur Anwendung kommen.
  • Erhöhung der Repräsentativität von Landtag und Nationalrat:
    Um mehr Frauen, Jüngere, Menschen mit Migrationsgeschichte und jene mit Armutserfahrung in die Parlamente zu bringen, muss schon in den Parteien der Listenerstellung mehr Aufmerksamkeit zukommen.

Zum Weiterlesen:


Dieser Beitrag erschien am 31.07.2024 auf Marie Jahoda – Otto Bauer Institut unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY Attibution 4.0 International veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den Nutzer*innen eine freie Bearbeitung, Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen.

Titelbild: Alexas_Fotos / Pixabay

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