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Georgien zwischen den Fronten

Während es der EU mit der Aufnahme der Ukraine gar nicht schnell genug gehen kann, werden andere Staaten von der Union ferngehalten. Seit Jahren erfüllen Länder wie Serbien, Albanien, Montenegro und Nordmakedonien brav jede Auflage, die ihnen aus Brüssel erteilt wird, und doch gibt es für sie nach wie vor nicht einmal das entfernteste Licht am Ende des Tunnels. Jüngstes Beispiel für die Doppelbödigkeit der Unionspolitik: Georgien.

Von Andreas P. Pittler

I.

Georgien ist mit knapp 70.000 Quadratkilometern Fläche in etwa so groß wie die Republik Irland, verfügt aber nur über dreieinhalb Millionen Einwohner mit weiter sinkender Tendenz. Ein Mangel an ökonomischen Perspektiven bringt viele Georgier*innen dazu, ihr Land zu verlassen, was sich allein daran ablesen lässt, dass Georgien bei der letzten Volkszählung in der UdSSR 1990 noch 5,4 Millionen Einwohner*innen besaß. Resultat dieser Schieflage ist eine stark zunehmende Überalterung der Bevölkerung. 2020 war jeder dritte Staatsbürger über 50 Jahre alt. Zudem konzentriert sich die Bürgerschaft vermehrt im Ballungsraum Tiflis, wo mittlerweile jeder dritte Georgier lebt. Batumi, die zweitgrößte Stadt des Landes, verfügt über knapp mehr als 150.000 Einwohner, Gori, die fünftgrößte Stadt des Landes, zählt gerade noch deren 50.000, und die Abwanderung ins Zentrum hält an.

Erschwert wird die Lage durch die Vielzahl an Ethnien, die auf georgischem Boden leben. Georgien war immer schon ein Vielvölkerstaat, die Georgier*innen selbst stellen rund drei Viertel der Bevölkerung. Daneben gibt es Aseris, Armenier, Russen, Pontosgriechen und weitere 21 Nationalitäten, wobei allerdings seit Erlangen der Unabhängigkeit deren Zahlen ebenfalls stark rückläufig sind. Das galt vor allem für die russische Minderheit, die binnen weniger Jahre von knapp unter zehn auf nunmehr knapp über ein Prozent geschrumpft ist. Aber auch die Armenier*innen und die Aseris wenden sich vermehrt den eigenen Heimatländern zu, sodass der Anteil der ethnischen Georgier naturgemäß anwächst.

83 Prozent der georgischen Georgier*innen gehören der autokephalen georgisch-orthodoxen Kirche an, die in Georgien gleichsam Staatsreligion ist – ein Umstand übrigens, an dem sich die EU mit ihrem „westlichen Wertekanon“ nicht stößt. Als einzige Religionsgemeinschaft hat die georgische Orthodoxie öffentlich-rechtliche Stellung und absolute Steuerfreiheit. Und ihr Oberhaupt erteilt der Politik im wahrsten Sinne des Wortes seinen Segen, da kein Staatsereignis ohne religiöse Handlung auskommt. Demgegenüber sind die religiösen Minderheiten – Katholiken, Protestanten, Russisch-Orthodoxe, Juden und Muslime – in einer überaus prekären Lage, da sie vom Staat nur geduldet werden. Ein überaus volatiler Zustand, wie die römisch-katholische Kirche feststellen musste, der unter Europas kurzfristigem Liebling Michael Sakaschwili etliche Immobilien weggenommen wurden, die der georgischen Orthodoxie übereignet wurden.

Auch Georgiens Wirtschaft zeigt ein zwiespältiges Bild. Zwar verzeichnete diese zwischen 2000 und 2020 mäßiges Wachstum, die Covid-Maßnahmen ließen die Ökonomie jedoch drastisch einbrechen, wovon sie sich bislang noch nicht vollständig erholt hat. Vor allem die Infrastruktur des gebirgigen Landes lässt nach wie vor zu wünschen übrig. So ist etwa nur jede dritte Straße befestigt – der Rest sind quasi Feldwege – und nur rund um Tiflis gibt es durchgehend zwei Spuren pro Fahrtrichtung. Insgesamt verfügt Georgien über rund 20.000 Straßenkilometer, ein Sechstel dessen, was Österreich besitzt. Daneben weist Georgien 1.600 Bahnkilometer auf – gegenüber 5.000 Kilometern in Österreich, die allerdings vor 1989 noch 6.000 gewesen sind – die eigentlich nur in einer West-Ost-Richtung verlaufen und Tiflis mit dem Schwarzen Meer verbinden. Der öffentliche Verkehr wäre mithin stark ausbaufähig, vor allem, wenn man sich die veralteten Busse ansieht, die mehr nach Möglichkeit als nach Fahrplan in entlegenere Gegenden aufbrechen, was mehr einer abenteuerlichen Expedition denn einer regulären Fahrt gleicht.

Dringenden Verbesserungsbedarf weisen auch die Medien auf. Die Verbreitung der Tageszeitungen ist stark rückläufig, kaum ein Blatt verfügt über eine fünfstellige Auflage. Anders als die Zeitungen befindet sich der Rundfunk eher in Regierungshand, so gibt es etwa einen eigenen TV-Sender der georgischen Armee. Nebenher existieren etliche Privatsender, wobei, wie im Westen auch, vor allem Verkaufssender stark vertreten sind. Wild umkämpft sind die Georgier*innen von ausländischen Sendegruppen, die um (politischen) Einfluss ringen. Via Satellit sind fast alle russischen Programme zu empfangen, aber eben auch BBC, die Deutsche Welle, France International und CNN. Zudem betreiben Voice of America und Radio Free Europe eigene Sendestationen in Tiflis.

II.

Wie Armenien auch verfügt Georgien über eine lange historische Tradition. Schon die alten Griechen wussten über Georgien einiges zu berichten, so spielen etwa zentrale Momente der Argonauten-Saga im damals „Kolchis“ genannten Georgien. Auch weisen die Georgier nicht ohne Stolz darauf hin, dass in ihrem Staat noch vor dem Römischen Imperium das Christentum als Staatsreligion eingeführt wurde. Und im Mittelalter stellte Georgien unter König David und Königin Tamar sogar eine regelrechte Regionalmacht dar, die allerdings im 16. Jahrhundert mehr und mehr von den Osmanen und den Persern bedrängt wurde. Die Georgier flüchteten sich schließlich unter den Schutzschirm ihrer orthodoxen Glaubensbrüder, was Zar Paul schließlich dazu nutzte, Georgien für Russland zu annektieren. Bis 1917 war Georgien mithin eine Provinz des Russischen Reiches, eine übrigens, in deren Städtchen Gori ein gewisser Josef Tschugaschwili geboren wurde, der als Stalin politische Karriere machen sollte.

Seine politischen Anfänge erlebte der georgische Revolutionär in einer sich rasant bildenden kaukasischen Arbeiterbewegung, die sich auf die Lehren von Marx und Engels berief. Allerdings ergriffen die Anführer der georgischen Sozialisten bei der Parteispaltung 1903 unisono Partei für die Menschewiki, sodass die Bolschewiki in Tiflis vorerst recht wenig zu melden hatten. Konsequenter Weise nutzten die georgischen Menschewiki die Dekrete des Allunionssowjets zur nationalen Frage und erklärten 1918 ihren Austritt aus dem Russischen Staatsverband. Erstmals seit Jahrhunderten war Georgien wieder unabhängig und bildete unter der Führung Irakli Zeretelis, Noe Zhordanjas und Nikolaj Tschcheidses eine eigene Regierung. Diese wurde prompt von den westlichen Alliierten anerkannt, konnte sich aber gegen die Sowjetmacht nicht lange behaupten. Im Frühjahr 1921 übernahmen die Bolschewiki in Tiflis die Macht, die menschewistische Regierung wich ins westliche Exil aus. Für die nächsten sieben Jahrzehnte war Georgien ein Teil der Sowjetunion, konkret eine der 15 Unionsrepubliken.

Eine übrigens, der nicht zuletzt dank Stalins Führungsrolle in der KPdSU recht lange eine besondere Rolle zukam. Führende Stalinisten wie Filip Macharadse oder Sergo Ordschonikidse waren Georgier, und der georgische Parteichef Lawrentij Berija stieg unter Stalins Schirm rasch in die höchsten Höhen des sowjetischen Imperiums auf.

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Nachdem Berija im Machtkampf um die Nachfolge Stalins unterlegen war, galt Georgien unter Chruschtschow eher als Randnotiz, und erst unter Breschnew wuchs der georgische Einfluss wieder, der schließlich unter Gorbatschow durch die Ernennung des langjährigen georgischen Parteichefs Edward Schewardnadse zum Nachfolger Gromykos als sowjetischer Außenminister auch augenfällig wurde. Schewardnadses Nachfolger Tschumber Patiaschwili entglitt 1989 die politische Hegemonie und er beeilte sich, unter anderer Flagge seine Schäfchen zu retten. Aus der Kommunistischen Partei Georgiens wurde über Nacht die „Partei der demokratischen Wiedergeburt“, die sich nicht einmal an Zereteli und den Menschewiki orientierte, sondern gleich zur liberal-kapitalistischen Ideologie überlief.

Die allerersten Mehrparteienwahlen in der Geschichte Georgiens verliefen dementsprechend unter insgesamt eher undurchschaubaren Vorzeichen. Nicht weniger als 24 Parteien zogen ins neue georgische Parlament ein, von denen freilich die meisten kaum so etwas wie eine Weltanschauung besaßen, sondern lediglich die Interessen eines Clans oder eines Oligarchen verfolgten. Dementsprechend hießen manche dieser Listen „Kostava-Gesellschaft“ oder „Chavchavadse-Gesellschaft“, da der Name des Parteiführers das einzige Programm war. Erst, als Schewardnadse 1992 nach Georgien zurückkehrte und eine „Partei der georgischen Bürger“ gründete, gab es wieder eine hegemoniale Strömung im Land. Schewardnadse ließ sich zum Staatspräsidenten küren, was er bis 2003, als er durch einen von der CIA orchestrierten Putsch, genannt „Rosenrevolution“ gestürzt wurde.

Neuer Staatschef wurde der Liebling des Westens, Michael Saakaschwili, angeblich mit 96 Prozent der Stimmen „demokratisch gewählt“. Saakaschwili war in den 90er Jahren in den USA zu einem künftigen Lokalpolitiker aufgebaut worden und exekutierte nach seiner Inthronisierung rasch die Wünsche des Westens. Allerdings wähnte er sich der Unterstützung durch die USA zu sicher, sodass er 2008 ohne ausreichende Rückendeckung Russland angriff, was binnen weniger Tage zu einer für Georgien verheerenden Niederlage führte. Zu diesem Schritt hatte sich Saakaschwili entschlossen, nachdem er seit November 2007 mit einer ständig wachsenden Opposition gegen sein Regime konfrontiert gewesen war. Immerhin gelang es ihm, nach einer umstrittenen Präsidentschaftswahl 2008 dennoch an der Macht zu bleiben, bis sein Mandat 2013 regulär auslief. Konsequenterweise ging Saakaschwili unmittelbar danach ins Exil – naturgemäß in die USA.

Im Parlament hatten Saakaschwilis „Vereinte Nationalisten“ schon 2012 die Mehrheit an den „Georgischen Traum“ verloren, mithin die einzigen zwei Parteien, die überhaupt noch im Parlament vertreten waren. Dies, weil mit der sich auf Zereteli berufenden Georgischen Arbeiterpartei, den Christdemokraten und den Nationaldemokraten der ehemaligen Präsidentin Nino Burdschanadse die letzten Weltanschauungsparteien aus dem Parlament gewählt worden waren. Neuer starker Mann in Georgien war damit der Anführer des „Georgischen Traums“, Bidzina Ivanischwili, ein nachgerade klassischer Oligarch mit Hang zum Populismus, der sich um eine Aussöhnung mit Russland bemühte, wo er in den 90ern als Banker unter Boris Jelzin seine Karriere gestartet hatte. Der „Georgische Traum“ konnte seine Mehrheit 2016 und 2020 verteidigen, sah sich aber ab 2020 vermehrt außerparlamentarischer Opposition gegenüber. Galt diese zunächst den üblichen Themen – mangelnde soziale Sicherheit, Korruption, schlechtes Gesundheitssystem – so bekam sie durch den Versuch der Regierung, ausländische Beteiligungen an NGOs als solche kenntlich zu machen, eine neue Dimension, die nun auch primärer Gegenstand der Kritik der EU, der NATO und der USA an Georgien ist. Die erst 2022 begonnenen Beitrittsverhandlungen Georgiens zur EU wurden nach dem Beschluss des Gesetzes ausgesetzt.

III.

Georgiens Führung sieht sich seit 2022 in einer Zwickmühle. Nach wie vor ist Georgien wirtschaftlich von Russland abhängig, zudem verfügt Georgien nur auf Teilen seines Staatsgebiets wirklich über die politische Kontrolle, da sich Südossetien und Abchasien de facto von Georgien abgespalten haben. Während sich Russland wohlwollend gegenüber Georgien verhält, solange dieses politisch gegen Russland nicht Stellung bezieht, kommt vom Westen bislang kaum Konkretes. Der Aufforderung von NATO und EU, sich den Sanktionen gegen Russland anzuschließen, kann Georgien schon deswegen nicht Folge leisten, weil dies zu einem relativ raschen Kollaps der ohnehin fragilen georgischen Ökonomie führen würde. Der Versuch, zwischen Skylla und Charybdis zu lavieren, bleibt nicht ohne Folgen für die Regierungspartei, von der sich noch 2022 eine pro-russische Gruppe, die sich „Volksmacht“ nennt, abgespalten hat, die gleichwohl den „Traum“ (derzeit noch) politisch duldet.

Dies war auch eine Folge der verweigerten Hilfestellung durch die EU, die zwar der Ukraine umgehend Kandidatenstatus verlieh, Georgien jedoch nicht weniger als 12 Bedingungen diktierte, die dieses erst erfüllen müsse, um eine europäische Perspektive zu erhalten. Eine Vorgangsweise, die seitens der EU schon bei Serbien, Albanien oder der Türkei angewandt wurde.

Die Regierung hat mithin nichts, das sie vor den Wähler*innen – im Herbst stehen turnusgemäß Parlamentswahlen an – vorweisen könnte. Doch auch die nationalistische Opposition befindet sich im Zustand der Zerrüttung und erlebte 2023 mehrere signifikante Spaltungen. Somit stehen kurz vor dem Urnengang alle politischen Lager eher schlecht da. Das Bündnis der außerparlamentarischen Demonstranten gegen die Regierung drängt ins Parlament und kann nach Umfragen mit etwa 13 Prozent der Stimmen rechnen, während die Nationalisten derzeit nur auf 18 Prozent kommen. Der georgische Traum käme zur Zeit auf 38, die Volksmacht auf 5 Prozent. Ändert sich über den Sommer nichts Gravierendes, so könnte der Traum wohl auch nach der Wahl weiter die Regierung stellen.

Eine Regierung freilich, der wenig mehr bleibt als ein Fortwursteln angesichts einer verfahrenen Situation. Das harsche Vorgehen des Westens treibt Georgien zwangsläufig näher an Russland heran, das Ausbleiben einer europäischen Perspektive bedeutet zwangsläufig, dass Georgien seine Zukunft im Osten suchen muss.

Wie übrigens auch Armenien, das sich in einer gar nicht so unähnlichen Lage befindet. Doch das dürfte Brüssel rechtschaffen egal sein, denn die europäischen Ziele sind vorderhand andere. Ziele freilich, die Georgien nicht zum Vorteil gereichen und den Kontinent – einmal mehr – unsicherer machen. Die politische Großwetterlage – man denke an die Wahlen in Frankreich, die Lage der Ampel in Deutschland, aber auch an die Präsidentschaftswahl in den USA – ist nicht dazu angetan, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Kommen Europas Politiker*innen nicht zur Raison, dann kann es nämlich schnell geschehen, dass nicht allein Georgien, sondern ganz Europa zwischen die Fronten gerät.


Titelbild: Zura Narimanishvili auf Unsplash

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