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Zuversichtlicher Blick in die Zukunft

Iso Camartin macht in seinem Buch eine Reise in die Geschichte der Schriften und ist überzeugt, dass es gut weitergeht mit der Kultur. – Sonntag ist Büchertag

Interview: Urs Heinz Aerni

Buchcover
Iso Camartin: Verdorbene
Buchstaben, heilige Schriften und letzte Worte (Rüffer & Rub Verlag

Urs Heinz Aerni: Herr Camartin, bevor wir zu Ihrem neuen Buch kommen, möchte ich Sie fragen, wie innig ist Ihr Verhältnis zu Ihrer Heimat Graubünden heute?

Iso Camartin: Im Alter wachsen die nostalgischen Gefühle! Ich bin seit meiner Gymnasialzeit zwar immer wieder zu Besuch in Graubünden gewesen. Heute, nach Jahren im Ausland und in Zürich, ist diese Beziehung zum alpinen Raum und zur rätoromanischen Sprache zur Selbstverständlichkeit geworden.

Aerni: In den 1990er Jahren waren Sie Professor für rätoromanische Literatur und Kultur an der ETH und Uni Zürich. Wie steht es heute um die Nachfrage nach der Kultur dieses Sprachraumes?

Camartin: Was die kulturelle Zukunft des rätoromanischen Sprachraumes betrifft, so kann ich nur sagen: auch Regionalsprachen unterliegen einem kontinuierlichen Sprachwandel. Heute redet die Jugend anders, als deren Großeltern es noch taten, weil alle Rätoromanen heute auch in deutscher Sprache «sozialisiert» werden. Dennoch ist das Bewusstsein, mit Bündnerromanisch über eine besondere Facette alpiner Sprachtraditionen zu verfügen, in keiner Weise verschwunden.

Aerni: Nach vielfältigen Tätigkeiten als Literaturkritiker, Moderator, Mitarbeiter bei SRF und vielen anderen Engagements schrieben Sie mehrere Bücher und nun liegt dieser neuer Band vor, der sich mit „Verdorbenen Buchstaben, heilige Schriften und letzte Worte“ beschäftigt. Würden Sie der Aussage zustimmen, dass es ohne Religion keine Kulturgeschichte gäbe?

Camartin: Alle Religionen dieser Welt gehören zu den Grundpfeilern der Kultur und jeder einzelnen heutigen Nation. Die Vorstellung, Menschen könnten auf unserem Planeten ohne Gedanken über den Sinn und sogar die Aussichten ihres sterblichen Daseins existieren, ist völlig absurd. Das Fragen danach hört ja im Leben nie auf. Im Alter wird es aber dringlicher.

Aerni: Sie gehen sammelnd alten Handschriften, Keilschriften oder Pergamenten nach, kurz, der Geschichte von Schrift und Text. Sie schreiben: „Das Sammeln von Ikonen ist eine besonders ansteckende Passion.“ Nun, was würden Sie heute im digitalen Zeitalter sammeln?

Camartin: Inzwischen ist im digitalen Zeitalter alles in «Clouds» abrufbar. Da gibt es – außer materiellen Objekten, die einem persönlich etwas bedeuten – gar nichts, das man sammeln müsste. Menschen sind aber selbstbestimmt, verliebt auch in Eigenheiten. Darum wird sich auch im digitalen Zeitalter die Leidenschaft des Sammelns 

Aerni: Auf welche Weise?

Camartin: Niemand sammelt «bits». Das tun für uns die Computer besser als unser Gehirn. Aber dass die technologische Gesellschaft auch zu neuen Sammlerleidenschaften führen wird, ist für mich so sicher wie das Amen in der Kirche.

Aerni: Ihr Buch mit den 26 Essays verführt zur Reise in eine immens reiche Geschichte der Sprach- und Schreibkultur der Menschheit. Unter uns, geraten Sie angesichts der immer schnelleren Kommunikationswelt von heute auch mal in eine Art Kulturpessimismus?

Camartin: Ich bin kein Pessimist und glaube, dass die Menschheit, sogar deren Mehrheit, zuversichtlich in die Zukunft schaut. Meine «Daseinssorge» ist und bleibt bis zum Ende meiner Tage, ob und wie wir als freie und liberale Gesellschaft es schaffen werden, nicht zu Opfern von menschengemachten «Fake-News» zu werden. 

Aerni: Wie würden Sie sich gerne ein Bild vorstellen, mit einem lesenden Menschen mit Ihrem Buch in den Händen?

Camartin: In meinem neuen Buch spielt eine alte Ikone eine Rolle: die der «Hodegetria», das heißt der «Wegweiserin». Ich bin zwar nicht für die Menschheit ein Wegweiser, aber wenn mein Buch die Lesenden nicht auf Irrwege führt, zu falschen Gedanken, dafür zu mutig überzeugtem Handeln, bin ich als Schreibender zufrieden.


Das Buch: „Verdorbene Buchstaben, heilige Schriften und letzte Worte – Eine Sammler-Reise durch Schriftkulturen und -traditionen“ von Iso Camartin, Rüffer & Rub Verlag, 2024, 342 Seiten, ISBN 978-3-907351-04-8

Iso Camartin wurde 1944 geboren, ist Philologe und Essayist, war von 1985–1997 ordentlicher Professor für rätoromanische Literatur und Kultur an der ETH und an der Universität Zürich. Er lehrte und forschte über sprachlich-kulturelle Minderheiten und über die Kulturgeschichte des Alpenraums. Als Literaturkritiker war er in Jurys tätig, u.a. beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, moderierte die »Sternstunde Kunst« und war Leiter der Kulturabteilung beim Fernsehen SRF. Zudem war Camartin verantwortlich für die »Opernwerkstatt« am Opernhaus Zürich: Heute lebt Camartin in Zürich, Disentis und New Brunswick (USA).  Vor diesem Buch sind u. a. diese Titel von ihm erschienen: »Opernliebe. Ein Buch für Enthusiasten«, 2014; »Die Kunst des Lobens. Zur Rhetorik der Lobrede«, 2018; »Die Reise zu den Zedern« (mit Verena Füllemann, Bilder), 2019


Titelbild: Rüffer & Rub Verlag / UZ

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