Hässlichkeit zeigt sich von ihrer schönsten Seite
Moshtari Hilal – Hässlichkeit: Das anekdotenreiche Buch nähert sich und hinterfragt das gesellschaftliche Verständnis der Hässlichkeit – und hebt es auf eine politische Ebene. – Sonntag ist Büchertag
Von Miri Watson (kritisch-lesen.de)
Schiefe Zähne, langes Gesicht, große Nase. Insgesamt vierzehn Bilder, die der damals vierzehnjährigen Moshtari Hilal beibrachten: Du bist hässlich. Vierzehn Bilder, die das letzte zähnezeigende Lächeln Hilals für vierzehn Jahre dokumentierten. „Pferdefresse. Was hast du dir gedacht, so freundlich zu grinsen, aus meinem Gesicht?“, schreibt die Künstlerin, Kuratorin und Autorin Moshtari Hilal. „An meiner Stelle klebten vierzehn Grimassen auf dem Fotopapier, das meine Mutter in der Hand hielt.“ (S. 10 f.)
Die Leserin, so vorbereitet auf das Groteske, den Makel, das Abstoßende, blättert um und sieht: Nichts davon. Stattdessen: Ein liebes Lächeln, langes Gesicht, große Nase. Ein sympathisches Kind. Ein Kind, das die Idee des Grotesken, des Makels, des Abstoßenden bereits so sehr verinnerlicht hat, dass es überzeugt ist, es müsse hässlich sein.
Und hässlich sein – das ist ein schlimmes Gefühl für die*den Hässlichen. Allen anderen gibt es Macht über die als hässlich Markierten. Wer hässlich ist, ist anders. Wer hässlich ist, ist fremd. Wer hässlich ist, gehört nicht dazu zur Dominanzkultur. Wer hässlich ist, hat höchstens die Möglichkeit, sich zu maskieren – sich gut zu integrieren, zu assimilieren -, um nicht aufzufallen.
In ihrem essayistischen, assoziativ erzählten Sachbuch „Hässlichkeit“ widmet sich Moshtari Hilal persönlich, historisch und politisch den Widersprüchen der Erzählungen von Hässlichkeit und Schönheit. Dabei spannt Moshtari Hilal einen Bogen von der Ausbeutung vermeintlicher Hässlichkeit in Freakshows über die neoliberalen Versprechen von Schönheit, Macht und Zugehörigkeit durch kosmetische Operationen bis hin zur Hässlichkeit von Krankheit und Tod. Sie weist nach, wieso die weiß-westliche Geschichtsschreibung das vermeintlich hässliche Andere braucht, um sich ihrer eigenen Überlegenheit zu versichern und erklärt, wie die Beschreibung von Hässlichkeit Hand in Hand geht mit der Rassifizierung von Menschen.
Hässlichkeit als Tool für Othering
„Der deutsche Antisemitismus war besessen davon, eine Fremdheit der Jüd*innen zu beweisen. […] Ethnologen und Mediziner verglichen entsprechend die Hautfarben, Haarfarben und -strukturen sowie die Nasenformen von Jüd*innen, um sie in die Nähe jener ‚Rassen‘ zu verdrängen, die im kolonialen Weltbild bereits als minderwertig etabliert waren. Ein besonderes Interesse bei alledem galt der Nase.“ (S. 50)
Nasen, die von dem Idealbild einer mitteleuropäischen, weißen Nase – kleine Stupsnase, nicht zu auffällig, gerade – abweichen, gelten auch heute noch als hässlich. Das westliche Schönheitsideal entspricht einer als ideal imaginierten weißen Person: Wenig behaart, helle Haut, helle Haare.
Hilal beschreibt, wie Pseudowissenschaften des 19. Jahrhunderts, etwa Rassenlehre oder Physiognomie, sich auch auf die Beschreibung vom „Anderen“ als „hässlich“ beriefen, um ihre Theorien zu begründen. Bis heute, so Hilal, wirken diese Mechanismen.
„Nur in einer Welt, in der die Krümmung der Nase oder das Abstehen der Ohren ein Gesicht anders machen […], kann eine chirurgische Intervention lebensverändernd sein. Die Schönheitschirurgie des 20. Jahrhunderts verspricht, den Körper so zu verändern, dass er gesund erscheint und damit als „rassisch akzeptabel“.“ (S. 51, Herv. i.O.)
Immer wieder macht Moshtari Hilal in ihrem Buch auch diese Verbindung deutlich: Das Schöne gilt als gesund, das Kranke als hässlich. Der Vorwurf an die Rassifizierten, als hässlich Markierten ist also nicht nur, mit ihrem Makel das Auge der Markierenden zu beleidigen, sondern durch ihr Gebrechen auch die gesamte Produktivität der Gesellschaft zu beeinträchtigen.
Lähmende Angst vor der Hässlichkeit
Vor allem mit den vielen eingestreuten eigenen Erinnerungen und Reflektionen macht Hilal das Perfide an der Idee von Hässlichkeit sichtbar: Auch wenn es in der Regel keine tatsächlichen politischen oder gesellschaftlichen Strukturen sind, die heute Menschen dafür bestrafen würden, Schönheitsidealen nicht zu entsprechen, sorgen doch die mit Hässlichkeit assoziierten Attribute bereits für eine lähmende Angst vor der Hässlichkeit. Die Angst davor, als weniger als ein Mensch zu gelten. Die Angst davor, als behindert wahrgenommen zu werden. Die Angst davor, nicht liebenswert zu sein.
Gerade in diesen Ängsten, die unser Innerstes berühren, liegt die repressive Kraft der Idee von Hässlichkeit: Um nicht als hässlich aufzufallen und um uns anzupassen, sind wir bereit, viel Geld und viel Zeit zu investieren und Schmerzen zu erdulden. Zugleich sind wir dazu bereit, jene Menschen, die uns als hässlich eingeredet werden, eher im Stich zu lassen oder zu verstoßen.
Diese Angst individuell und kollektiv zu überwinden – darin liegt laut Moshtari Hilal aber auch ein emanzipatorisches Potential: „Wenn wir den Gegensatz von Schönem und Hässlichem auflösen, dann löst sich auch der Widerspruch in uns selbst auf.“ (S. 211) Wenn wir uns weigern, der Idee von Hässlichkeit als Gegensatz zur Schönheit Glauben zu schenken, dann verliert die Angst vor der Hässlichkeit langsam, aber sicher ihre Macht über uns. „Die Versöhnung mit der Hässlichkeit ist nichts, was ich durch Ästhetik und Poesie allein erreichen könnte“, schreibt Hilal. „Sie verlangt von mir mehr, nämlich, meine Menschlichkeit und Sterblichkeit anzuerkennen.“ (S. 212)
Moshtari Hilal (2023): Hässlichkeit.
Hanser, Berlin – 224 Seiten. 23,00 Euro.
ISBN: 978-3-446-27682-6.
Dieser Beitrag wurde am 09.04.2024 auf kritisch-lesen.de, Kooperationspartner von Unsere Zeitung, unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den Nutzer*innen eine Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen zu nicht kommerziellen Zwecken.
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