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Das Schwinden der Komfortzone

Daniel Mullis – Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten: Eine Analyse verknüpft sozioökonomische Faktoren mit dem vorangetriebenen Kulturkampf und zeigt wie Verunsicherungen in der Gesellschaft von rechts emotionalisiert werden. – Sonntag ist Büchertag

Von Sascha Schmidt (kritisch-lesen.de)

Buchcover: Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten
Daniel Mullis: Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten (Reclam)

Die AfD konnte sich in den letzten Jahren auf allen politischen Ebenen, von den Kommunen über die Länderparlamente, den Bundestag bis zum Europaparlament, etablieren. Die Wahlanalysen verdeutlichen, dass die Partei in Teilen der sogenannten Mitte auf anhaltende Zustimmung stößt. Um Antworten zu finden, wie es dazu gekommen ist, hat sich der Sozialwissenschaftler Daniel Mullis in Frankfurt/Main und Leipzig auf die Suche gemacht. In Stadtteilen, in denen die AfD überproportional Erfolge verbuchen konnte, hat er mit rund 50 Menschen qualitative Interviews geführt. Ihn interessierten insbesondere soziale Dynamiken, Konflikte und Glückserwartungen der Menschen, die regressive Prozesse in Gang setzten, welche „die wachsenden rechten Terraingewinne sowie das Bröckeln der Brandmauer zwischen der Mitte und Rechtsaußen“ (S. 35) begünstigt haben.

Die Auswertungen der Interviews – die das Buch besonders lesenswert machen – machen deutlich, dass die Gesprächspartner*innen durch die multiplen Krisen der letzten Jahre kollektiv verunsichert sind. Mullis traf zudem auf negative Wahrnehmungen über den Zustand der Demokratie, das Beklagen von politischer Machtlosigkeit sowie auf Vorbehalte gegenüber Zuwanderung, die sich häufig mit Sorgen um den eigenen Statusverlust und dem Wunsch nach „Normalität“, Planbarkeit und Stabilität vermengten. Dass gerade die sogenannte Mitte ein „zentraler Ort der Verunsicherung und Regression ist“ (S. 36), sieht Mullis als Folge von jahrzehntelangen Prozessen der Individualisierung und Neoliberalisierung und der damit verbundenen Anschlussfähigkeit an rechte Ungleichwertigkeitsvorstellungen.

Die (nicht nur) in Teilen der Mitte zunehmende sozioökonomische Prekarisierung und Perspektivlosigkeit stellt für Mullis jedoch nur eine Ursache für den Aufstieg der Rechten dar. Entgegen vieler anderer Arbeiten, die sozioökonomisch an das Thema herangehen, verbindet Mullis diese Perspektive mit der These vom derzeit tobenden „emotionalisierte[n] Kulturkampf“. Hier folgt Mullis in seinen Analysen dem Rechtsextremismusforscher Matthias Quent. Dieser sieht im Kulturkampf der Rechten die Strategie, „soziale und politische Faktoren als kulturelle um[zu]deuten, um sie, von Fakten entleert, emotional zu bewirtschaften.“ Es handle sich um eine „Reaktion der kulturell Verbitterten“, die mit dem Ziel aufbegehrten, „demokratische Errungenschaften einzureissen und die Geschichte zurückzudrehen, um Nationalismus und autoritäre Ansprüche samt ungerechtfertigter Privilegien zu verteidigen und zurückzugewinnen“ (S. 34). Zwar sei es, so Mullis, gerade der AfD gelungen, die vorhandenen Ressentiments erfolgreich zu mobilisieren. Doch anstatt diesen Stimmungen entgegenzutreten, hätten die Parteien „der Mitte“ ebenfalls ihren Ton verschärft. Allen voran gelte dies für CDU und CSU. Insbesondere kritisiert Mullis diese Parteien für ihre Haltung in der Migrationspolitik und in der Debatte um die Reform des Bürgergeldes. In der Einschränkung des Rechts auf Asyl und der eskalierenden rassistischen Gewalt sieht Mullis Parallelen zu den frühen 1990er Jahren, als die rassistischen Gewalttaten im Zuge der Debatten um das Recht auf Asyl schon einmal entbrannten. Gerade in der analytischen Verknüpfung sozioökonomischer Faktoren mit dem vorangetriebenen Kulturkampf liegt eine Stärke des Buches.

Doch unausweichlich seien die jüngsten Entwicklungen, so Mullis, nicht. In seinen Gesprächen in Frankfurt und Leipzig habe er Ansätze zur Bereitschaft „für eine solidarische und progressive Politik erkennen können“ (S. 320).

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Diese Rezension erschien in kürzerer Form erstmals im Magazin „der rechte rand“ #207 im April 2024.


Daniel Mullis 2024: Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten. Die Regression der Mitte.
Reclam, Ditzingen.
ISBN: 978-3-15-011469-8.
336 Seiten. 22,00 Euro.

Dieser Beitrag wurde am 09.04.2024 auf kritisch-lesen.deKooperationspartner von Unsere Zeitung, unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den Nutzer*innen eine Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen zu nicht kommerziellen Zwecken.

Titelbild: Reclam / Unsere Zeitung

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