Online in der Plattformarbeit, offline in der Prekarität?
Ortsungebundene Plattformarbeit nimmt immer mehr zu. Cloud- und Clickworker:innen sehen sich dabei aber mit einer Vielzahl an Problemen am traditionellen Arbeitsmarkt und auf Plattformmärkten konfrontiert. Unzureichendem Arbeits- und Sozialschutz, globaler Lohnkonkurrenz und Arbeitsumfeldern mit starkem Managementeinsatz von Algorithmen wird nun jedoch erstmals mit einer EU-Richtlinie zu den Arbeitsbedingungen bei der Plattformarbeit entgegengewirkt. Doch wer sind die Beschäftigten der ortsungebundenen Plattformökonomie eigentlich? Und was denken sie über Plattformarbeit? Diese Antworten finden sich in einer neuen Studie von Forschenden der Wirtschaftsuniversität Wien.
Von Dominik Klaus, WU/Uni Wien und Vanessa Lechinger, AK Wien (A&W-Blog)
Das heterogene Feld der Plattformarbeiter:innen
Als Forschungsgebiet hat die Plattformökonomie noch immer Hochkonjunktur. Meist sind es aber ortsgebundene Tätigkeiten, wie etwa Taxiunternehmen oder die Essenszustellung, die im Stadtbild gut sichtbar sind und erforscht werden. Über eine Plattform von zu Hause aus zu arbeiten ist hingegen im öffentlichen Raum unsichtbar und in der Forschung bislang ein Randthema. Dabei gibt es inzwischen eine enorme Bandbreite an Tätigkeiten, die digital über Arbeitsplattformen vermittelt und von Cloudworker:innen erbracht werden. Diese reichen vom Trainieren künstlicher Intelligenzen über das Schreiben von Werbetexten und das Entwerfen von Logos bis hin zu Softwareentwicklung oder Rechtsberatung. In der gesamten EU sind fast 28 Millionen Menschen in der Plattformökonomie tätig.
Da es für rein online abgehandelte Tätigkeiten abgesehen vom Sprachraum keine nationalen Grenzen gibt, können sich Kund:innen oft globale Lohnunterschiede zunutze machen. Das war zwar schon vor dem Aufstieg der Plattformökonomie möglich, allerdings noch mit enormen Suchkosten verbunden und daher allenfalls für größere Projekte relevant. Zudem gestalten die Plattformen die Geschäftsbedingungen zugunsten der Kund:innen, womit viele Risiken wie etwa Zahlungsausfälle auf die Plattformarbeiter:innen abgewälzt werden. Deren Flexibilität, im Sinne einer selbstbestimmten Arbeitsweise, ist auf den zweiten Blick daher oft kleiner als gedacht. Sie können die Rahmenbedingungen der Auftragserledigung nicht mitgestalten und müssen mit dem leben, was die Plattformen vorgeben. Es ist auch nicht leicht möglich, die Plattform zu wechseln, denn die hart erarbeiteten positiven Reviews und hohen Rankings können nicht auf andere Plattformen übertragen werden.
Während auf rechtlicher Seite schon lange darüber diskutiert wird, ob die Plattformarbeiter:innen formal als Selbstständige zu betrachten sind oder eine dritte Position als Solo-Selbstständige einnehmen, ähneln die Handlungsmöglichkeiten vieler Plattformbeschäftigten über ihre Tätigkeiten jenen von Arbeitnehmer:innen. Diese rechtlichen Grauzonen werden von den Betreiber:innen der Plattformen bewusst ausgenutzt. Die Europäische Union hat sich nun mit einer Einigung über eine EU-Richtlinie zur Plattformarbeit für Verbesserungen der Arbeitsbedingungen von Plattformbeschäftigten ausgesprochen. Darin wird unter anderem das Recht der Beschäftigten von Plattformen gestärkt, als Arbeitnehmer:in zu gelten, wenn bestimmte Umstände (etwa externe Kontrolle und Steuerung) vorliegen. Dieser Statuszuspruch würde es den Plattformbeschäftigten erleichtern, ihre Rechtsansprüche als Arbeitnehmer:innen klar durchzusetzen, jedoch bleibt ein genauer Kriterienkatalog aus.
Die Sicht der Beschäftigten im Mittelpunkt
Empirische Untersuchungen zur Perspektive der Worker:innen selbst sind noch rar. Einen Beitrag zur Füllung dieser Forschungslücke liefert das Projekt „Prekäre Bedingungen und Gesundheit von Cloudworker:innen“, durchgeführt von Mitarbeiter:innen der WU Wien. In einem ersten Artikel zur Abhängigkeit und Sozialen Inklusion von Plattformarbeiter:innen wurde untersucht, wer die Personen sind, die online von zu Hause arbeiten. Die Umfrage mit knapp 2.000 Auftragnehmer:innen auf vier verschiedenen Plattformen im deutschsprachigen Raum gibt weitreichende Einblicke in die Situation dieser Menschen. Wie sie zeigt, ist es eine äußerst heterogene Gruppe mit unterschiedlichen Motiven (siehe Grafik).
Nur ein Teil davon sind (entgegen häufigen Vermutungen) Student:innen oder digitale Nomad:innen, die sich neben dem Studieren oder Reisen etwas dazuverdienen wollen. Auch mit Pensionist:innen, die als Clickworker:innen arbeiten, wurden qualitative Interviews geführt: Es gibt solche, deren Pension nicht zum Leben reicht, aber auch jene, die sich kognitiv beschäftigt halten wollen, aber nicht auf ein zusätzliches Einkommen angewiesen sind. Für wieder andere Plattformbeschäftigte sind die Gründe ein entlegener Wohnort und lange Pendelzeiten, die sie vermeiden möchten. Viele bleiben aber auch wegen der Familie oder Pflegebedürftigen zu Hause. Personen, die am ersten Arbeitsmarkt nicht erwerbstätig sein können, etwa weil sie aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen nicht lange das Haus verlassen können, sind ebenfalls unter den Beschäftigten.
Das sind nicht vorrangig die Personen, die man sich vorstellt, wenn man an Unternehmer:innen und Selbstständige denkt. Die prekäre Lebenssituation vieler Plattformbeschäftigten spiegelt sich auch in Kennzahlen wider: So liegt die durchschnittliche Armutsgefährdungsquote in der Stichprobe bei 28 Prozent und ist damit doppelt so hoch wie jene der Durchschnittsbevölkerung. Viele sind zudem nicht in eine Pflichtversicherung eingebunden und laufen damit Gefahr, bei Verdienstausfällen oder spätestens bei Pensionsantritt in eine prekäre Lage zu geraten. Da der Lohn- und Konkurrenzdruck enorm hoch ist, verzichten viele darauf, etwas auf die Seite zu legen. In traditionellen Anstellungsverhältnissen gibt es Institutionen wie die Sozialversicherung, die diesem Dilemma entgegenwirkt – für Plattformen muss erst noch eine Lösung gefunden werden.
Plattformen als Trittbrettfahrer:innen der sozialen Sicherungssysteme
Die quantitativen Ergebnisse zeichnen also ein anderes Bild als jenes, an dem auch der Wohlfahrtsstaat festhält. Dort herrscht traditionell die Annahme, dass Selbstständige genug verdienen, um selbst ihre Versicherung und Altersvorsorge zu bezahlen. Mit klassischen „Unternehmer:innen“ hat jedoch besonders die ortsungebundene Plattformarbeit wenig zu tun. Viele der Befragten sind hybrid erwerbstätig, das heißt sie arbeiten selbstständig, befinden sich aber gleichzeitig meist noch in einem (Teilzeit-)Anstellungsverhältnis. Zum Teil werden hier scheinbare Vorteile aus beiden Arbeitsverhältnissen kombiniert. Viele hybrid Erwerbstätige haben jedoch deshalb eine zweite Einkommensquelle gesucht, weil die erste zum Leben nicht (mehr) gereicht hat. Damit sind oft Schwierigkeiten in der Vereinbarkeit und ein höherer Koordinationsaufwand verbunden. Auch das ist ein Verweis darauf, dass in diesem Feld überproportional viele prekär Beschäftigte anzutreffen sind.
Aus sozialpolitischer Sicht ergeben sich daraus auf lange Frist auch Finanzierungsprobleme der wohlfahrtsstaatlichen Absicherung. Aktuell agieren die Plattformen sozusagen als Trittbrettfahrer:innen funktionierender Sozialstaatssysteme: Sie schöpfen Gewinne von erbrachten Arbeitsleistungen der (meist wohnortsgebundenen) Worker:innen ab, müssen aber nicht für deren Absicherung aufkommen. Hält der Trend hin zur Soloselbstständigen-Arbeit in der Plattformökonomie an und verlagern sich damit immer mehr Tätigkeiten von traditionellen Anstellungen zu plattformbasierten Arbeitsformen, dann greifen die traditionellen Sicherungsmechanismen nicht mehr weit genug.
Mehr Rechte und Absicherung für ortsungebundene Plattformarbeit
Die soziale Absicherung, welche typischerweise abhängig ist vom Arbeitsverhältnis, das in der klassischen Form zwischen Arbeitgeber:in und Arbeitnehmer:in besteht, ist bei Plattformen, die digital und global agieren, bislang in der alleinigen Verantwortung der Plattformarbeiter:innen. Sie haben (bisher) denselben rechtlichen Status wie Selbstständige, erzielen mit ihrer Arbeit aber meist ein so geringes Einkommen, dass Abzüge in Form von Sozialversicherungsbeiträgen kaum möglich sind. Dies ist nicht zuletzt dem globalen Lohndruck geschuldet. Die derzeitige Ausgestaltung der Sozialversicherungssysteme geht demnach durch Digitalisierungstendenzen mit der Gefahr einher, immer mehr Menschen nicht adäquat zu erfassen.
Durch die EU-Richtlinie zur Plattformarbeit wurden in einigen Bereichen Kompromisse erzielt, welche die Rechte von Plattformarbeiter:innen stärken sollen, insbesondere in Bezug auf Datenschutz, algorithmisches Management und Scheinselbstständigkeit. Die mit dem Arbeitnehmer:innenstatus verbundene Ausweitung des Sozial- und Arbeitsschutzes hat Auswirkungen auf Ansprüche und Regelungen in den Bereichen bezahlter Urlaub und Krankenstand, Arbeitslosenbezüge, Arbeitszeitregelungen u. v. m. – was im Allgemeinen eine große Verbesserung für Plattformbeschäftigte bedeuten würde. Ein genaues Auge muss darauf geworfen werden, wie diese Richtlinie in der Praxis in den Nationalstaaten umgesetzt wird. Wie zuvor diskutiert, bleiben besonders bei der ortsungebundenen Plattformarbeit trotz der EU-Richtlinie zudem noch viele Fragen offen, die einer Klärung bedürfen.
Klar ist jedenfalls, dass neben den arbeits- und sozialrechtlichen Verbesserungen auch explizit auf Forderungen der Worker:innen Rücksicht genommen werden sollte. Diese betreffen besonders die speziellen Anforderungen, die aus dem digitalen Arbeitsumfeld der ortsungebundenen Plattformarbeit entstehen. Arbeitsplätze im digitalen Raum können besser abgesichert werden, indem Transparenz bei Zahlungsbedingungen, Preisgestaltung, Wettbewerb um Aufträge und Arbeitsvergabe gefördert wird. Außerdem sollten Plattformarbeiter:innen mehr Kontrolle über ihre Arbeitsleistung erhalten, z. B. durch Kund:innenbewertungen, übertragbare Ratings und klare Ansprechpersonen bei Problemen. Es braucht daher umfassende Maßnahmen und neue Lösungen, um die prekären Beschäftigungsbedingungen in der Online-Plattformarbeit zu verbessern.
Dieser Beitrag wurde am 18.04.2024 auf dem Blog Arbeit & Wirtschaft unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den NutzerInnen eine freie Bearbeitung, Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen.
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