Aufstieg und Fall der finnischen Linken
Von Andreas Pittler
Finnland als Kolonie
Was wir heute als Republik Finnland kennen, blickt auf eine verhältnismäßig kurze staatliche Souveränität zurück. Die längste Zeit waren die Finnen Untertanen fremder Mächte, zuerst der Schweden, ab 1809 der Russen. Und beide Okkupanten verspürten wenig Lust, die Kolonie ökonomisch aufzubauen. Dementsprechend klein war die Zahl der Arbeiterschaft in Finnland, verdiente doch das Gros der Finnen ihren Unterhalt als Kleinbauern, Pächter und Landarbeiter. Vor allem die Forstwirtschaft und der Fischfang waren Erwerbszweige, die viele Menschen beschäftigte. Die Industrie steckte am Beginn des 20. Jahrhunderts hingegen noch in den Kinderschuhen. Wer also in Finnland sozialistisch dachte, der musste die Ideen von Marx und Engels auf die finnischen Verhältnisse anpassen.
1899 kam es zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei, die sich von Anfang an auf das Landproletariat stützte, bei dem die Ideen der Arbeiterbewegung rasch auf große Resonanz stießen, da die Lebensbedingungen der breiten Massen in Finnland damals jedweder Beschreibung spotteten. In diesem Licht kam der Forderung nach einem generellen Achtstunden-Arbeitstag ebenso große Bedeutung zu wie jene nach verbesserten Arbeitnehmerschutz und sozialer Absicherung der Werktätigen. Die Partei erhielt recht rasch großen Zulauf, dennoch konnte man von einem politischen Erdbeben sprechen, als die SDP bei den ersten jemals in Finnland abgehaltenen Wahlen im Jahr 1907 aus dem Stand 37 Prozent der Stimmen erhielt und mit 80 von 200 Mandaten stärkste Partei im Landtag (Finnland war damals eine Provinz des Russischen Reiches) erhielt. Die bürgerlichen Gruppen waren darüber so entsetzt, dass sie schleunigst ihre Gegensätze überwanden und sich zu einem antisozialistischen Block zusammenschlossen, um die Arbeiterschaft auch weiterhin von der politischen Teilhabe ausschließen zu können.
Dies umso mehr, da die Partei ab 1911 von Otto Kuusinen geführt wurde, der später zu einer der Ikonen des stalinistischen Kommunismus aufsteigen sollte. Vor dem Ersten Weltkrieg war Kuusinen entschlossener Marxist, bedingungsloser Internationalist und treuer Parteigänger der orthodoxen Linie um W.I. Lenin, Dimitar Blagoew oder Dimitrije Tucovic. Die SDP erreichte unter Kuusinen 43 Prozent der Stimmen und 90 von 200 Mandaten, sodass nicht nur der Zar in Russland, sondern auch die finnische Bourgeoisie, die sich vor allem in den Bereichen des Handels, der Holz-, aber auch schon der Stahlindustrie herausgebildet hatte, eine sozialistische Revolution in Finnland zu fürchten begann.
Vom Ersten Weltkrieg zur Unabhängigkeit
Doch die vermeintliche Stärke der Arbeiterbewegung zerschellte im Sommer 1914 an der Kriegsfrage. Lehnte die Linke unter Kuusinen jede Unterstützung einer kapitalistischen Macht kategorisch ab, so votierte eine gemäßigte Gruppe um den späteren langjährigen Parteiführer Vaino Tanner für eine Art Burgfrieden mit dem Ziel, aus Finnland einen eigenen Staat nach dem Vorbild von Schweden oder Norwegen zu formen.
Drei Jahre lang belauerten sich die unterschiedlichen Flügel der finnischen Politik, ehe die Entwicklung in Russland auch jene in Finnland substantiell beeinflusste. Während die bürgerliche Rechte die Revolution in Russland dazu nutzte, Finnland im Dezember 1917 einseitig für unabhängig zu erklären, proklamierte die Linke die Errichtung einer Räterepublik nach bolschewistischem Vorbild zum politischen Hauptziel.
Maßgeblich unterstützt durch den sowjetischen Außenminister Leo Trotzki wagte die Linke im Januar 1918 den Aufstand. Beträchtliche Teile Finnlands, vor allem der mittlerweile hochindustrialisierte und bevölkerungsreiche Süden des Landes konnten unter die Kontrolle einer eigenen Räteregierung gebracht werden, während das bürgerliche Parlament samt seiner Regierung in den agrarischen Norden auswich. Die Finnische Räterepublik verwaltete zwar nur rund ein Viertel das Landes, doch lebte genau dort die Hälfte der Bevölkerung, was es den antikommunistischen Gruppen zunächst schwer machte, die Situation wieder zu ihren Gunsten zu drehen. Allerdings gelang es der Bourgeoisie, die Räterepublik nachhaltig zu destabilisieren. Lehrer, Beamte, Ärzte und andere Schlüsselkräfte flohen in hellen Scharen ins bürgerliche Gebiet, was es der Arbeiterschaft mehr und mehr verunmöglichte, einen geregelten Alltag in ihrer Einflusszone zu gewährleisten.
Die Kommunisten reagierten mit Zwangsmaßnahmen, Rationierungen und Sonderarbeitseinsätzen, was ihnen Teile der eigenen Gefolgschaft entfremdete. Die tatkräftige Hilfe seitens der Sowjets wurde von den Bürgerlichen erfolgreich als „Rückkehr in den Schoß Russlands“ gebrandmarkt, sodass die finnischen Kommunisten bald als 5. Kolonne Moskaus dastanden. Dass sich auf der anderen Seite der autoritäre Marschall Gustav Mannerheim der Hilfe des Deutschen Kaiserreichs versicherte, wurde hingegen als weitaus geringeres Problem angesehen. Unter der später auch unter den Nazis gängigen Sprachregelung, gegen Banditen und Räuberbanden vorgehen zu müssen, entsandte die deutsche Heeresleitung Anfang März eigene Korps nach Finnland, die Mannerheim im Kampf gegen die sozialistische Regierung unterstützen sollten. Bei dieser Gelegenheit äußerte Generalstabschef Hindenburg den denkwürdigen Satz, Finnland und die Ukraine seien die „natürlichen Bundesgenossen“ im Kampf gegen Russland, und dies nicht nur während des Krieges, sondern auch für die Zeit danach.
Anfang April 1918 war die rote Zone beträchtlich zusammengeschmolzen, ab Mitte April belagerten Deutsche und die finnische Rechte die Hauptstadt Helsinki, und schließlich musste die Finnische Räterepublik Mitte Mai 1918 die Segel streichen. Mannerheim zog mit militärischem Gepränge in Helsinki ein und hielt in der Folge ein schreckliches Strafgericht über alles, was nicht genuin bürgerlich war. Nicht weniger als 8.000 rote Aktivisten wurden hingerichtet, 70.000 Menschen in Gefängnisse und Lager gesteckt, wobei die Rechte keinen Unterschied zwischen Bolschewisten, Sozialdemokraten oder Gewerkschaftern machte. Jeder fünfte überlebte diese Inhaftierung nicht, da Mannerheims Regime die Gefangenen systematisch verhungern ließ. Erst der militärische Zusammenbruch des Wilhelminischen Deutschlands im Herbst 1918 schien es der bürgerlichen Regierung geboten, die härtesten Sanktionen gegen die Arbeiterklasse einzustellen. Und als ein Teil des bürgerlichen Lagers sogar den Weg der Verständigung mit den gemäßigten Sozialdemokraten um Tanner suchte, da trat Mannerheim unter Protest ab und zog sich schmollend auf seine Landgüter zurück.
Im März 1919 fanden nun erstmals Wahlen im unabhängigen Finnland statt, die zeigten, dass die Kraft der Arbeiterklasse beinahe ungebrochen war. Die Kommunisten durften zwar nicht an der Wahl teilnehmen – ihre Partei war im Mai 1918 umgehend verboten worden -, doch Tanners SDP erhielt 38 Prozent der Stimmen und 80 der 200 Sitze. Das Bürgertum war somit gezwungen, die schwedische Minderheit in sein Kabinett zu holen, um eine Regierungsbeteiligung der Arbeiterschaft zu verhindern.
Drei Jahre später hatte sich die Lage soweit beruhigt, dass die illegale KP mit einer Tarnorganisation – Der Partei der sozialistischen Arbeiter – an den Parlamentswahlen teilnehmen durfte. Sie gewann auf Anhieb 15 Prozent der Stimmen und 27 Sitze, was die Bourgeoisie in helle Aufregung versetzte. Prompt wurde die Forderung erhoben, die Partei wegen Landesverrats zu verbieten, was auch wenig später geschah. Zwar vermochte Kuusinen, der die Arbeit der KPF aus dem Untergrund leitete, eine neue Tarnorganisation – diesmal „Partei der Arbeiter und kleinen Landwirte“ genannt – zu initiieren, die 1927 immerhin 12 Prozent der Wählerstimmen erhielt, doch eine Reihe von Sondergesetzen, die von der bürgerlichen Mehrheit in den Jahren 1929 und 1930 durch das Parlament gepeitscht wurden, machte schließlich allen legalen Aktivitäten der Linken ein Ende. Ein eigene faschistische Organisation namens Lapua ging gewaltsam gegen die Gewerkschaften und die SDP vor, die gleichfalls mehr und mehr in die Defensive gerieten. Anfang der 30er Jahre stand das junge Finnland knapp davor, wie die baltischen Staaten zu einer faschistischen Diktatur zu werden.
Winterkrieg, Weltkrieg, Neutralität
Genau diese Unterdrückung weiter Teile der progressiven Arbeiterklasse trachtete die Sowjetunion als Vorwand zu einer Intervention in Finnland zu nutzen. Aus dem Untergrund wurde neuerlich eine Finnische Räterepublik proklamiert, welche umgehend die Sowjetunion zu Hilfe rief. Folge dieser Entwicklung war einerseits der sogenannte „Winterkrieg“ und andererseits ein noch deutlicheres Einschwenken der bürgerlichen Elite auf einen pronationalsozialistischen Kurs. Mannerheim, von jeher germanophil, traf sich mit Hitler und führte Finnland 1941 in den „Unternehmen Barbarossa“ geheißenen Überfall auf die Sowjetunion.
Dabei machten die Finnen freilich keine besonders gute Figur. Sie gewannen gerade einmal jene Gebiete zurück, die 1940 an die UdSSR abgetreten worden waren und lieferten sich dann vier Jahre lang eine Art Stellungskrieg mit den Sowjets in Sichtweite von Leningrad. Es waren mithin die sonstigen Ereignisse im Rahmen des Zweiten Weltkriegs, die sich auf Finnland auswirkten. Im Sommer 1944, nach der erfolgreichen Landung der westlichen Alliierten in Frankreich, dem Vormarsch von Briten und Amerikanern in Italien und den nachhaltigen Siegen der Roten Armee im Osten, suchte das finnische Regime nach einem Ausweg aus der selbst angelegten Zwickmühle. Schließlich war es ausgerechnet Mannerheim, der den deutschen Verbündeten über die Klinge springen ließ und einen Separatfrieden mit der Sowjetunion abschloss, welche dazu führte, dass Finnland – gerade noch rechtzeitig – die Seiten wechselte und nunmehr die Deutschen bekämpfte.
Eine Bedingung für den Friedensvertrag mit der UdSSR war die Wiederzulassung der Kommunisten gewesen. Diese durften daher im März 1945 – zu einem Zeitpunkt also, da in Berlin noch Hitler wütete – an den ersten „Nachkriegswahlen“ teilnehmen und verfehlten den ersten Platz nur um ein einziges Mandat. Sozialdemokraten und Kommunisten hatten gemeinsam 99 der 200 Mandate und bildeten gemeinsam mit dem progressiven Landbund eine Koalition, in welcher die Kommunisten das Bildungs-, das Innen- und das Verteidigungsressort übernahmen. Ein Jahr später wechselte der Vorsitz in der Regierung, und der Chef der Kommunisten, Mauno Pekkala, wurde finnischer Premierminister.
Allerdings folgte Finnland dem allgemeinen westeuropäischen Trend im Zuge des Aufkommens des Eisernen Vorhangs, und 1948 wurde Pekkala durch den Sozialdemokraten Fagerholm abgelöst und die Kommunisten aus der Regierung entfernt. Allerdings musste die Bourgeoisie die Interessen der Linken weiter im Auge behalten, dies nicht nur wegen der langen Grenze zur Sowjetunion, sondern auch wegen der beachtlichen Stärke der finnischen Kommunisten, die noch 1958 die meisten Stimmen aller Parteien erhielten.
Erst nach 1968 setzte ein allmählicher Niedergang der KP ein, die bis zu diesem Zeitpunkt regelmäßig 20-25 Prozent der Wähler hinter sich hatte vereinigen können. Dennoch blieb die Partei bis 1979 in der Regel die zweitstärkste Fraktion hinter den Sozialdemokraten, ehe sie bei den Wahlen 1979 mit 17,9 Prozent auf Rang 4 zurückfiel. Gemildert wurde dieser Abstieg durch den Umstand, dass die Kommunisten im Zuge der allgemeinen Linksentwicklung in Europa wieder regierungsfähig wurden und in mehreren Kabinetten, meist unter sozialdemokratischer Führung, vertreten waren. 1983 jedoch fiel die KP auf 13 Prozent der Wählerstimmen zurück und wurde von der SDP als Koalitionspartner fallengelassen. Kalevi Sorsa bildete eine Regierung mit den bürgerlichen Parteien, die ihn jedoch nach der nächsten Wahl 1991 selbst ausbooteten, sodass Finnland zwischen 1991 und 1995 erstmals nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine rein bürgerliche Regierung besaß.
Nach 1989
Doch noch vor dem Amtsantritt des Bürgerblocks war die Staatengemeinschaft des realen Sozialismus implodiert, und kommunistische Parteien schlitterten weltweit in eine grundlegende Identitätskrise. So auch in Finnland, wo die alte Parteiführung abtrat und ein Sonderparteitag die Umbenennung der Partei in „Linke Allianz“ vornahm.
Neuer Parteichef wurde der Schwede Claes Andersson, der erst 1987 Abgeordneter geworden war. Der Mann schien den Wandel von der klassischen Arbeiterpartei zu einer offenen progressiven Liste am ehesten zu verkörpern, war er doch hauptberuflich Psychiater und im Nebenberuf Jazz-Musiker in diversen Nachtklubs. Mit ihm an der Spitze erhielt die Partei gerade noch jede zehnte Stimme und 19 Mandate, was aber immerhin ausreichte, 1995 noch einmal Juniorpartner der Sozialdemokraten in der Regierung zu werden.
Damit freilich hatte Andersson seine Schuldigkeit getan, er wurde durch die Finanzministerin Anne Siimes ersetzt, die damals gerade Mitte 30 war und aus der unabhängigen Frauenbewegung kam. Sie hatte mit marxistischer Ideologie nichts am Hut, wetterte eifrig gegen „Sowjetnostalgie“ und forderte eine flächendeckende Entfernung altgedienter Kader aus der Partei, die vor allem durch ideologiefreie Bobos ersetzt werden sollten. Unmittelbares Resultat dieses Paradigmenwechsels war ein stetiger Wählerschwund. Mitte der Nullerjahre erwärmten sich gerade noch acht Prozent für die „Linke Allianz“.
Um die Sozialdemokraten war es zu dieser Zeit freilich nicht wesentlich besser bestellt. Diese sanken unter ihrer neuen Parteichefin Jutta Urpilainen auf 19 Prozent der Stimmen ab, sodass die Linke im Land nur noch ein Viertel der Bevölkerung hinter sich vereinigen konnte. Folge dieses Niedergangs war eine betont neoliberale und nach rechts offene Bürgerblockregierung unter Matti Vanhanen, die jedoch primär durch zahlreiche eher degoutante Skandale von sich reden machte. So hatte beispielsweise die von Vanhanen in die Regierung geholte Kulturministerin – eine ehemalige „Miss Finnland“ und späteres Aktmodell – Affären mit dem Finanzminister und wohl auch mit Vanhanen selbst -, der wiederum in der Öffentlichkeit stand, als eine andere seiner Geliebten intime Details über den fremdgehenden Ehemann der Boulevardpresse anvertraute. Dass eindeutige SMS-Nachrichten nicht bei der Geliebten, sondern irrtümlich bei einer Zeitung landeten, war für Vanhanen ebenso wenig hilfreich wie der Umstand, dass der Außenminister Liebesschwüre an eine bekannte Stripperin verschickte.
Die Linke freilich konnte aus diesem moralischen Sumpf, verbunden mit einer beinharten Politik des sozialen Kahlschlags, kein Kapital schlagen. Vielmehr gaben sie sich 2011 damit zufrieden, eine breite Koalition mit bürgerlichen Parteien einzugehen, in der die Linke realiter nicht einmal die zweite Geige spielen konnte. Unbedankt wurden beide Parteien schon drei Jahre später wieder auf die Oppositionsbänke geschickt, als die bürgerlichen Parteien eine Verbindung mit den Rechtspopulisten der „wahren Finnen“ eingingen.
Die SDP kürte daraufhin 2014 den altgedienten Gewerkschafter Antti Rinne zum neuen Parteichef, dem es bei den Neuwahlen gelang, die „Wahren Finnen“ um 7.500 Stimmen auf Platz 2 zu verweisen. Er bildete ein Fünf-Parteien-Kabinett aus SDP, Linker Allianz, Grünen, Bauernpartei und Schwedischer Volkspartei, in dem die kaum 30-jährige Sanna Marin das Verkehrsressort übernahm. Weniger als ein halbes Jahr später hatte Marin den Regierungschef abgesägt. Dieser hatte sich mit dem Streik der Arbeiter im öffentlichen Sektor solidarisiert, worauf die beiden Grün-Parteien den Austritt aus der Regierung androhten. Marin nutzte die Gunst der Stunde und bildete eine neue Koalition ohne gewerkschaftliche Beteiligung, was die neue Chefin der Linken Allianz widerspruchslos zur Kenntnis nahm.
In der Boulevard-Presse galt Marin sofort als „everybody´s Darling“. Jung, fotogen und vermeintlich lässig ließ sie sich in Hot Pants auf Rockkonzerten oder mit halbnacktem Oberkörper in Modemagazinen ablichten, erging sich in pseudoprogressiven Allerweltsphrasen und machte dabei kompromisslos rechtsrechte Politik im Dienste von Konzernen, Brüsseler Lobbies und der NATO, der Finnland schließlich 2023 beitrat, und das auf Betreiben einer Regierung, in der vermeintlich politisch linke Parteien den Ton angaben.
Bei den Parlamentswahlen im Vorjahr bekamen die „Linken“ freilich vom Wähler die Rechnung präsentiert. Die „Linke Allianz“ erhielt das schlechteste Ergebnis in über hundert Jahren ihres Bestehens, die Grünen fielen auf den Status einer Kleinpartei, und die SDP fiel von Platz 1 auf Platz 3 zurück. Marin entsagte umgehend der Politik und heuerte bei einem „Institut für den globalen Wandel“ an, das Britanniens Ex-Premier Tony Blair mit maßgeblicher NATO-Förderung leitet.
Jahrzehntelang stand Skandinavien für linke, weltoffene Gesinnung und für eine starke Arbeiterbewegung. Binnen weniger Jahre schafften es die Parteien in den fünf Staaten, diese Tradition fast völlig vergessen zu machen. Einst viel gerühmt für das Konzept des „Volksheims“, in dem eine starke Sozialdemokratie dafür sorgte, dass auch die Unselbständigen vom gesellschaftlichen Reichtum profitierten, beschritten die nordischen Sozis spätestens an der Wende zum 3. Jahrtausend allüberall einen gnadenlos neoliberalen Pfad, der die Kluft zwischen Reich und Arm von Trondheim bis Kuusamo und von Hammerfest bis Odense beträchtlich erweiterte. Personifiziert wurde dieser neue Kurs durch weibliche Funktionärinnen wie Sanna Marin, Magdalena Andersson und Mette Frederiksen, die den sozialen Kahlschlag und den gesamtgesellschaftlichen Niedergang mit ein paar pseudofeministischen und pseudoegalitären Stehsätzen zu übertünchen suchten, während sie gleichzeitig beinharte Lobbypolitik für die Interessen der Rüstungskonzerne und des US-Imperialismus betrieben.
Mit dieser völlig antiproletarischen Politik ging auch der rücksichtslose Ausverkauf der Quellen des skandinavischen Wohlstands einher – allein Norwegen kann aufgrund seines Ölreichtums hier noch eine Sonderrolle einnehmen. In Schweden etwa wurde die jahrzehntelang überaus erfolgreiche Automobilbranche – man denke an SAAB und Volvo – zerschlagen, in Finnland der einstmals weltweit führende Mobiltelefon-Anbieter Nokia zum Spielball geopolitischer Wirtschaftsinteressen. Nachdem die Souveränität der skandinavischen Staaten schon durch ihre Einbindung in das Wirtschaftsbündnis EU markant eingeschränkt worden war, bedeutet der Umstand, dass nun alle fünf nordischen Länder Teil der NATO sind, eine weitere Reduktion des politischen Handlungsspielraums. Damit scheint aber auch evident, dass Finnlands Probleme – ebenso wie jene Schwedens, Norwegens, Griechenlands, Italiens usw. – nicht auf nationaler, sondern nur auf gesamteuropäischer Ebene gelöst werden können. Und dazu braucht es eine wiedererstarkte internationalistische Linke, die den Neoliberalismus und damit den Kapitalismus als solchem nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten zu überwinden trachtet.
Titelbild: Helsinki im Winter. Foto: Illia Panasenko auf Unsplash
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