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William Sheridan Allen: „Das haben wir nicht gewollt!“

Über die nationalsozialistische Machtergreifung in einer Kleinstadt 1930-1935.

Sonntag ist Büchertag von Wibke Boysen und Harry Friebel

Buchcover
William Sheridan Allen – Das haben wir nicht gewollt! (Die Buchmacherei)

1965 wurde das US-amerikanische Original von W. S. Allen mit dem Titel „The Nazi Seizure of Power“ in den USA veröffentlicht – 1966 in deutscher Sprache. Als US-amerikanischer Austauschstudent lebte Allen Anfang der 60er Jahre in der Kleinstadt Nordheim – in der Nähe von Göttingen. Mit Hilfe zahlreicher Interviews mit Bürger:innen Nordheims, die die NS-Diktatur erlebt hatten, (z.B. ehemaligen NSDAP-, DNPV-, SPD-Sympathisant:innen bzw. Funktionär:innen, jüdischen Mitbürger:innen) und umfangreichen lokalen Quellenstudien stellte er nach Ansicht des Herausgebers die Forschungsfrage: „[W]ie eine zivilisierte Demokratie in eine nihilistische Diktatur getrieben werden konnte“ (Vorwort S. 17). Seit den 70er Jahren lehrte der Autor Allen als Historiker in den USA. Er verstarb 2013.

Die Nordheimer Interviewpartner:innen als Zeitzeug:innen und die Leitung des Stadtarchivs Nordheim stimmten der Veröffentlichung der Forschungsergebnisse Allens unter der Bedingung der Anonymisierung der Befragten und der Stadt („Thalburg“) zu.

Allens Buch untergliedert sich in die Teile „Der Tod der Demokratie“ (1930-1933) und „Die Einführung der Diktatur“ (1933- 1935) mit chronologisch gegliederten Unterkapiteln. Die Neuherausgabe des Buches behält die Anonymisierungen bei. Jedoch werden die Pseudonyme am Ende des Buchs jeweils mit den Klarnamen dechiffriert.

Die früher selbstständige Stadt Thalburg wurde 1886 eine Kreisstadt. Erst in dieser Situation entwickelte sich eine Arbeiterschicht. Es „fanden sich deutliche Klassenunterschiede auf fast jedem Gebiet.“ Die Gegensätze innerhalb der Bevölkerung setzten sich auf der politischen Ebene fort. Allen resümiert: „Das Bürgertum der Stadt hatte die SPD als Institution nie anerkannt; nun wurde diesem Bürgertum mit dem Aufsteigen des Nationalsozialismus eine Methode angeboten, die Sozialdemokratie zu vernichten“.

Die Wirtschaftskrise vertiefte die gesellschaftliche Spaltung Thalburgs. Zwar waren nach Allens Recherchen in erster Linie Arbeiter:innen von Arbeitslosigkeit betroffen, „und trotzdem fragten sich die übrigen Bewohner der Stadt, wenn sie die erstarrten Gesichter der Arbeitslosen sahen: ‚Bin ich der nächste?’ — ‚Wann wird das enden?’ Weil es darauf keine klaren Antworten gab, wuchs die Verzweiflung“.

Bereits im Herbst/Winter 1930/31 versuchte die Thalburger SPD der Arbeitslosigkeit mithilfe eines Arbeitsbeschaffungsprogramms entgegenzuwirken. Es wurde zwar von den politischen Gremien der Stadt genehmigt, aus finanziellen Gründen jedoch nicht realisiert. Bei späteren Versuchen im Jahr 1932 war es gerade die NSDAP, die politisch erfolgreich gegen Arbeitsmarktprogramme votierte und das Verfahren verzögerte. Schließlich wurden die Maßnahmen doch beschlossen und Mittel bei der Reichsregierung beantragt. Die genehmigten Staatsmittel wurden 1933 von der NSDAP für Arbeitsbeschaffungsprogramme eingesetzt. Diese Maßnahmen hatten einen großen Anteil am späteren wirtschaftlichen Aufschwung.

Ein weiterer Grund für den politischen Erfolg der NSDAP lag in der institutionellen Unterstützung gesellschaftlicher Akteure. Allen beschreibt in mehreren Kapiteln die Unterstützung durch Wahlkampfreden evangelischer Kirchenvertreter. Auch die Koalition mit den Deutschnationalen und dem Stahlhelm in der „Harzburger Front“ gab der NSDAP den Anschein einer achtbaren und wählbaren Partei.

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Schließlich zeigen Allens kleinteilige Rekonstruktionen den Einfluss der Mobilisierung von Nichtwähler:innen: Bei den Reichstagswahlen 1928 hatten die Thalburger Wähler_innen nur zu 2% die NSDAP (vgl. Deutsches Reich 2% NSDAP) gewählt; 1930 bereits ca. 28% (18%). Allens Berechnungen zufolge war der Wahlerfolg 1930 zu einem beachtlichen Teil auf die Aktivierung von bisherigen Nichtwähler_innen rückführbar. Im Sommer 1932 erreichte die NSDAP in Thalburg einen Stimmenanteil von 62% (37%). Die Begeisterung für die NSDAP zeigte sich im Juli 1932 bei einer Wahlkampfrede Hitlers in der Region: Er „wurde mit dröhnendem Jubel und spontanen Heilrufen begrüßt.“ Dem Massenpublikum verhieß er: „[D]ie Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei wird den Kampf niemals aufgeben, denn nur sie besitzt den Willen und den Mut zu kämpfen“.

Hitler wurde am 30.1.1933 vom Reichspräsidenten Hindenburg zum Reichskanzler von Deutschland ernannt. Allen: „Damit war der Weg für den systematische Gebrauch von Gewalt und Terror durch die Nationalsozialisten gebahnt“. Der politische Prozess führte von den Straßenkämpfen zum Staatsterror. Allen: Nun „war es klar, dass nun endlich etwas geschehen werde“. In Scharen wurden die Thalburger:innen NSDAP-Mitglieder: Im Januar 1933 waren es noch unter 100, im März 400, im Juni 1933 1.200 — fast 20 % der erwachsenen Bevölkerung“. Sie wollten wohl Teil eines ganz Großen werden. Der NSDAP-Ortsgruppenleiter „Kurt Anders“ organisierte die Amtsenthebung des bisherigen SPD-Bürgermeisters und bestimmte sich selbst zu dessen Nachfolger. Die Treibjagden begannen auf alle, die sich der NS-Bewegung nicht anschließen wollten oder nicht für Wert befunden wurden, der NS-Volksgemeinschaft anzugehören. Gleichschaltung war die Parole; Allen benennt den Vorgang als „Umgruppierung des gesellschaftlichen Aufbaus“. Der mörderische Feldzug gegen Menschen jüdischen Glaubens – es lebten in der Stadt Thalburg 120 Jüdinnen und Juden – begann am 29.3.1933 mit einer Boykottanzeige in einer örtlichen Zeitung: „[D]arin wurde erklärt, dass ‚die Juden in aller Welt‘ die ‚scheußlichste Gräuelpropaganda‘ gegen Deutschland verbreiteten“. „[A]lle Thalburger erfuhren schließlich, dass die Juden nun Ausgeschlossene sein und dass die Nationalsozialisten es mit diesem Teil Ihres Programms tödlich ernst meinten. Die Wirkung des Boykotts auf die Juden war in Thalburg umstürzend“ – sie wurden als „Paria“ abgestempelt.

Die NS-Macht in Thalburg, in Berlin und in ganz Deutschland war, so schreibt Allen, nach sechs Monaten Regierungszeit „unumkehrbar“. „Ihre Hauptkomponenten waren Terror, diktatorische Herrschaft, unablässige Propaganda, Umgruppierung des gesellschaftlichen Lebens und wirtschaftlicher Aufschwung“. Mit der schwer erträglichen Kapitel-Überschrift „Der positive Aspekt“ erörtert Allen „Gutes im Schlechten“. Er schreibt, dass mit groß angelegten Arbeitsbeschaffungsprogrammen und dem „Arbeitsdienst“ die Massenarbeitslosigkeit durch die NSDAP-Politik beseitigt wurde. Es gab im Jahr 1935 so gut wie keine Arbeitslosigkeit mehr. Als positiv hebt Allen auch die öffentlichen Mahnungen an die Betriebe und die Bevölkerung zur Unterstützung des Wirtschaftswachstums hervor, die das Gefühl der Wirksamkeit in der Stadt stärkten: „Welche Rolle spielten nun die ganze Propaganda, die Diskussionen, die ‚Arbeitsschlacht’, wenn doch die Wirtschaftskrise in Thalburg durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und einen Aufschwung des Bauwesens beendet wurde? Diese Dinge betrachtete man damals ganz offenbar als wesentlichen Teil in der Bekämpfung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der Stadt. […] Sie überzeugten die Einwohner davon, dass die Krise vorüber sei, und sie riefen den festen Glauben in ihnen hervor, dass sie selber diese Krise unter nationalsozialistischer Führung beendet hatten“.

Das Buch ist in seiner prozesshaften Rekonstruktion und in seiner dichten Beschreibung zentraler Ereignisse eine wichtige Quelle zum Verständnis des Weges der Weimarer Republik zur NS-Diktatur – am Beispiel der Kleinstadt Nordheim. Die aktuelle Neuherausgabe durch den Verlag „Die Buchmacherei“ ist auch wegen der damaligen wie heutigen „Entwicklung nach rechts aus der Mitte der Gesellschaft“ (Vorwort S. 12) ein vorzügliches Brennglas für eine politische Problemkonstellation.

Schwer erträglich ist die Tatsache, dass die anlässlich der Erstherausgabe des Buches veröffentlichten Rezensionen in „Die Zeit“ (44/1966) und „Der Spiegel“ (49/1966) mit keinem Wort über das, in Allens Buch detailliert beschriebene, jüdische Leid in der Stadt berichteten. Möglicherweise ein Ausdruck des damaligen Zeitgeistes.


Wibke Boysen ist Magistra Artium u.a. mit dem Schwerpunkt NS-Erinnerungskultur; Harry Friebel ist Professor an der Uni Hamburg und forscht u.a. zum Umgang mit der NS- Geschichte.

Das Buch
William Sheridan Allen – Das haben wir nicht gewollt
Verlag: Die Buchmacherei – 332 Seiten
ISBN 978-3-9823317-5-1

Titelbild: Holocaust-Mahnmal in Nordheim. Foto: Nostoned, CC BY 3.0, via Wikimedia Commons

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